Wider das blödsinnige Diktatur-Geraune

Berlin-Steglitz, Opitzstraße 6 (wikimedia commons)

Die Irrungen und Wirrungen in der Corona-Krise bringen auch gestandene linke Autor:innen ins Schleudern. Um es ganz schroff  und kurz zu sagen:  das Virus und die Folgen seiner politischen und sozialen Bekämpfung zwingt auch Restlinke im Land, „über die Bücher zu gehen“ und die vermeintlich sicheren Bestände zu sichten. Zu denen gehören Begriffe wie „Staatskritik“ oder „Selbstorganisation“, die im linken Argumentationpotential vorkommen wie das sprichwörtliche Amen in der Kirche. Allerdings könnte es sein, dass diese Begriffe mit schweren Krisen, humanitären Katastrophen oder Ähnlichem in dieser Preislage neue und andere Bedeutung erhalten.

Um bei der Staatskritik zu bleiben: Sie verliert gar nichts an Dringlichkeit angesichts der Staatlichkeit und ihren Formen, mit denen man es in der Regel und im Normalfall zu tun hat. Aber angesichts der Lage dürfen und müssen auch Linke sich schon fragen, ob wir noch in normalen Zeiten leben. Damit beschwört man nämlich nicht  irgendwelche Vorstellungen und Spekulationen vom Ausnahmezustand und die sattsam bekannten Antworten darauf von Rechten, Konservativen und „normalen“ Sicherheitsstaatlern, sondern zielt auf die reale und bei Licht wahrnehmbare Ausnahmesituation, die die Pandemie erzeugt hat und weiterhin erzeugt. Die Tatsache von über 80 000 Toten nur hierzulande  liegt ja schon etwas jenseits von Normalität, auch wenn man nicht hysterieanfällig oder medial-totalinfiziert ist. Das gibt zu denken und obendrein Anlass dazu, normale Muster der Kritik, auch der Staatskritik von links, zu überdenken.

Eines dieser Muster, das Linken als normal, zuträglich und angemessen erscheint, ist die  Kritik an staatlich verordneten Verhaltensregeln.  Es geht dabei nicht um „Zivilcourage“ oder gar „Widerstand“ und“ Opposition“, denn die Weigerung, eine Maske zu tragen oder Weihnachten, Ostern, Pfingsten oder was der christliche Kalender sonst noch so hergibt, wegen staatlicher Zwangsverordnungen nicht auf Mallorca oder den Malediven verbringen zu können, hat  – angesichts der realen Gefahrenlage – mit Opposition  gar nichts, mit Borniertheit und selbstverschuldeter Dummheit allerdings allerhand zu tun.

Demokratisch nicht oder nur lausig legitimiert

Natürlich  ist damit nicht jede staatliche Maßnahme gegen Kritik von links immun. Und schon gar nicht sind staatlich verschuldete Versäumnisse und Defizite der insgesamt eher wirren Corona-Politik der Regierenden gerechtfertigt oder auch nur entschuldigt. Aber Kritik, auch Staatskritik, bemisst sich immer noch an ihrer Sachhaltigkeit und Verhältnismäßigkeit, sonst verkommt sie zu eifernder und geifernder Polemik. Diese sollte man am besten überhaupt lassen oder sich aufsparen, um korrupte Virus-Bekämpfungs-Gewinnler und politische Nullnummern wie Andreas Scheuer &Co anzuprangern.

Kritik, um zum Hauptpunkt zurückzukommen, darf  nicht verstummen, wenn staatlicherseits Verordnungen erlassen werden, die obendrein demokratisch nicht oder nur lausig legitimiert sind. Grundrechte sind im Wesentlichen Individualrechte und diese zu verteidigen, ist Pflicht von Liberalen und Linken. Am ziemlich energischen Pathos, mit dem Liberale momentan gerade Grundrechte verteidigen, stört nur, dass sie es bei anderen staatlichen Übergriffen und vor allem bei staatlichen Versäumnissen auf anderen Gebieten – vom Wohnen bis zur Steuergerechtigkeit – mit den Grundrechten und dem Grundgesetz nicht ganz so ernst und wörtlich meinen. Aber das ist kein Problem der Liberalen, sondern der Linken, die solche Heuchelei kritisieren müssen.

Hanna Arendt 1955 (wikimedia commons)

Ich komme jetzt langsam in die Nähe des Kerns meiner Kritik. Ich beziehe mich dabei, ohne programmatische oder revisionistische Absichten, wie man früher sagte, nicht auf Marx, sondern auf Hannah Arendts Unterscheidung  von Macht und Gewalt. Ich weiß, dass sie sich dabei auf die problematischen Modelle der griechischen Polis und der amerikanischen Revolutionäre von 1776 bezog  und sich damit natürlich einige berechtigte Vorbehalte einhandelte. Meine Kritik öffnet der Linken vielleicht die Augen für Probleme, die sich aus dem fast synonymen Gebrauch der Begriffe „Macht“, „Gewalt“, „Herrschaft“ in der, grob gesagt, marxistischen Tradition ergeben.

Macht, Herrschaft, Gewalt

Gewalt ist für Arendt monologisch  und instrumentell organisiert. Der/die Regierende(n) hat/haben Instrumente  – von Gesetzen über die Polizei bis zur Armee – zu ihrer Verfügung, die sie mehr oder weniger freihändig, wenn auch meistens institutionell gesichert, anwenden können gegen alle, die sie, in der Regel rechtlich legitimiert, als ihre Untertanen oder auch Mitbürger – auf  jeden Fall ihnen Unterworfene – betrachten.

Macht konstituiert sich für Arendt dagegen dialogisch. Das hört sich angesichts der tatsächlichen Verhältnisse und Zustände  einigermaßen bizarr an, denn mit denen „draußen im Lande“ wollen doch diejenigen „drinnen“ im Palazzo und seinen Hinterzimmern nicht mehr viel zu tun haben, spätestens ab dem Zeitpunkt, zu dem sie selbst drinnen sind. Macht entsteht, wenn sich Menschen oder Gruppen von Menschen darauf verständigen, sich gegenseitig als Gleiche zu  behandeln und ihre Ziele und  Interessen kollektiv zu verfolgen. So verbundene Menschen herrschen nicht, sondern kooperieren im öffentlichen Raum, Konflikte inklusive. Sie suchen Zustimmung und Folgebereitschaft, nicht Herrschaft über andere, schon gar nicht mit Gewalt, denn diese zielt nur darauf ab, kommunikativ entstandene und begründete Macht zu zerstören.

Kein Universalschlüssel, aber eine hilfreiche Nuancierung

Soweit das voraussetzungsreiche Konzept von Hannah Arendt, an dem man sicher Vieles kritisieren kann und muss (aber nicht jetzt und nicht hier). Gegenüber dem restlos konturlosen Gebrauch von „Macht“, „Herrschaft“ und „Gewalt, der vor allem mit Michel Foucault ins Diskursgeschehen eingedrungen ist, hat Arendts Definition den Vorteil von Klarheit und Unterscheidbarkeit und stellt gegenüber dem amorphen Begriffshaufen der „French Theory“ eine entschieden nuanciertere und „erweiterte Denkungsart“ (Kant) dar. Überlegen ist Arendts Definition auch Marx gegenüber, bei dem die Grenzen zwischen den drei Schlüsselbegriffen  jeder zumutbaren Gesellschaftstheorie (Macht, Herrschaft und Gewalt) ebenfalls sehr diffus bleiben.

Natürlich taugt Arendts begriffliche Abgrenzung nicht als Universalschlüssel, aber gerade in der Diskussion über die Corona-Politik der Regierung könnte etwas mehr Nuancierung hilfreich sein, um völlig überzogene und verhältnisblödsinnige Argumente wie das „Diktatur-Geraune“ von rechts in die Schranken zu weisen. Wenn ich nicht ins Kino kann, steht nicht meine Freiheit zur Debatte, sondern mein zumindest wahrscheinlicher Schutz vor der Seuche. Wer über sicherheitsstaatliche Zumutungen und Vorkehrungen aller Art schweigend hinweggeht, sollte nicht das Maul aufreißen, wenn die Bewirtung im Freien mit hoffentlich vernünftigen Gründen vorübergehend eingeschränkt wird.

Die These, wonach die staatliche Corona-Politik für die  „Durchsetzung eines neuen Akkumulationsmodells im Zuge der Krise des Neoliberalismus“ stehe, halte ich für eine Improvisation von sehr beschränkter Haltbarkeit und Überzeugungskraft. Insofern ist mir auch nicht einsichtig, welcher von Neoliberalen ausgetüftelten Finte der US-Präsident auf die Beine helfen möchte, wenn er die Entprivatisierung von Impfstoff-Patenten ins Gespräch bringt.

Rudolf Walther
Rudolf Walther ist Historiker und hat als Redakteur und Autor des Lexikons »Geschichtliche Grundbegriffe« gearbeitet. Seit 1994 ist er als freier Autor und Publizist für deutsche und schweizerische Zeitungen und Zeitschriften tätig. Seine Essays, Porträts und Kommentare liegen in vier Bänden unter dem Titel »Aufgreifen, begreifen, angreifen« vor.

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