Angela Merkel hat das Land verändert, aber sie hinterlässt gewaltige Baustellen. Für die Zukunft ist die Republik so schlecht gerüstet wie ihre CDU. Ich begegnete ihr das erste Mal 1990, das zweite Mal bei einem Hintergrundgespräch 1998 nach der Abwahl der Kohl-Regierung, richtig kennengelernt habe ich sie als CDU-Generalsekretärin. Ein persönlicher Rückblick.
Angela Merkel traf ich das erste Mal 1990 am Rande der Abschlussrunde der 2+4-Verhandlungen in Moskau. Sie begleitete als stellvertretende Regierungssprecherin Lothar de Maiziere, der seit dem Rückzug der SPD aus der Großen Koalition in Ostberlin auch letzter DDR-Außenminister war. Am Vorabend der feierlichen Unterzeichnung des Abkommens mit den Westalliierten und der Sowjetunion über die äußeren Fragen der deutschen Einigung waren wir Bonner Journalisten im Gefolge von Hans-Dietrich Genscher zusammen mit den DDR-Korrespondenten zu einem Empfang in die westdeutsche Botschaft geladen. Ich stand mit einigen Kollegen an einem Stehtisch, wir machten Witze über de Maizieres Sprachfehler. Plötzlich trat mir ein Kollege auf den Fuß. Eine jüngere Frau mit Prinz-Eisenherz-Frisur und langem Batikrock näherte sich. Sie guckte finster, weil sie offenkundig unsere Scherze gehört hatte. „Das ist seine Sprecherin“, raunte der Kollege. Niemand sonst kannte sie. Sie fixierte mich, weil ich gerade etwas gejuxt hatte. Wir schwiegen betreten. Sie stand eine Weile daneben und ging dann wieder, ohne etwas zu sagen außer „Guten Abend“.
Ungewöhnlich offen
Das zweite Mal traf ich sie bei einem Hintergrundgespräch, das sie Ende 1998 nach der Abwahl der Kohl-Regierung als scheidende Umweltministerin in ihrem Ministerium gab. Sie sprach ungewöhnlich offen und sehr nüchtern über ihre ersten Jahre in der Politik, zunächst als Bundesministerin ohne Geschäftsbereich, dann als Familien- und Jugendministerin, schließlich im Umweltressort. Sie sei froh, dass sie als ehemalige DDR-Bürgerin in der ersten gesamtdeutschen Regierung habe mitwirken dürfen. Die Abwahl der schwarz-gelben Regierung sei jedoch durchaus angebracht, sie sei verbraucht gewesen, nun übernehme Rot-Grün. Kein Pathos, keine erkennbare Wehmut. Doch klar machte sie auch: Damit war der Weg für sie nicht zu Ende. Sie würde sich weiter einen Platz in der deutschen Politik suchen. Von Kohl, der wohl früh ihre Talente erkannt hatte, habe sie viel gelernt, sagte sie. Vor allem: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt.“ Aber auch hier keine Glorifizierung, eher kühle Distanz.
Richtig kennengelernt habe ich sie, als sie CDU-Generalsekretärin wurde. Wolfgang Schäuble, Kohls kurzzeitiger Nachfolger an der Partei- und Fraktionsspitze, war mit fast allen Parteimitarbeitern schon nach Berlin umgezogen. Sie hatte man nur mit ihrer Sekretärin, Pressesprecherin, einigen Referenten und den Hausmeistern im alten, vermufften, dunkel holzgetäfelten Konrad-Adenauer-Haus am Rhein zurückgelassen. Mit ihrer Sprecherin Eva Christiansen hatte ich ein Hintergrundgespräch vereinbart, um zu erfahren, was sie politisch eigentlich antrieb und was sie noch vorhatte. Sie nahm mich selbst am Aufzug in Empfang, stellte sich vor, als wüsste ich nicht, wer sie war (unsere erste Begegnung in Moskau hatte sie zum Glück wohl vergessen), und sprach mit mir dann zweieinhalb Stunden in ihrem Büro. Offensichtlich auch deshalb, weil sich sonst kaum jemand für sie interessierte, diese befremdliche Frau aus dem Osten, die niemand einzuordnen wusste. „Kohls Mädchen“, wie sie damals verspottet wurde, die nach seinem Abgang übriggeblieben war und nun in der CDU ziemlich weit oben stand. Mit ungewisser Zukunft wie ihre Partei, zu der sie gar nicht recht zu passen schien. Ihn sie war sie wie in die große Politik ja auch eher zufällig geraten, wie sie selbst sagte, über den Demokratischen Aufbruch, eine DDR-Bürgerbewegung, der sie sich in der Wende angeschlossen hatte.
Sie analysierte nüchtern realistisch die desolate Lage ihrer nach 16 Kohl-Jahren als Kanzler und 25 als Vorsitzender ausgelaugten CDU, und erläuterte mir ihre politische Philosophie. Die Politik habe den Menschen, den Bürgern zu dienen und ihnen zu ermöglichen, ihr Leben frei zu gestalten. Das sei ihre wesentliche Erkenntnis aus der SED-Diktatur. Die DDR und mit ihr der gesamte Kommunismus und der Ostblock seien zusammengebrochen, weil die Informationstechnologie als neue Stufe der Industrialisierung Freiheit auch im Denken brauche. Das gehe nur in einer kapitalistischen Demokratie, erklärte sie ganz im Sinne des marxistischen historischen Materialismus, den sie in der Schule und an der Universität hatte lernen müssen: Die Entwicklung der Produktionskräfte treibt die gesellschaftliche Entwicklung voran.
Eine Außenseiterin, die nun mitbestimmte
Eine Naturwissenschaftlerin, die mit derselben Distanz und Akkuratess die Gesellschaft und die Politik betrachtet – dieses Bild prägte sich mit ihr ein. Mit den mir vertrauten konservativen Idealen der CDU, mit denen diese Partei die Rheinische bundesdeutsche Republik geprägt hatte, hatte das wenig zu tun. Und doch entsprach es auch vom Werdegang dieser in Hamburg geborenen, in einem evangelischen Pfarrerhaushalt aufgewachsenen Physikern im Grunde der christdemokratischen Mischung aus für die Moderne offenem Konservatismus, Liberalität und christlichen Grundwerten. Nur die soziale Seite fehlte bei ihr. Und die Nestwärme und die Verbindungen des CDU-Klüngels, den die dort bis dahin vorherrschenden westdeutschen Männer schon in der Jungen Union geknüpft hatten. Eine Außenseiterin, die nun aber die Geschicke der Partei mitbestimmte.
Auch ihre Menschenscheu und ihre Distanz zum realen Sozialismus erschlossen sich mir in dem langen Gespräch. Sie schilderte, wie sie in der evangelischen Einrichtung in ländlicher Abgeschiedenheit, in der ihr Vater nach der Übersiedlung in die DDR arbeitete, jeden Tag mit Behinderten umgeben war, was sie als Kind überfordert habe. Und wie sie abends Gespräche ihres Vaters mit anderen Pfarrern und Gleichgesinnten verfolgt habe, die wie er aus christlicher Überzeugung Sozialisten waren. Was aber quer zu ihren Erfahrungen in der Schule, später an der Uni und als Wissenschaftlerin mit der geistigen Enge des SED-Staats gestanden habe.
Ihre Bewährungsprobe kam, als die CDU durch Kohls Spendenaffäre in eine Existenzkrise geriet. Immer neue Einzelheiten dieses politischen Sumpfs kamen ans Licht. Manche befürchteten (oder erhofften) gar schon den Untergang der Partei wie der Christdemokraten in Italien. Doch Kohl, noch immer Übervater der Partei, weigerte sich, die Spender zu nennen. Da preschte Merkel, die ihm ihren Aufstieg verdankte, vor und ging in einem Beitrag für die FAZ auf Distanz zu ihm. Ein Abschiedsbrief, mit dem sie der CDU half, sich von ihrem Altkanzler zu lösen. Als dann auch Schäuble ins Trudeln geriet, weil Kohl aus Rachsucht durchgestochen hatte, dass sein früherer Kronzprinz, der sich von ihm losgesagt hatte, eine Spende von einem Waffenhändler angenommen hatte, ging sie auch zu ihm auf Distanz. In einem langen Telefonat machte sie deutlich, dass sie als seine Generalsekretärin nichts tun werde, ihn zu stützen. Das passte zu ihrem Ruf als „Männermörderin“, den ihr männliche Rivalen in der CDU und Journalisten angeheftet hatten.
Nachdem Schäuble zurückgetreten war, empfing sie mich zu einem Vieraugen-Gespräch in der provisorischen Parteizentrale in Berlin, einem kleinen Raum unterm Glasdach. Ich wollte von ihr wissen, wie es nun weitergehen sollte, mit der Partei und mit ihr, und wer wohl neuer Vorsitzender werden würde. An den Fingern einer Hand zählte sie die möglichen Bewerber ab: Volker Rühe, ihr Vorvorgänger als CDU-Generalsekretär und dann Verteidigungsminister, der sich Hoffnungen gemacht hatte, Ministerpräsident in Schleswig-Holstein zu werden und darüber an die Parteispitze zu gelangen, müsse erst einmal die bevorstehende Landtagswahl gewinnen. „Sieht jetzt nicht mehr so gut für ihn aus.“ Dasselbte gelte für Jürgen Rüttgers in Nordrhein-Westfalen und Christian Wulff in Niedersachsen. Und Roland Koch, der Ehrgeizigste in Hessen? Der habe nun die Jüdischen Vermächtnisse am Hals. „Das sieht gar nicht gut für ihn aus.“ Und sie selbst, habe sie womöglich Ambitionen? „Ach, wissen Sie“, sagte sie und lehnte sich lächelnd zurück, „ich bin noch jung. Ich kann warten.“ Da lief es mir, obwohl in der Politik schon ziemlich abgebrüht, wortwörtlich kalt den Rücken herunter. Ich hatte zum ersten Mal ihre harte, machtentschlossene Seite gesehen. „In der Pole-Position“ überschrieben wir über mein Porträt von ihr.
Schröders testosteron-geschwängerter Auftritt
Zwei Monate später war sie CDU-Vorsitzende. Und fünf Jahre später Kanzlerin, gegen alle Erwartungen. Gegen Edmund Stoiber, dem sie 2002 die Kanzlerkandidatur im berüchtigten Wolfrathshausener Frühstück überlassen hatte, weil sie da wenig Chancen ausrechnete, um sie dann selbst drei Jahre später, wenn er verloren hätte, zu übernehmen. Gegen Friedrich Merz, den Stoiber als Preis dafür als Fraktionschef und Kandidat in spe opfern musste. Gegen das noch größere Alphatier Gerhard Schröder. Und gegen ihre männlichen Konkurrenten in der CDU, die „Jungen Wilden“, die gedacht hatten, Merkel werde als „Trümmerfrau“ Kohls Hinterlassenschaften beseitigen und dabei einem von ihnen den Weg bereiten; und die sie noch am Abend der für die Union enttäuschenden Bundestagswahl 2005 politisch beseitigen wollten und wohl beseitigt hätten, wenn nicht Schröder mit seinem testosteron-geschwängerten Auftritt in der TV-Elefantenrunde („Sie werden niemals Kanzlerin“) ihnen einen dicken Strich durch ihre Rechnung gemacht hätte. Einige hatten gar schon eine „israelische Lösung“ erwogen, um Merkel zu verhindern: Schröder sollte in einer Großen Koalition erstmal Kanzler bleiben und dann einer von ihnen ihn beerben, wohl Koch. Doch nun sahen sie sich gezwungen, sich hinter Merkel zu stellen.
Ihr Kalkül, ihr Plan ging auf. Gerade weil sie immer unterschätzt wurde, auch in ihrem Machtstreben, gelangte sie ganz nach oben. Und blieb und blieb, weil ihr keiner in der Union, schon gar nicht die verschiedenen SPD-Kandidaten, das Wasser reichen konnte. Und sie sich, still aber doch mächtig den Nimbus als Krisenkanzlerin und Mutter der Nation erarbeitete.
Was bleibt von ihr? Sie hat das Land und die CDU ohne Zweifel modernisiert und für die neuen Zeiten geöffnet. Für die Einsicht, endgültig ein Einwanderungsland zu sein; für die Gleichstellung der Frauen, nicht indem sie große Reden hielt, sondern sie schlicht als Frau das mächtigste Amt 16 Jahre lang ausfüllte und darüber zeitweise zur mächtigsten Frau Europas und der Welt wurde; für die Gleichstellung auch der Homosexuellen und anderer Lebensformen. Wenig jedoch für die Herausforderungen der Digitalsierung, der turbokapitalistischen Globalisierung, des Klimawandels, einem nachhaltigen Umbau der Wirtschaft und gegen die soziale Spaltung.
In den Niederungen des politischen Alltags wie in den zahlreichen Krisen, die sie zu bewältigen hatte von der Finanz- und Eurokrise, der von ihr mitausgelösten Flüchtlingskrise bis zum Fiasko des Afghanistan-Rückzugs und ihrer letzten, der Pandemie, blieb sie stetst nüchterne, abwartende Pragmatikerin. Große Reden und Ideen waren ihre Sache nie. Sie hielt sie für überflüssig. Nur die Ergebnisse und ihre Art, sich leise aber effektiv Herausforderungen zu stellen und sie zu lösen, sollten für sie sprechen. „Sie kennen mich“ war bezeichnenderweise ihr Wahlmotto 2013.
Ihre größte Schwäche
Ihr Unvermögen, wichtige politsche Weichenstellungen und ihre zahlreichen Kehrtwenden zu begründen und zu vermitteln, waren ihre größte Schwäche. Politik folgt aus ihrer naturwissenschaftliche Sicht quasi zwangsläufigen Mechanismen – und der Vernunft, und müsste sich nach ihrem Verständnis daher von selbst erschließen. Daher ihr verhängnisvolles Diktum einer „alternativlosen“ Politik, mit der sie ihre Entscheidungen zu immunisieren und Gegner einzulullen und zu demobilisieren trachtete. Nur einmal trat sie offensiv für eine politische Neuausrichtung ein: auf dem Leipziger Parteitag 2003 für ein neoliberales Wirtschafts- und Sozialmodell mit einer Bierdeckel-Steuerreform. Als das Experiment bei der Wahl 2005 fast schief ging und sie nur mit Ach und Krach Kanzlerin wurde, zog sie daraus den Schluss, das Volk fürderhin nicht mehr mit grundgreifenden Debatten zu belästigen.
Entgegen ihren Absichten beförderte sie damit aber erst recht die gesellschaftliche Polarisierung. Denn wenn über weitreichende Entscheiden wie ein unkontrolliertes Öffnen der Grenzen, den Abschied von der Wehrpflicht, den schnellen Ausstieg aus der Atom- und nun auch Kohleenergie oder die Öffnung der Ehe für Homosexuelle, mit denen sie allesamt Grundpositonen der CDU und ihre eigenen bis dahin abräumte, nicht mehr in den Parteien und im Parlament gerungen wird, stärkt das die politischen Ränder. Mehr und mehr Bürger haben sich unter ihrer Ägide von den demokratischen Institutionen und den beiden ehedem großen Volksparteien abgewandt, weil sie sich von ihnen nicht mehr vertreten fühlen. Mit dem Ergebnis, dass im Bundestag und in den Landtagen eine starke rechtsextreme Partei sitzt, die die Demokratie infrage stellt. Und die CDU ähnlich in Trümmern liegt wie zu der Zeit, als sie ihren Aufstieg begann.
Merkel hat ihren Abschied aus freien Stücken genommen. Das Schicksal Kohls und anderer vor Augen wollte sie selbst bestimmen, wann genug war. Rückblickend wird sie sich womöglich sagen: Besser wäre ich schon früher gegangen. Besser wäre es jedenfalls gewesen.