Illusionen, Leid und eine Lehre

Fotos (3): Fabian Arlt

Die USA, Deutschland und die Nato sind mit ihrem Modellprojekt, in Afghanistan Demokratie und Menschenrechte mit militärischen Mitteln durchzusetzen, grausam gescheitert. Die Welt richtet sich immer weniger nach westlichen Werten. Trotzdem: War in Afghanistan alles umsonst? Sicher nicht. Denn was die westlichen Entwicklungshelfer und NGOs dort gesät haben, wird irgendwann, wenn der jetzige Alptraum vergangen ist, hoffentlich Frucht tragen. Entwicklung, Freiheit, Demokratie und Versöhnung können jedoch nur von innen wachsen.

Frauen konnten sich in Afghanistan 20 Jahre lang relativ frei bewegen und entfalten – unter der Burka. Mädchen konnten zur Schule gehen, Straßen und Brunnen wurden gebaut, Journalisten und Künstler konnten sich halbwegs frei betätigen. Ansätze für eine Zivilgesellschaften entstanden, allerdings nur in den wenigen großen Städten. Zwei Präsidenten wurden gewählt, wenn auch auf höchst fragwürdige Weise, und ein Stammesparlament, das wenig zu sagen hatte und sich befehdete. Das alles unter dem Schirm Abertausender amerikanischer und auch deutscher Soldaten. Das ist nicht wenig, und es war aller Anstrengungen vor allem der zivilen Helfer wert. Aber vom schrecklichen Ende her betrachtet ist es leider so gut wie nichts. All das, was über Jahre mühsam aufgebaut wurde, ist über Nacht ausgelöscht. Die von den Westmächten geschürten Hoffnungen sind zerplatzt. Durch den chaotischen Rückzug der mächtigsten Militärallianz der Welt. Durch die von den Taliban von langer Hand vorbereitete blitzartige Rückeroberung der Macht, mit der sie das von den Nato-Truppen hinterlassene Vakuum füllten. Und durch den zwangzigjährigen Krieg selbst in einem Land, das zu  drei Vierteln aus schwer zugänglichen Gebirgsregionen besteht.

Es war ein schöner Traum

Demokratien und liberale Demokraten halten es nur schwer aus, wenn in ärmeren, nach ihren Vorstellungen weniger (oder anders) entwickelten und freien Nationen nicht annähernd die gleichen Verhältnisse herrschen wie bei ihnen. Deshalb schauen sie zu oft weg und ignorieren, welchen Anteil daran und welche Verantwortung sie selbst tragen. Aber sie halten es genauso wenig aus, wenn alle Bemühungen, die Verhältnisse in diesen Ländern durch internationale Hilfe zum Besseren zu wenden, nicht fruchten, weil die einheimischen Eliten sich nur selbst bereichern und die Bevölkerung nicht genügend mitzieht. Erst recht halten sie keine jahrzehntelangen hybriden Kriege gegen Untergrundkämpfer und Glaubenskrieger aus, die immense Opfer auch materieller Art auf beiden Seiten kosten. Vor allem jedoch für die jeweilige Bevölkerung, wie schon in Vietnam.

Sicher, es war ein schöner Traum. Unvergessen, wie Joschka Fischer auf einer großen Afghanistan-Konferenz in Bonn die Blaupause für eine demokratische, nach westlichem Muster geformte Gesellschaft am Hindukusch entwarf, mit Frauenrechten, Toleranz für individuelle Lebensstile und Mülltrennung. Diesmal waren es nicht George W. Bush mit seinen Neocon-Krieger, die wie im Irak und anderen Ländern mit kriegerischer Gewalt Demokratie und westliche Freiheit verordnen wollten, sondern allen voran der Grüne Außenminister, während des Bosnien-Kriegs vom pazifistischen Saulus zum „humanitären“ Bellizisten bekehrt. Und hernach im parteiinternen Konflikt um dem Kosovo-Krieg, dem ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr, mit einem roten Farbbeutel aufs Ohr geadelt.

Aber es war vergebens. Der Feldzug gegen Al Qaida und die sie schützenden Taliban nach 9/11, gedeckt durch UN-Mandat, war absolut gerechtfertigt. Doch alles, was danach folgte, war vom Anfang an zu Scheitern verurteilt. Die idealistische Idee, in einem rückständigen, von einem sehr konservativen Islam und jahrhundertelangen Kriegen geprägten Stammesgesellschaft, die nie eine wirkliche Staatlichkeit kannte, militärisch Nation Building betreiben und von außen binnen kurzer Zeit eine liberale, offene demokratische Ordnung schaffen zu können, war und ist eine Illusion. Die westlichen Mächte wollten ihr Modell einem Land aufdrücken, das sich zuvor schon der Ursupation durch die Sowjetunion und die Rote Armee und im 19. Jahrhundert zweimal der Unterwerfung durch das britische Empire widersetzt hatte. Das konnte nur grausam schiefgehen.

Man mache sich auch nichts vor: Die Demokratisierung Afghanistans mag der beabsichtigte Kollateralnutzen dieses langen Kriegs gewesen sein. Doch in erster Linie ging es den USA und der Nato darum, dort Sicherheit und Stabilität zu schaffen, um Gefahren und terroristische Bedrohungen für den Westen abzuwehren. Deshalb ist der späte Abzug der Besatzungstruppen, den Joe Biden nun umsetzte, und in seinem Gefolge die übrigen beteiligten Nato-Staaten einschließlich Deutschland, nur folgerichtig. Am Hindukusch war für sie nichts mehr zu holen. Das eigentliche Ziel wurde indes ebenfalls verfehlt: Die verschiedensten dschihadistischen Terror-Milizen, darunter Reste von Al Qaida und des IS, formieren sich unterm den Schutz der neuen, alten Machthaber in Kabul und teilweise in Rivalität mit den muslimischen Steinzeitkriegern schon längst wieder.

Glückwünsche aus Moskau und Peking

Für die Afghanen, die den Versprechungen des Westens einer bessere Zukunft geglaubt hatten, ist dieses komplette Fiasko mehr als bitter. Die Lage für sie ist im Grunde noch schlimmer als vorher. Denn die Taliban, die sich nun in Gesprächen mit Vertretern der vom Westen installierten bisherigen Machthaber und diversen Warlords, die zum Teil schon gegen die Rote Besatzungsarmee gekämpft haben, daran machen, sich das Land erneut komplett zu unterwerfen, bekommen nicht nur Glückwünsche aus Moskau und Peking. Sie haben nun auch noch Unmengen modernster Waffen erbeutet, die ihnen die westlichen Besatzer als Morgengabe dagelassen haben.

Die Bilder von verzweifelten Frauen, Männern und Kindern, die sich an die abziehenden Truppen und die US-Evakuierungsmaschinen klammern, zerreißen einem das Herz. Doch die zwei Jahrzehnte währende Besetzung mit Zehntausenden Toten und Verwundeten, die ständigen Hausdurchsuchungen und Straßensperren, die Drohnenangriffe der USA, die Bombenattentate und Morde der Taliban haben die Menschen in diesem seit jeher kriegsgeschundenen Land zermürbt. Sodass nicht wenige die Rückkehr der Taliban fast herbeisehnten, die schon lange trotz der militärischen Übermacht der Interventionsmächte große Teile des Landes wieder im mörderischen Griff hatten. Und die afghanischen Soldaten, die oft monatelang keinen Sold mehr bekommen hatten und hungerten, weg- oder überliefen. Wozu hätten sie ihr Leben den blutrünstigen Tablian opfern sollen? Um die kleptokratische Regierung in Kabul und die von ihr eingesetzten Warlords in den Provinzen zu verteidigen? Oder eine Freiheit und Demokratie, die es trotz der Intervention kaum gab? Auch wenn die Afghanen wissen und ahnten, was ihnen nun wieder bevorsteht. Weil es immerhin ein Ende der westlichen Besatzung bedeutet. Weil es nach all dem Chaos und Schrecken, der Gewalt schon unter sowjetischer Besatzung ein Ruhen der Waffen verspricht: Friedhofsruhe. Und weil – auch das gehört zur bitteren Wahrheit – viele Afghanen, vor allem Männer, hinter den Taliban und ihrer archaischen Ideologie eines islamischen Gottesstaats und der Scharia stehen.

Sich resigniert zurücklehnen?

Auch in anderen Teilen der Welt ist der Westen, wenn man davon noch sprechen kann und will, auf dem Rückzug. Putin ist seit langem dabei, mit seinem autokratischen Regime sich Teile des alten sowjetischen Reichs wieder einzuverleiben. Er führt zusammen mit den iranischen Mullahs und Erdogan in Syrien Krieg (in einer Region, die die USA mit ihrem Irakkrieg in die Luft gesprengt haben). Ohne dass der Westen sie dabei stört. Die neomaostische Führung Chinas macht sich gar daran, als neue imperiale Großmacht mit wirtschaftlichen Mitteln die ganze Welt zu beherrschen. Und selbst innerhalb der EU und mit der Trumpschen USA-Hälfte gibt es tiefe Konflikte über die Werte von Rechtsstaatlichkeit und liberaler Demokratie.

Ist es also angebracht, sich resigniert zurückzulehnen? Die westlichen Staaten, auch Deutschland, müssen Afghanistan nun erst recht, mit diesmal rein zivilen Mitteln, weiter helfen und dafür auch mit den neuen Machthabern verhandeln, was sie schon viel früher hätten tun sollen. Wie immer in und nach solchen Kriegen. Das sind wir den Afghanen schuldig nach dem, was wir über sie gebracht haben. Und wir müssen wenn irgendmöglich nicht nur die Menschen rausholen und aufnehmen, die unsere Soldaten, Helfer, NGOs und Medien unterstützt haben. Sondern auch solche, die den vom Westen geschürten Hoffnungen vertraut und für Menschen- und Frauenrechte gekämpft haben. Und denen nun ebenfalls Kopfabschneiden droht.

Die vorläufige Lehre für die Nato und den Westen: Wenn Schreckensregime ihre eigene Bevölkerung bekriegen und Terroristen erlauben, von ihrem Territorium aus andere Länder und Gesellschaften anzugreifen wie die Taliban Bin Laden und Al Qaida; wie Assad mit russischer und iranischer Hilfe und Erdogan in Syrien und gegen die Kurden; wie der Iran und die Golfstaaten im Jemen und gegen Israel; wie schon in Ex-Jugoslawien oder Ruanda: Dann sollten westlichen Staaten im Verbund mit den UN und der internationalen Staatengemeinschaft auch in Zukunft notfalls militärisch intervenieren. Aber nur dann, und nur zu diesem Zweck. Mit klarem, realistischem, rasch erreichbarem Ziel und Exit-Strategie. Sonst nicht.

Vorher müssen sie dieses welthistorische Fiasko gründlichst aufarbeiten. Und sie sollten sich in Zukunft sehr genau überlegen, was sie wie erreichen wollen – und ob sie es können. Oder es lassen. Dann hätte das Leiden der Afghanen immerhin etwas Gutes.

Ludwig Greven
Ludwig Greven (lug) ist Journalist, Publizist, Kolumnist, Buchautor und Dozent für politischen und investigativen Journalismus. Er schreibt regelmäßig für die christliche Zeitschrift Publik Forum und Politik & Kultur, die Zeitung des Deutschen Kulturrats, Spiegel, Stern, Cicero u .a. Medien sowie NGOs wie das Zentrum für liberale Moderne.

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