Doch, das gibt es wirklich in dem Koalitionsvertrag von SPD, Bündnisgrünen und FDP: das Lustprinzip. Zweimal taucht es auf und jedes Mal klingt es wie eine tapfere Selbstermutigung: Auf Seite acht heißt es: „Wir haben Lust auf Neues und werden technologische, digitale, soziale und nachhaltige Innovationskraft befördern.“ Zehn Seiten weiter sind die Anforderungen an die drei „so unterschiedlichen Parteien“ (Präambel) noch weiter gestiegen: „Wir haben Lust auf Zukunft und den Mut zu Veränderungen, sind offen für Neues und werden neue technologische, digitale und nachhaltige Innovationskraft entfachen“. Befördern oder Entfachen? Letzteres setzt eigene Ideen oder gar „Missionen“ (das Wort taucht im Vertrag einmal auf) voraus. Lassen sie sich auf den 177 Seiten finden? Oder versuchen die drei Parteien, die keine Wunschpartner sind, nur uneingelöste Programmentwürfe oder gescheiterte Gesetzesvorschläge aus der Ära Angela Merkels doch zu realisieren?
Die Liste des Uneingelösten ist lang: Bürgergeld statt Hartz IV, Kinderrechte ins Grundgesetz, Kindergrundsicherung, Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel, vom Bundestag eingesetzte Bürgerräte, erleichterte Einbürgerung von Geflüchteten, Rückkehr zur verbindlichen Zusammenarbeit mit den Ländern und Kommunen durch einen „Förderalismusdialog“ (ohne eine neue Föderalismusreform allerdings). Vom Klimaschutz ganz zu schweigen.
Wer auf diesen über hundert Seiten politisches Feuer erwartet, das forsches rotgrüngelbes Pusten entfachen könnte, der wird den Vertrag enttäuscht zur Seite legen oder in Eigenprophezeihung aufseufzen: War doch klar, schließlich sind Lindner, Habeck und Scholz keine Unbekannten in der Politik.
Sympathischer Ton
Dennoch birgt der Vertrag Überraschendes. In weiten Teilen bemühen sich die drei Parteien um eine Sprache, die ohne die in der Hauptstadt gepflegten Blasen auszukommen versucht (wie auch die Datenanalyse des Spiegel ermittelt); und auch den von Bundeskanzler Helmut Kohl noch so geliebten Spruch von den „Menschen draußen im Lande“ durchweg vermeidet. Im Gegenteil lautete einer der ersten Sätze in der Präambel: „Es geht darum, das Leben für die Bürgerinnen und Bürger leichter zu machen.“ Und dieser eigentlich sympathische Ton hält zumindest im innenpolitischen Teil des Vertrags an trotz der geplanten Durchdigitalisierung des Lebens. Die Sätze klingen wenig gestelzt, sondern ehrlich. Zum Beispiel diese beiden: „Uns verbindet das Verständnis von Deutschland als vielfältige Einwanderungsgesellschaft.“ Und: „Wenn wir es schaffen, gemeinsam die Dinge voranzutreiben, kann das ein ermutigendes Signal in die Gesellschaft hinein sein.“ Wohl wahr.
Aber welche Dinge wollen die drei Parteien jenseits der Klimaziele vorantreiben? Was bieten die bisher bekannten Ministerinnen und Minister für Arbeit, Soziales, Jugend, Familie oder Bildung der jungen Generation, den Erst-und Jungwählern, die Grüngelb gewählt haben (wenn sie überhaupt gewählt haben)? Welche politische Erzählung bieten Hubertus Heil oder Anne Spiegel ihren eigenen Kindern?
Auf die künftige Familienministerin, die Bündnisgrüne Spiegel, kommt laut Vertrag die Aufgabe zu, die von ihrer Partei lange geforderte „Kindergrundsicherung“ gesetzlich zu verankern. Sie hat die Federführung für diesen „Neustart in der Familienförderung“. Gebündelt, automatisiert und direkt ausgezahlt werden sollen danach das Kindergeld, die Leistungen nach den Sozialgesetzbüchern II und XII, das Bildungs-und Teilhabepaket und der Kinderzuschlag. Dieser Neustart greift tief in das bisherige gesetzlich verfügte Verständnis von „Bedarfsgemeinschaften“ ein, die auf die Grundsicherung (populär: Hartz IV) angewiesen sind, aber auch traditionelle Gewohnheiten wie steuerliche Absetzbarkeiten.
Ein erster Schritt und leise Zweifel
Es ist ein Perspektivwechsel, der da vereinbart wurde. Die Grundsicherung richtet sich an Kinder, Jugendliche, Lehrlinge, Studentinnen und Studenten. „Diese Leistung soll ohne bürokratische Hürden direkt bei den Kindern ankommen und ihr neu zu definierendes soziokulturelles Existenzminimum sichern.“ Mit diesem Begriff knüpfen die Koalitionspartner an eine Forderung des Bundesverfassungsgerichts zu kindgerechten Hartz IV-Sätzen an, erweitern ihn aber grundlegend auf alle Kinder und Jugendlichen. Ihnen allen soll unabhängig vom Einkommen der Eltern ein „Garantiebetrag“ zustehen. Der „Zusatzbetrag“ soll sich gestaffelt am Einkommen der Eltern orientieren.
Der „Garantiebetrag“, über dessen Höhe nichts bekannt ist, soll auch in der Neuordnung der Schüler-und Studentenförderung (Bafög) eine zentrale Rolle spielen: an volljährige Anspruchsberechtigte , so heißt es auf Seite 97, soll er direkt ausgezahlt werden. Ein erster Schritt, die jungen Erwachsenen in ihrer Unabhängigkeit zu unterstützen? Dieser Gedanke scheint im übrigen auch bei weiteren Änderungen im Bafög eine Rolle gespielt zu haben: Überprüft werden sollen die Altersgrenzen, die Förderungshöchstdauer, die bisherigen Auflagen beim Studienfachwechsel oder beim Teilzeitstudium. Wenn nur noch elf Prozent der Studentenschaft überhaupt Bafög beziehen, wird es höchste Zeit für eine gründliche Überarbeitung. Wie heißt es doch einsichtig in der Präambel des Vertrags: „Die Chancen sind nicht für alle gleich verteilt“.
Doch bei den Unterhändlern der drei Parteien haben sich leise Zweifel eingeschlichen, ob dieser Neustart und Perspektivwechsel zügig zu machen ist. Bis zur „tatsächlichen Einführung“ einer Kindergrundsicherung sollen „von Armut betroffene Kinder“ einen „Sofortzuschlag“ erhalten und Alleinerziehende eine „Steuergutschrift“. Das ist eher ernüchternd.
Einen Coach brauchen die Institutionen
Das gilt auch für das „Bürgergeld“, mit dem vor allem die Sozialdemokraten sich von der „Basta-Politik“ und der Hartz IV-Gesetzgebung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder lösen wollen. Der Wechsel des Namens sagt noch nichts darüber aus, ob sich Einstellungen, Haltungen, Urteile und Vorurteile in den Arbeitsagenturen und Jobcentern ändern werden. Man kann die „Beratung auf Augenhöhe“, die „Vertrauensbeziehungen“ und die „aufsuchende Sozialarbeit“ beschwören, man kann vieles im künftigen Bürgergeld anders gestalten als bisher in der Grundsicherung des SGB II: die vielen Urteile bis hin zum Bundesverfassungsgericht könnten bei der Überprüfung dienlich sein. Hilfreich könnte auch für die unter 25jährigen sein, sie zu coachen statt zu sanktionieren.
Aber eine Art Coach brauchten vor allem die Institutionen und die in ihnen beschäftigten Frauen und Männer. Ihre inzwischen langen Erfahrungen, angestauten Emotionen, aber auch Erschöpfungen und Überforderungen sollten gehört und einbezogen werden. Zum Beispiel von der „unabhängigen Kommission aus mehreren hierfür qualifizierten unabhängigen Instituten“, die laut Vertrag mit der „Entwicklung des Reformmodells“ beauftragt werden soll. Zeit hat diese bislang unbekannte und unbenannte Kommission allerdings nur bis Ende 2022. Zu knapp für durchdachtes Neues.
Möge die Übung gelingen
Zu knapp könnte auch die Überschrift für das Kapitel Behebung des Fachkräftemangels sein. Die Ampel setzt auf die Frauen und die älteren Erwerbstätigen, auf einen Schub in der Weiterbildung, auf bessere und attraktivere Arbeitsbedingungen in Mangelberufen (Bäcker, Metzger, Maurer zum Beispiel) und schließlich erst an vierter Stelle auf eine „Arbeitskräfteeinwanderung“. Das klingt und ist verdruckst, wie vieles beim offenkundig doch zu heißen Thema Flüchtlings-und Einwanderungspolitik. Angedacht wird eine „Chancenkarte nach einem Punktesystem“ oder eine „Bluecard für nichtakademische Berufe“. Das ist mehr als dürftig und wird den Mangel an Lehrlingen, an Arbeits-und Fachkräften vor allem im Handwerk nicht beheben. Das Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg wird nicht müde, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft immer wieder auf den doch dramatischen demografischen Wandel in Deutschland hinzuweisen, den weder die Frauen noch die älteren Arbeitnehmer aufzufangen vermögen.
Ein wenig mehr Mut sollten die Sozialdemokraten, Liberalen und Bündnisgrünen schon wagen. Und auch mehr Ehrlichkeit gegenüber der jungen Generation, die ihnen mit dieser Wahl einen, wenn auch kleinen Vertrauensvorschuss gegeben hat. Den sollten die drei so unterschiedlichen Parteien nutzen, wenn sie selbst auf den „lernenden Staat“ setzen. Mit der Wahl des neuen Bundeskanzlers und der Vereidigung der Ministerinnen und Minister gehören sie dazu. Möge die Übung gelingen.