Diesseits und jenseits der Oder – Bruchlinien in der Europäischen Union

Das polnische Verfassungsgericht hat beschlossen, dass der Vorrang des Rechts der Europäischen Union (EU) gegen die polnische Verfassung verstößt. Was im Einzelnen auch bedeutet: Kein polnisches Gericht hat mehr das Recht, dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Frage vorzulegen, ob eine polnische Rechtsentscheidung mit dem EU-Recht vereinbar ist. Gleichzeitig ist das polnische Verfassungsgericht kaum noch ein Gericht, das diesen Namen verdient. Es wurde staatsstreichartig bis 2020 von der Regierung neu zusammengesetzt, bereits gewählte Richter wurden rechtswidrig abgesetzt. Die Exekutive hat das Gericht de facto gekapert. Mit diesem Urteil hat sich Polen als Staat rechtlich aus der EU entfernt. Es will aber drinbleiben.

Screenshot: tagesschau.de

Westlich der Oder hat im vergangenen Jahr das deutsche Bundesverfassungsgericht in einem vielfach kritisierten Urteil zur Europäischen Zentralbank (EZB) dem EuGH vorgeworfen, sich „ultra vires“, also jenseits der Befugnisse, die dem EuGH nach EU-Recht eingeräumt werden, begeben zu haben. Dagegen hat nun die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.

In der öffentlichen Debatte hat das deutsche Gericht für sein Urteil – namentlich durch Parteien – heftige Schelte einstecken müssen. Aber auch wenn sich jetzt die polnische Regierung und deren Gericht auf die Karlsruher Entscheidung berufen, stimmt daran nichts. Denn zwischen beiden Verfahren und den abschließenden Urteilen liegt ein Gegensatz, der für die Zukunft der EU wichtig ist: Während die polnische Entscheidung ein „Polexit“ ohne formellen EU-Austritt bedeutet, rührt die deutsche Entscheidung an wesentliche Probleme der EU – um der EU willen. Und darin liegt mehr Potenzial, als die Kommentare bisher erkennen lassen.

Jenseits der Oder – „Polexit“ mit Vorgeschichte

Angesichts der langjährigen Auseinandersetzung der PiS-Regierung mit der EU konnte die polnische Gerichtsentscheidung nicht überraschen. Schon der sehr lange Entstehungsprozess der polnischen Verfassung bis 1997 war geprägt von der Entscheidungsfindung nicht nur zwischen den verschiedenen politischen Lagern in Polen, sondern darüber hinaus und danach vom quälerischen Prüfungsverfahren, dem Polen wie alle anderen Beitrittskandidaten seit 1998 unterzogen wurden. Nicht nur in Polen war es so, dass die „samtene Revolution“ der Bürgerbewegung von 1989 auf jenen „Werten“, auf die sich die EU beruft, beruhte. Dass man dann noch mal ins Examen durch mehrere Prüfungsschleifen musste, war demütigend. Bleibt noch hinzuzufügen, dass der letztlich erfolgte Beitritt Polens auf der Grundlage eines gerade entstehenden EU-Verfassungsentwurfs erfolgte, der dann bei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlagen krachend scheiterte. Indem die Regierungen dann dennoch mindestens 90 Prozent dieses gescheiterten Entwurfs zum letztlich gültigen Vertrag machten, ohne weiter die Wahlvölker befragen zu müssen, mögen sie rechtswissenschaftlich legitim gehandelt haben, politisch hinterließ es ein Akzeptanz-Vakuum. Vielleicht nicht anders als heute in Polen?

Es liegt auf der Hand, dass sich die Mitgliedstaaten der EU das Vorgehen der PiS-Regierung nicht bieten lassen können. Ob und wie ernst sie es damit nehmen, steht aber noch dahin. Das rechtliche Instrumentarium ist kompliziert, doch es ist über die Jahre so weit entwickelt worden, dass energische Sanktionen seitens der EU möglich sind. Das sind rechtliche Schritte, denen die Kürzung oder komplette Zurückhaltung von erheblichen Transferzahlungen und auch Stimmentzug in EU-Gremien folgen können. Ob das zu einem Einlenken der polnischen Regierung führen wird, bleibt offen. Echte Veränderungen können nur auf politischem Terrain herbeigeführt werden, und zwar durch eine politische Opposition in Polen, die auf Dauer mehrheitsfähig werden muss. Allerdings können die EU-Mitgliedstaaten auch nicht hinnehmen, dass in den eigenen Reihen Stimmen von Staaten gelten sollen, die sich elementaren Rechtsgrundsätzen entziehen. Hier entfällt schlicht die Geschäftsgrundlage.

Roben der Richter im Europäischen Gerichtshof (Foto: Alexander Drechsel, wikimedia commons)

Und darum geht es in dem Streit. Es steht nämlich nicht die Wirksamkeit irgendeines EuGH-Urteils, einer EU-Richtlinie oder Verordnung in Frage, sondern der ganze Kranz von Rechtsgrundsätzen, zu denen Grundrechte wie Rechtsstaatlichkeit gehören – eben all das, auf das eine polnische Opposition sich bislang berufen konnte. Juristisch formuliert: Es handelt sich nicht um ein Gehakel um „Sekundärrecht“, sondern um das „Primärrecht“ der EU schlechthin.

Diesseits der Oder – Dissens als Integration

Angesichts der durch Polen zugespitzten Situation erweist sich das EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts als geradezu konstruktiv. Denn es fordert die Kooperation ein, weist nicht den Vorrang des EU-Rechts zurück. Im Gegenteil: Es fordert den EuGH auf der Basis des EU-Rechts heraus. Bei dem verhandelten Fall geht es um das Staatsanleiheprogramm der EZB, „Public Sector Purchase Programme“ (PSPP). Die deutschen Kläger wandten ein, die EZB würde durch die Ankäufe mehr als nur ihr eigenes Geschäft – Geldpolitik – betreiben, nämlich Wirtschaftspolitik und Finanzierung von Staaten. Damit lade die EZB die EU-Staaten zum Schuldenmachen ein, wofür zu großen Teilen die Bundesbank als Hauptbeteiligte der EZB geradestehen müsste. Der Vorwurf lautete also, die EZB würde mit diesem Programm jenseits ihrer Kompetenzen handeln.

Das Bundesverfassungsgericht legte den Fall mit eigenen Bedenken dem EuGH vor. Dieser befand, dass alles seine Richtigkeit habe. Dem widersprach das deutsche Gericht in seiner Entscheidung vom 5. Mai 2020, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens habe die EZB keine ausreichende Begründung in Hinsicht auf die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme vorgelegt. Der Bundesbank wurde dadurch untersagt, weiterhin an dem PSPP-Programm mitzuwirken, solange nicht eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB vorliege. Zweitens bedeute das EuGH-Urteil eine deutliche Kompetenzüberschreitung, indem es die strittige Angelegenheit mehr oder weniger begründungslos erledige. Der EuGH habe, so der juristische Ausdruck, „ultra vires“ gehandelt, im Klartext des Urteils: „objektiv willkürlich“. Nunmehr musste die Bundesregierung bei der EZB eine ausreichende Begründung einholen, was auch geschah. Dem Bundesverfassungsgericht hat dies genügt, und so schien der Fall gelöst. Praktisch war das Problem damit auch erledigt. Doch die EU-Kommission sah darin einen so schweren Verstoß gegen das EU-Recht, dass ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik eingeleitet wurde. Das treibt jedoch in einen juristisch unauflösbaren Konflikt: Denn wer sollte am Ende über die Alleinzuständigkeit des EuGH entscheiden, wenn nicht der EuGH selbst?

Screenshot: EuGh-Website

EU – ohne demokratisch-rechtsstaatliche Verfassung

Im Wesentlichen handelt es sich um einen nicht nur von Deutschland aus geführten Streit um die Allein-Kompetenz des EuGH und im Weiteren der EU. In einer Reihe von Grundsatzentscheidungen innerhalb von mittlerweile fast 40 Jahren ist das Bundesverfassungsgericht sich und der EU treu geblieben: Der Vorrang des EU-Rechts wird nicht bestritten und der „Europarechtsfreundlichkeit“ ist reichlich Genüge getan worden. Doch mit jedem Urteil wurden Vorbehalte formuliert, die für strittige Fälle einer Kompetenzüberschreitung von EU-Institutionen ein Kontroll- und Korrekturrecht beinhalteten. Das hat schon 1974 angefangen, und auch damals hat sich das Bundesverfassungsgericht ein Vertragsverletzungsverfahren eingehandelt. Prominent wurden jedoch die Grundsätze im Urteil über den Gründungsakt der EU, den Maastricht-Vertrag von 1992, und zuletzt das Urteil über den Lissabon-Vertrag von 2009, in dem die EU-Mitgliedsstaaten alle Inhalte des 2005 gescheiterten EU-Verfassungsentwurfs untergebracht hatten.

In allen Fällen hat das Bundesverfassungsgericht erzwungen, dass das Abtreten von Souveränitätsrechten an die EU so lange geschehen kann und soll, wie dies durch Ermächtigung seitens des bundesdeutschen Parlaments ermöglicht wird. Dies soll nämlich so lange gelten, wie die EU durch eigenes Parlament und Gewaltenteilung den Grundsätzen einer demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassung noch nicht genügt. Darüber hinaus muss auch die Wahrung wesentlicher Rechtsinhalte, vor allem der Schutz der Grundrechte durch die EU gewährleistet sein. Eine letzte Kontrolle von Selbstermächtigungen seitens der EU-Organe, eben „ultra vires“, hat sich das Bundesverfassungsgericht dabei vorbehalten. Es war nur eine Frage der Zeit und des Anlasses, wann dies geschehen würde.

Stummer Konsens dient der Integration nicht

Damit ist das deutsche Bundesverfassungsgericht übrigens nicht allein. Die Vorbehalte gegenüber einer Verselbstständigung des EuGH werden auch in anderen Ländern der EU geteilt. Dabei ist fortlaufend der Vorwurf laut geworden, der EuGH entferne sich immer mehr aus der erforderlichen Kooperation mit der Gerichtsbarkeit der Mitgliedsländer. Der stumme Konsens dient eben nicht der Integration, wohl aber der Dissens, wenn er gut begründet ist und ausgetragen wird.

Bleibt hinzuzufügen: Ein selbstbewusst handelnder und entscheidender deutscher Bundestag als Parlament hätte das auch von allein tun können und müssen. Das Gericht hat hier Lücken füllen müssen. Genau das war auch beim EZB-Urteil der Fall. Auf Dauer können aber Gerichte nicht Lückenbüßer sein. Das Potenzial des Karlsruher Urteils kann letztlich durch Demokratisierungsbewegungen quer durch die EU mobilisiert werden. Das gilt insbesondere für die polnische Opposition.

Martin Dieckmann
Martin Dieckmann hat Politologie und Kunstgeschichte studiert. Er ist diplomierter Politikwissenschaftler, war 1983-2000 Dokumentar bei Gruner + Jahr in Hamburg. Von 2001-2008 arbeitete er als Sekretär beim ver.di-Bundesvorstand für Verlage, Medienwirtschaft und Medienpolitik, von 2008 bis 2020 war er verdi-Fachbereichsleiter Medien, Kunst und Industrie in Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern.

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