Die klassische VWL-Glaubenslehre ignoriert das Wesentliche

Ökonomische Theorien in einer Übersicht (Screenshot: Website Exploring Economics)

Der androzentrische wirtschaftswissenschaftliche Mainstream sieht im Grunde nur die „unternehmensbezogene Marktökonomie“, kritisiert Ulrike Knobloch, Professorin für Ökonomie und Gender an der Universität Vechta. Die Krisen der Gegenwart seien aber nicht zu überwinden ohne einen Blick für die ganze Bandbreite des Ökonomischen, der Ökonomie der Non-Profit-Organisationen (auch der Kirchen), des Staates und vor allem auch der privaten Haushalte. Im Interview mit Sigrun Matthiesen plädiert sie dafür, die Markt- und Verwertungslogik zu transformieren in eine Sorge- und Versorgungslogik.

Feministische Ökonominnen sagen schon lange: Volkswirtschaftslehre ohne Beachtung unbezahlter Arbeit ist halber Kram. Folgt daraus nun, nachdem durch Corona die Bedeutung von Sorgearbeit weithin sichtbar wurde, endlich ein kollektives Umdenken in den Wirtschaftswissenschaften?

Ulrike Knobloch: Nein leider nicht, innerhalb der Disziplin hat sich dadurch wenig verändert. Da müssen Sie sich nur die Stellenausschreibungen ansehen: Es gibt weiterhin keine Professuren für Sorgeökonomie, für Ökonomie der bezahlten und unbezahlten Arbeit oder für Transformationsprozesse aus Geschlechterperspektive. Professor:innen für Feministische Ökonomie lassen sich immer noch an einer Hand abzählen und es gibt immer noch keine permanenten Forschungseinrichtungen, sondern die wenigen Stellen, Projekte und Lehraufträge sind befristet und fallen nach ein paar Jahren weg.

Insofern ist es für die einen, die es immer schon wussten, noch mal selbstverständlicher geworden, und bei den anderen ist es immer noch derselbe riesige blinde Fleck. Aber wer die unbezahlte wie bezahlte Sorgearbeit in all ihren Dimensionen nicht systematisch in den Blick nimmt, versteht nicht, wie das Wirtschaftssystem funktioniert. Es mag für den einen oder die andere so aussehen, als würden sich Feministische Ökonom:innen nicht um die wesentlichen Probleme kümmern, weil sie sich nicht vorrangig mit Geldpolitik oder ähnlichem befassen. Aber wer Geldpolitik machen will, ohne unbezahlte Arbeit im Blick zu haben, macht keine zukunftsfähige Geldpolitik.

Wie erreichen wir diesen überfälligen Perspektivwechsel?

Ulrike Knobloch: Wir müssen deutliche Forderungen stellen wie zum Beispiel: Mindestens 50% aller Professuren für nicht androzentrische, also nicht an männlichen Normen orientierte Ökonomie, für nicht auf Marktwirtschaft eingeschränkte Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik; Forschungsgelder und Forschungseinrichtungen ebenfalls hälftig und wir müssen unbedingt das institutionalisieren, was schon vor 30, 40, 50 Jahren – häufig außerhalb der Wirtschaftswissenschaften – begonnen wurde wie Subsistenztheorie, kritische Haushaltsökonomie, Ökonomie der bezahlten und unbezahlten Arbeit, Feministische Ökologische Ökonomie. Das alles gilt es zu sichern und zu unterrichten, damit die jungen Leute nicht wieder von vorne anfangen müssen, etwa wenn sie sich mit Postwachstum und Transformationsprozessen auseinandersetzen. Es müsste längst selbstverständlich sein, die Geschlechterperspektive und andere intersektionale Kategorien in die VWL einzubeziehen! Wir können nicht weiterhin androzentrische Wissenschaft als Mainstream machen und Gender, wenn überhaupt, erst hinten dran hängen.

Wir weisen Pseudowachstum aus

Hat sich denn trotz alledem irgendwas verbessert in der VWL aus Sicht der feministischen Ökonomin, in den vergangenen 20 Jahren?

Ulrike Knobloch: Vor 20 Jahren waren wir vor allem damit beschäftigt, unbezahlte Arbeit sichtbar zu machen. Mittlerweile ist das gelungen und wird durch die Corona-Pandemie ja auch gerade für alle sehr deutlich. Zudem werden (nicht nur) in Deutschland seit den 1990er Jahren – übrigens auch nächstes Jahr wieder –  Zeitverwendungserhebungen durchgeführt, auch wenn leider viel zu selten. Durch diese Erhebungen wissen wir, dass für unbezahlte Arbeit mindestens genauso viel Zeit gebraucht wird wie für die bezahlte Arbeit, oft sogar mehr.

Wir wissen, dass wir alle nicht leben würden ohne unbezahlte Arbeit, Menschen nicht gut gepflegt, Kinder nicht gut betreut würden. Durch die Zeitverwendungserhebungen ist mittlerweile auch mit Zahlen belegt, wie wichtig die unbezahlte Sorge- und Versorgungsarbeit ist.

Das heißt, wir befinden uns jetzt in einer neuen Phase, in der sich die Frage stellt, was wir mit diesen Erkenntnissen machen. Wir müssen nicht nur endlich die Modelle, Theorien und Methoden zur Kenntnis nehmen und weiterentwickeln, die die unbezahlte Sorge- und Versorgungsarbeit mitdenken, sondern sie auch in Forschung und Lehre einbeziehen und davon ausgehend (Wirtschafts-)Politik betreiben.

Ein Beispiel: Einhergehend mit der steigenden Frauenerwerbstätigkeit wurden viele Tätigkeiten die vorher unbezahlt im Haushalt erledigt wurden, zu bezahlten Dienstleistungen. Das wird dann im Bruttoinlandsprodukt als Wachstum ausgewiesen. Dabei können wir eigentlich gar nicht sicher sagen, ob wirklich mehr Leistungen erbracht wurden. Denn wenn ich zu Hause mein Kind betreue, ist das ja nicht weniger Zeit und Leistung als in der Kita, es ist nur weniger Leistung gegen Lohn. Das bedeutet, wir weisen Wachstum aus, das eigentlich gar keins ist. Ich habe dafür den Begriff Pseudo-Wachstum geprägt. Jetzt in Coronazeiten passiert genau das Gegenteil, aber es lässt sich nicht mit Zahlen belegen. Wir wissen zwar, dass die geleisteten bezahlten Arbeitsstunden enorm zurückgehen, aber es wird nirgendwo ausgewiesen, dass dadurch zu Hause viel mehr geleistet werden muss. Und diese Zahlen werden sie auch durch die neue Zeitverwendungserhebung nicht mehr erhalten, weil sie nach der letzten aus dem Jahr 2012/13 erst wieder 2022 durchgeführt wird. Insofern wissen wir über das eine, nämlich die Erwerbswirtschaft, enorm viel und über das andere, nämlich die unbezahlte Versorgungswirtschaft, enorm wenig.

Siehe auch die Buchreihe „Arbeit, Demokratie, Geschlecht

Für eine Plurale Feministische Ökonomie

Ist es denn wenigsten innerhalb der heterodoxen Ökonomie eine Selbstverständlichkeit die unbezahlte Arbeit mitzudenken? Oder ist es dort auch abhängig davon, ob gerade eine feministische Ökonomin mit am Tisch sitzt oder nicht?

Ulrike Knobloch: Kurz ließe sich die erste Frage mit „leider nein“ und die zweite Frage mit „ja, aber …“ beantworten. Doch ich möchte noch ein paar Dinge ausführen und auch das „aber“ in der zweiten Kurzantwort erklären. Feministische Ökonomie gilt als ein Ansatz innerhalb der Pluralen Ökonomie; das heißt, die Keynesianische Ökonomie steht neben der Marxistischen und der Institutionellen Ökonomie, und daneben die Feministische Ökonomie. So sind die ökonomischen Ansätze etwa in der Übersicht des Netzwerks Plurale Ökonomik angeordnet, die auf der Exploring Economics-Website neben vielem anderen äußerst hilfreichen Material zu finden ist.

Meiner Meinung nach sind aber alle ökonomischen Ansätze aus Geschlechterperspektive weiterzudenken. Es wird erst dann spannend, wenn wir eine feministische Marxistische Ökonomie, eine feministische Institutionelle Ökonomie usw. haben. Für diese Position habe ich den Begriff „Plurale Feministische Ökonomie“ geprägt. Denn Feministische Ökonomie halte ich nicht für ein Teilgebiet der Wirtschaftswissenschaften, sondern sie stellt die übergeordnete Frage, ob ein ökonomischer Ansatz auf männlich geprägten Normen beruht, also androzentrisch ist oder nicht.

Jetzt zu dem „aber“: Die Zweiteilung zwischen orthodoxer Mainstream-Ökonomie und heterodoxer Ökonomie besteht auch in der Feministischen Ökonomie; das heißt auch in der Orthodoxie gibt es Ansätze Feministischer Ökonomie. Das sind dann aber Mainstream-Varianten, die von der Humankapitaltheorie bis zur Neuen Haushaltsökonomie reichen. Auch diese Ansätze beziehen die Haushaltsproduktion und die unbezahlte Arbeit in ihre Analysen ein. Allerdings suchen sie nach Gründen, um die bestehende geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zu erklären. Damit zementieren sie die ungleiche Verteilung, anstatt sie zu überwinden.

Wie sind sie selbst eigentlich zur feministischen Ökonomie gekommen?

Ulrike Knobloch: In den 1980er Jahren habe ich in Freiburg im Breisgau Volkswirtschaftslehre studiert. Wirtschaftslehre hatte ich nicht in der Schule und ich wollte verstehen, was Ökonomie ist und womit sie sich beschäftigt. Aber das VWL-Studium war eine ziemliche Enttäuschung. In vielen Kursen dominierte unreflektiertes marktökonomisches Denken. Dieses Modelldenken wurde als wertfrei hingestellt und über Werturteile und alles Normative immer nur abwertend gesprochen. Uns Studierenden wurde dadurch vermittelt: Das eine ist wertneutral und gut, das andere normativ und schlecht. Sich daraus zu befreien, war gar nicht so einfach, auch wenn ich bald gemerkt habe, dass da etwas ganz Grundsätzliches nicht stimmen kann. Denn das eine ist ja so wenig wertfrei wie das andere. Aber es hat gedauert, bis ich sagen konnte, dass es wertfreie Wissenschaft nicht geben kann, sondern nur offen oder versteckt wertende Wissenschaft.

Um mehr über Ethik in der Ökonomie herauszufinden, habe ich dann noch in Freiburg begonnen Philosophie zu studieren. Das war die Zeit, als Peter Ulrich die Professur für Wirtschaftsethik in St. Gallen bekam und dort das Institut für Wirtschaftsethik aufbaute. Von Freiburg aus bin ich nach St. Gallen gependelt, habe seine Vorlesungen besucht und war begeistert zu hören, dass da jemand ähnlich kritisch über Ökonomie denkt. Um Wirtschaft und Ethik verbinden zu können, bin ich dann zum Promovieren nach St. Gallen gewechselt. Doch auch in der St. Galler Wirtschaftsethik blieb die Geschlechtersperspektive ausgeblendet. Die musste ich selbst dazudenken, wobei es die Vorgehensweise, die normativen Grundlagen im (markt-)ökonomischen Denken und Handeln kritisch zu reflektieren, nahelegt, auch nach den materiellen Grundlagen wie der unbezahlten Arbeit zu fragen.

Mir scheint, in der Schweiz und in Österreich sei feministische Ökonomie stärker verankert als in Deutschland. Stimmt das und was sind die Gründe?

Ulrike Knobloch: Na ja, also was die Ökonomie-Professuren mit Gender-Denomination, Studiengänge in Feministischer Ökonomie und etablierte Forschungseinrichtungen dazu angeht, sind sie ähnlich weit entfernt von 50 Prozent wie Deutschland. Aber in beiden Ländern finden – meist außerhalb der Hochschulen – immer wieder wegweisende Aktionen statt, wie in der Schweiz z.B. die Frauenstreiks 1991 und 2019. Auch das Netzwerk Women in Development Europe (WIDE) ist in der Schweiz und in Österreich recht aktiv. Zudem ist in der Schweiz vor einem Jahr der ThinkTank „Economiefeministe“ von Mascha Madörin gegründet worden. Und in Österreich sind zwei wunderbare Einführungsbücher zur Feministischen Ökonomie erschienen: Das eine von Bettina Haidinger und Käthe Knittler und das andere vom Verein JOAN ROBINSON.

Was muss also passieren, damit sich der Mainstream der VWL tatsächlich feministisch verändert?

Ulrike Knobloch: Diese Frage möchte ich umdrehen: Was wird passieren, wenn sich der Mainstream der VWL nicht von seinen androzentrischen Wurzeln löst, wenn Frauen nur in das bestehende Erwerbswirtschaftssystem mit seinen vergeschlechtlichten Organisationen hinzugefügt werden? Dann wird dieses Denken immer mehr zu einer veralteten Glaubenslehre werden, die für ein androzentrisch und neoliberal geprägtes Zeitalter Bedeutung hatte, in dem die Natur ebenso wie die unbezahlte Arbeit ausgebeutet wurde und das schlicht nicht zukunftsfähig war. Das worauf heute Wirtschaft und Ökonomie immer noch verkürzt werden, sollten wir als „unternehmensbezogene Marktökonomie“ bezeichnen. Wir müssen aber Bescheid wissen über die ganze Bandbreite des Ökonomischen, über die Ökonomie der Non-Profit-Organisationen (auch der Kirchen), des Staates und vor allem auch der privaten Haushalte. Diese umfassendere Perspektive wird hoffentlich die alte Glaubenslehre, die das Wesentliche nicht im Blick hat, überwinden. Diese Glaubenslehre müsste längst als völlig antiquierte und überholte Ansicht gelten, wie „die Erde ist eine Scheibe“.

Was wäre für die feministische Utopie einer „VWL des Ganzen“ am wichtigsten: Die Idee des Grundeinkommens, der Commons, oder die 4-in-1-Perspektive?

Ulrike Knobloch: Das Wichtigste ist das Zusammendenken dieser und noch vieler weiterer Ideen. Wir stehen vor einer gewaltigen Transformation, die ein „Weiter so“ ebenso wenig zulässt wie die Rückkehr zum „Normalen“ vor der Pandemie. Denn dieses „Weiter so“ führt mitten hinein in verschiedene Katastrophen, von denen die Klima- und die Sorgekatastrophe die offensichtlichsten sind. Diese Transformation ist mit mehr vom Gleichen – mehr Markt, mehr Digitalisierung, mehr Technik – nicht zu schaffen. Wir müssen in vielen, wenn nicht allen Bereichen weg von der Markt- und Verwertungslogik, hin zu einer Sorge- und Versorgungslogik. Dabei gibt es nicht entweder Commons oder Grundeinkommen oder 4-in-1-Perspektive (also die Aufteilung der Zeit auf die 4 Bereiche Erwerbsarbeit, unbezahlte Versorgungsarbeit, kulturelle Weiterbildung und Politik); es gibt nicht das eine Mittel, mit dem der Schalter umgelegt werden könnte. Wir brauchen viele kluge Ideen und – das ist die gute Nachricht – vieles ist auch längst bekannt. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, diese vielen guten und schon vorliegenden Dinge zusammenzudenken und zusammenzubringen. Dabei sollten wir unsere Angst vor Widersprüchen überwinden, in alle Richtungen mutig nach neuen Verbindungen suchen und die Ideen auf ihr Veränderungspotential hin prüfen: Was verändern Commons? Was verändert das Grundeinkommen? Mir ist es noch zu sehr an Einkommen und Geld orientiert und damit zu wenig in Abgrenzung zur Marktökonomie gedacht. Was verändert Postwachstum? Mir ist es noch zu sehr mit der Abgrenzung vom Wachstum beschäftigt.

Dabei können wir uns nicht allein auf die Technik verlassen, sollten aber z.B. die Robotik als Chance mitdenken, die Grenzen verstehen, sie aber nicht nur als Bedrohung sehen. Roboter könnten etwa in der Pflege die schwere Arbeit des häufigen Umlagerns übernehmen, um Pflegekräfte zu entlasten, damit sie mehr Zeit für andere wichtige Aufgaben haben. Durch das Zusammenbringen der vielen guten Ideen und Konzepte entwickeln wir hoffentlich noch rechtzeitig ein zukunftsfähiges Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, in dem sich alle mit dem zum guten Leben Notwendigen versorgen können und versorgt sind.

Unter dem Titel „Der große. blinde Fleck“ erschien das Interview zuerst auf OXI Blog

Sigrun Matthiesen
Sigrun Matthiesen ist freie Journalistin in Berlin und beschäftigt sich häufig mit gesellschaftspolitischen Themen. Sie arbeitet unter anderem als Redakteurin für die Monatszeitung „OXI – Wirtschaft anders denken“ und betreibt die Textagentur "Worte und Geschichten”.

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