Wer rettet Willy Brandt vor diesen Leuten? „Mehr Fortschritt wagen“ — das haben die neuen Koalitionäre über ihr ordentlich-mutloses Programm geschrieben. Damit lassen sie ihre künftigen Regierungssprecher und sonstigen Propagandisten in Berlin durch alle journalistischen Hinterzimmer ziehen mit der Botschaft: Habt Ihr das verstanden? Ist doch raffiniert-klasse! Toll-dezente Anspielung auf den großen Willy Brandt mit seinem „Mehr Demokratie wagen“, damals 1969 — ja, kapiert? Und wir, die Scholz-Truppe, sind doch mindestens so klasse wie der damals! Und weil diese politischen Bänkelsänger von Hinterzimmer zu Hinterzimmer ziehen, um allen diese Deutung einzuträufeln, deshalb steht genau diese Deutung auch im Leitartikel („Ein revolutionäres Programm“) der FAZ und anderswo. Also: Wer kann wie dieser Anmaßung wehren? Wer rettet Willy Brandt vor diesen Leuten?
Die neuen Koalitionäre sollen regieren, sie sollen tun und machen, wie sie wollen, sie und ihre Propagandisten sollen aber bitte, bitte jede gedankliche Annäherung an Leben und Werk von Willy Brandt meiden. Jeder Versuch kommt politischem Schmarotzertum gleich, weil bereits ihre Pläne — geschweige denn das, was umzusetzen sie in der Lage sein werden — denen von Brandt nicht gerecht werden. Das gilt für den Anfang und auch das Ende ist zu bedenken: Schon vergessen, dass die FDP, die 1982 mit dem Lambsdorff-Papier der sozialliberalen Regierung die Scheidungsurkunde ausgestellte, das Zeug zur Wiederholungstäterin hat – egal was, egal wie, Hauptsache, es bringt ihr Stimmen und ihrem Vorsitzenden Macht?
Die Ampel bedient Notwendigkeiten und feiert sich dafür
Willy Brandt wagte was. Wer von diesen Politikern wagt etwas? Keiner. Sie nehmen alle das recht professionell in Angriff, was unabdingbar zu tun ist — ob Digitalisierung oder Klimakatastrophe. Sie erledigen ein Pflichtenheft, das sich in zwei Jahrzehnten mehr und mehr angefüllt hat. Mehr nicht.
Was reklamieren sie für sich? Jedes Jahr 400.000 neue Wohnungen, davon 100.000 öffentlich gefördert. Damit bessern sie doch nur das aus, was sie in den vergangenen Jahrzehnten — alle diese drei Parteien waren lange genug jeweils an der Regierung — angerichtet haben. Die Zahlen: 1987 gab es in der alten Bundesrepublik noch 3,9 Millionen Sozialwohnungen. Nach der Volks- und Gebäudezählung waren es Ende 2001 (nach drei Jahren rotgrüner Schröder-Regierung) noch bescheidene 1,8 Millionen Wohnungen. 2019 noch kümmerliche rund 1,1 Millionen.
Was reklamieren sie noch für sich? Zwölf Euro Mindestlohn. Zehn Millionen Beschäftigte werden davon profitieren, proklamiert stolz der neue Kanzler Olaf Scholz. Toll! Oder vielmehr ganz schlecht? Dass heute zehn Millionen Beschäftigte weniger als zehn Euro die Stunde erhalten — verdienen tun sie viel mehr —, das ist auch ein Ergebnis der Politik des Lohndumpings und des Niedriglohnsektors von Gerhard Schröder, Joschka Fischer, Jürgen Trittin und Olaf Scholz.
Willy Brandt hatte Mut, hat etwas gewagt
Aber wir wagen doch eine absolut ehrgeizige Klima- und Energiepolitik, sagen die neuen Koalitionäre? Wer wagt da was? Niemand wagt was, es wird — auch mit dem Kohleausstieg — das Nötigste vollzogen, was von den Problemen als Tagesordnung diktiert wird.
Wer etwas gewagt hat, das war Willy Brandt. Beispiel: Der trug im April 1961 auf einem SPD-Parteitag als Kanzlerkandidat das Regierungsprogramm vor. Ein Auszug: „Reine Luft, reines Wasser und weniger Lärm dürfen keine papierenen Forderungen bleiben. … Es ist bestürzend, dass diese Gemeinschaftsaufgabe, bei der es um die Gesundheit von Millionen Menschen geht, bisher fast völlig vernachlässigt wurde. Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden.“ Damals wurde Brandt dafür lächerlich gemacht, drohte Außenseiter zu werden. Das war Mut.
Oder sein Mitstreiter Hans Matthöfer: Im März 1982 legte Matthöfer als Bundesfinanzminister einen Plan für eine große Steuerreform vor. Sie verband Energiepolitik, Umweltschutz und Beseitigung von Arbeitslosigkeit auf eine intelligente Weise. Seine Vorschläge: Energie sparen, Mineralölsteuer erhöhen, Investitionen in Erneuerbare Energien, Umstellung auf weniger energieintensive Produktionsweisen. Wer sich wundert, ja, die Jahreszahl stimmt: 1982, kein Zahlendreher, kein Tippfehler. Der Plan wurde nicht Wirklichkeit. Warum? Weil der Kanzler damals Helmut Schmidt hieß, ebenso visions- und mutlos wie der heutige Kanzler; Scholz ist darauf stolz in Schmidts Tradition zu stehen, was er tatsächlich auch tut. Matthöfer hatte übrigens schon einige Jahre zuvor, Ende der 1970er — damals war er Bundesforschungsminister — der Autoindustrie nennenswerte Subventionen angeboten: Für viele Millionen an Steuergeldern sollten die Konzerne ein emissionsfreies Auto entwickeln. Die Autoindustrie hatte natürlich — kein Interesse.
Offene Ohren
Und dann noch das: Diese Koalition redet nicht einmal über die Verteilung der Vermögen in dieser Republik, geschweige denn, dass sie dagegen etwas macht. Die Zahlen: Zehn Prozent der Haushalte besitzen 60 Prozent aller Vermögen, also aller Unternehmen, Aktien, Immobilien undsoweiter; und zwar netto, also bereits abzüglich aller Schulden. 20 Prozent besitzen gar nichts. Knapp zehn Prozent haben ein negatives Vermögen, sind also hoffnungslos überschuldet. Und wirtschaftlicher Besitz ist politische Macht: Kommt der zigfache Millionär zum Politiker und sagt, ich will…, findet er ein offenes Ohr. Kommt der Normalwähler zum Politiker und sagt, ich will…, findet er zwei offene Ohren, hier rein, dort raus.
Würde Willy Brandt dies so wortlos hinnehmen, als nichtexistentes Problem betrachten, so wie Scholz, Habeck, Baerbock und Lindner?
Genau. 1969 war alles besser. So einfach kann man es sich machen.
Und sieben Jahre Rot-Grün zu diffamieren und 32 lange Jahre schwarzer Kanzlerschaft unter Kohl und Merkel seit 1982 gar nicht erst zu erwähnen, ist noch einfacher. Willy Brandt hatte die furchtbare Idee mit dem Radikalenerlass — trotz seines Leitspruchs »Mehr Demokratie wagen«. Dies wird besser ausgeblendet, denn es verträgt sich halt nicht mit der Botschaft von »Wer rettet Willy Brandt …?« Alle diese Epochen liegen zum Teil lange zurück und die neue Regierung ist noch nicht einmal vereidigt. Sie jedoch schon heute zu diffamieren, passt zur Einseitigkeit dieses »Bruchstücks« …
Noch nicht im Amt, müsssen sich die SPD und insbesondere Olaf Scholz schon gegen die „Wächter über die reine Lehre“ zur Wehr setzen. So sind wir halt, wir Linken. Im Zweifel eben „Recht haben“ und den eigenen Leuten ans Bein pinkeln, statt einen realistischen Blick auf die Wahlergebnissse zu richten und danach die Möglichkeiten und eben auch die Grenzen richtig einzuordnen.
Lieber Wolfgang Storz,
ganz sicher kennst Du das Zitat von Willy Brandt:
„Nichts kommt von selbst.
Und nur wenig ist von Dauer.
Darum – besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“
Ein Blick auf den Koalitionsvertrag aus diesem Blickwinkel könnte auch zu dem Ergebnis führen – „Die sind auf der Höhe der Zeit“ und daher ist es nicht verkehrt, in Anlehnung an Willy Brandt von „Mehr Fortschritt wagen“ zu sprechen.
Im übrigen Frage ich mich, welchen Willy Brandt Du vor Augen hast, wenn Du Deinen Lobgesang auf ihn anstimmst.
Den Willy Brandt, der 1931 der SAPD beitrat und Quasi den Lafontaine machte?
Den Willy Brandt, der als Regierenden Bürgermeister von Berlin, sich 1961 den „Kommunistischen Machthabern“ in Ostberlin entgegenstellte?
Willy Brandt, den Außenminister einer Großen Koalition unter dem ehemaligen NSDAP Mitglied Kurt Georg Kiesinger?
„Unseren Willy“, der mit dem Friedensnobelpreis für seine Entspannungspolitik ausgezeichnet wurde?
Den Zögerer und Zauderer Willy Brandt zum Ende seiner Kanzlerschaft?
Den Parteivorsitzenden der 1980er Jahre oder eher den Parteivorsitzenden der sich 1969 auf einem Parteitag der Kritik von Karsten Voigt, dem damaligen Vorsitzenden der Jusos, wegen des Eintritts der SPD in die große Koalition von 67 bis 69 erwehren musste?
Oder den Willy Brandt, der es zum Ende seines Lebens offensichtlich besser mit Helmut Kohl gekonnt hatte, als mit seinen Genossen?
Von dem Willy Brandt und seiner späten Heirat von Brigitte Seebacher Brandt, will ich gar nicht erst reden.
Du siehst, der Weg „unseres Willy“ folgte verschlungenen Pfaden. Wer bin ich, dass ich darüber Urteilen kann – Schlussfolgerungen daraus ziehen aber schon.
Eine davon ist, sich auf Willy Brandt zum Kronzeugen eines Verisses des Koalitionsvertrages zu berufen, ist schon sehr gewagt.
Was jetzt kommt ist nicht Teil meinens Kommentars:
Lieber Wolfgang,
trotz aller Kritik – Ich habe mich gefreut, von Dir ein Lebenszeichen zu vernehmen.
In guter Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit in der IG Metall
Dein
Wolfgang Rose
Mein Herz pflichtet Wolfgang Storz bei, mein Verstand Wolfgang Rose …