„Jede Regierung sage daher an ihrem ersten Tage, wie Gott am ersten Schöpfungstage: Es werde Licht!“ Die Ampel-Regierung wird sich vier Jahre lang damit beschäftigen müssen, woher der regenerative Strom fürs Licht kommen soll. Jean Pauls Politische Fastenpredigten lasen den aufgeblasenen deutschen Duodezfürsten die Leviten. Ihnen schrieb er satirisch verpackte Wahrheit ins Gebetbuch. Mit Wahrheit herauszurücken, haben sich im zurückliegenden Wahlkampf nur Die Grünen getraut. Die Scholz-SPD hat versprochen, eigentlich alles beim Alten zu lassen; nur der Motor der Industriegesellschaft laufe künftig elektrisch statt mit Benzin. Herr Lindner versprach, übers Wasser gehen zu können. Vereint als Ampelregierung wollen die drei Parteien mehr Fortschritt wagen.
Die durch Corona belastete Staatskasse, die zur Bewältigung des Strukturumbruchs notwendigen Gelder, all das sei zu bewältigen, ohne die Einnahmen des Staates zu mehren, bleibt die Botschaft der FDP. Ein höherer Steuersatz für das obere fünf Prozent der Gesellschaft, wie von der SPD und den Grünen im Wahlkampf versprochen? Kommt gar nicht in Frage! Herr Lindner hat sich bekanntlich durchgesetzt, und auch der Voodoo mit der Schwarzen Null wird weitergehen.
Big points per Negation
In Zeiten historisch niedrigster Zinsen halten Volkswirte das für keine gute Idee. Aber das sei die unmaßgebliche Meinung US-amerikanischer Besserwisser von der linken Fraktion, so die der FDP beispringende FAZ. Wie haben Stiglitz und Krugman bloß den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft kriegen können? Stiglitz hat von einem systemischen Risiko gesprochen, einer Art böser Geist, der in die Liberalen gefahren sei. Die haben in der Koalitionsverhandlung ihre big points quasi per Negation gemacht: Keine Vermögenssteuer, keine die Sozialkassen stabilisierende und von Rot-Grün versprochene Bürgerversicherung. Der Präsident der deutschen Arbeitgeberverbände, Herr Dulger, ist mit der Eröffnungsbilanz zufrieden: „Die drei Parteien haben schon in der Sondierung klargestellt, dass es keine Vermögenssteuer und keine höhere Erbschaftssteuer geben soll. Das war ein ganz wichtiges Signal an alle Unternehmer.“
Ein Koalitionsvertrag ist keinesfalls auf geduldigem Papier geschrieben. Eine gerade veröffentlichte Studie der Bertelsmann-Stiftung hält fest, dass drei Viertel dieser Verträge sich in Gesetzestext umwandeln. Was verhandelt wurde, ist nicht weniger als die road map des neuen Kabinetts. Auf einer Straße bewegen sich die schnellen und die langsamen Verkehrsteilnehmer. Die mit der Geschwindigkeit einer technisch hochgerüsteten Gesellschaft nicht so recht mitkommen, hängen oft in atypischer Beschäftigung fest. Beinahe 20 Prozent der deutschen Beschäftigten sind Leiharbeiter, Befristete oder verkaufen ihre Arbeitskraft per Werkvertrag. Das ist ein sehr hoher Werte im europäischen Vergleich. Das Prekariat ist in einer Krise als erstes dran. Es gehört zu dem Teil der Belegschaften, den die atmende Fabrik ausschwitzt, wenn eine Rezension ihr zu schaffen macht. Auf das Wort von der atmenden Fabrik hat ein Herr Hartz, ehemals Personalchef des Volkswagenwerks, das Urheberrecht. Die letzte von der SPD geführte Regierung stand unter dem inoffiziellen Motto Mehr Volkswagen. Es war die Abwandlung des Willy Brandt-Versprechens Mehr Demokratie wagen.
Nun also der Claim der Ampel: Mehr Fortschritt wagen. Es findet sich etliches an Fortschritt im Koalitionsvertrag, das die Herren Lindner und Dulger nicht auf ihrer Habenseite verbuchen können. Darunter die Anhebung des Mindestlohns für 8,6 Millionen Lohnarbeiter, darunter die Abschaffung des entwürdigenden Hartz IV-Verfahrens für die Arbeitslosen. Unter Fortschritt versteht die Dreierkoalition also nicht nur mehr Geld, sondern auch mehr Würde des Einzelnen. Und der Vertrag verspricht mehr Partizipation. Eine Industriegesellschaft im völligen Umbruch wird diesen Strukturwandel nur gut bewältigen, wenn die Öffentlichkeit dem staatlichen Akteur assistiert. Das setzt voraus, dass sich die Öffentlichkeit wirklich beteiligt weiß.
Seitenweise viel Raum lassende Abstraktionen
Im Koalitionsvertrag gibt es richtig konkretistische Passagen. Die sich mehrende Wolfpopulation ist Thema: „Wir werden mit allen in diesen Fragen befassten Organisationen und Verbänden einen institutionalisierten Dialog ‚Weidetierhaltung und Wolf‘ einrichten.“ Zur Beteiligung der Bürger am Umbau ihrer Industriegesellschaft macht der Vertrag wenig Anmerkung. Diese Leerstelle muss nichts heißen. Der Vertrag ergeht sich seitenweise in viel Raum lassenden Abstraktionen. Von Bürgerräten ist zumindest die Rede („Wir wollen die Entscheidungsfindung verbessern, indem wir neue Formen des Bürgerdialogs wie etwa Bürgerräte nutzen, ohne das Prinzip der Repräsentation aufzugeben.“). Eine solche Institution der bürgerlichen Öffentlichkeit kann Vitalität entwickeln, aber dann muss es gelingen, die zerfallende Öffentlichkeit wiederzubeleben. Die Akteure einer solchen Wiederbelebung beschwört der Vertrag: „Wir stärken unsere Förderung der Zivilgesellschaft und die wichtige Rolle von Gewerkschaften, politischen und privaten Stiftungen und Kirchen, insbesondere in fragilen Kontexten.“
Man muss sich nichts vormachen: Die genannten Institutionen strotzen alle nicht gerade vor Kraft. Fragil ist doch der ganze Kontext der bürgerlichen Gesellschaft, darunter der wichtigste, der der industriellen Beziehungen. Hier kooperieren die Gewerkschaften mit den Unternehmen, wenn letztere nicht das Gefühl haben, es ginge auch ohne Kooperation. Beide wollen die den Strukturwandel begleitende Industriepolitik forciert sehen. Die Unternehmensverbände haben gegen die staatliche Moderation wirtschaftlicher Prozesse ja nichts einzuwenden – solange ihre Interessen moderiert werden. Staatliche Fördergelder nimmt man immer gerne mit. Wasser, Enthaltsamkeit ist die Fastenpredigt für die andere Fraktion und deren Klientel.
Die Koalition verspricht, die Industrien und die dort Beschäftigten beim Strukturwandel massiv zu unterstützen. Die Automobil-, die Grundstoff-, die Luftfahrt- und die maritime Industrie werden genannt. Das Subventionsinstrument wird ein neues sein, von den Unternehmen und den Gewerkschaften gemeinsam begrüßt und von den Grünen aufs Tapet gebracht, sogenannte Differenzverträge (Carbon Contracts for Difference): Der Staat ersetzt den Konzernen die Mehrkosten, die der Einsatz klimafreundlicher Verfahren verursacht.
Mit Differenzverträgen schützt der Staat kapitalistische Konzerne vor der innerkapitalistischen Konkurrenz. Der schärfste Konkurrent kommt aus China. Wenn chinesische Konzerne ihren mit Steinkohle erzeugten Stahl auf den Weltmärkten billig verkaufen können, dann habe die hiesigen Konzerne, die den Werkstoff mit umweltfreundlicher, noch teurer Wasserstoff-Technik produzieren wollen, erst einmal keine Chance. Die Koalition will ihnen diese Chance verschaffen. Thyssen-Krupp zum Beispiel ist ein großer Name für ein ziemlich wackeliges Konglomerat. Und ähnlich wohlklingende Namen mit einem für die Klimabilanz völlig ungeeignetem Geschäftsmodell gibt es bald in allen Branchen.
Erzkapitalisten wollen die planende Hand des Staates
Mehr Staat, mehr Staatsintervention war nie. Solange die zurückliegende Wahl noch erinnerlich ist, bleibt halbwegs präsent, was sich hinter der Abstraktion Staat verbirgt. Die Gesellschaftsmitglieder wählen per Parteienvotum und parlamentarischem Verfahren ihre Interessensinstanz. Sie zahlen Steuern und mit den künftigen Differenzverträgen werden sie die Modernisierung des Kapitalstocks mitfinanzieren. Auch die Grundlagenforschung der Unternehmen finanzieren sie mit. Ein Drittel der für Forschung und Entwicklung ausgegebenen Gelder stammt aus dem Steueraufkommen. Was aber ist mit der Mitbestimmung der Gesellschaft? Die in den Betrieben nach dem Betriebsverfassungsgesetz praktizierte sieht dort keine Mitsprache vor, wo es wahrlich um die Wurst geht. Die gefertigten Produkte, die Auswahl der Fertigungstechnik, die Organisation der Lieferkette, all dies unterliegt dem sogenannten Direktions- und keinem Mitspracherecht. Die Gesellschaft ist gleichsam der stille Teilhaber der Konzerne, denn in den entscheidenden Fragen hat sie still zu sein.
Die Unternehmer haben weitgehende Vorstellungen, wenn es um die künftige Industriepolitik der Bundesregierung geht. Auf einer Handelsblatt-Tagung mit den Automobil-Zulieferern äußert sich der Vorsitzende von Continental so: “Bei Kooperationen in Wertschöpfungsketten und vertikal erwarte ich ganz klar die Rückendeckung der Politik… Wir brauchen eine Plattform für ein resilientes System.“ Die Erzkapitalisten wollen die planende Hand des Staates. Um ihre Lieferketten zu stabilisieren, erwarten sie ein Stück Planwirtschaft. Die Krisensituation veranlasst sie einmal wieder zum Umdenken. Auch der digital operierende Kapitalismus kennt seinen Schweinezyklus. Es sind die gegenwärtig fehlenden Mikrochips, die der Staat rasch herbeischaffen soll.
Plurale Transformationsräte
Die forcierte Industriepolitik wirft eine demokratietheoretische Frage auf: Ist ein alle vier Jahre bestätigtes Mandat einer Regierung ausreichend oder lässt es sich sinnvoll ergänzen, ohne der repräsentativen Demokratie Schaden zuzufügen? Die Gewerkschaften haben das Wort von den Transformationsräten in die politische Debatte gebracht. Wem sich bei dem Begriff Räte alle Nackenhaare stellen, weil ihm die Novemberrevolutionäre anno 1918 vorm inneren Auge erscheinen, sei beruhigt. Die Gewerkschaften reklamieren keine Alleinvertretung. Die Unternehmen, die Verbände, die universitäre und außeruniversitäre Forschung sollen in diesen Räten zu Wort kommen. Glücklicherweise sind die Transformationsräte keine bloße Erfindung der DGB-Grundsatzabteilung. Es sind solche Netzwerke in den Bundesländern Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg bereits installiert. Sie knüpfen an die sogenannten Cluster an, die jedes Bundesland kennt, unabhängig von der Couleur seiner Landesregierung.
Um Wikipedia zu zitieren: Cluster (englisch Traube, Schwarm) sind Netzwerke von Produzenten, Zulieferern, Forschungseinrichtungen, Ingenieurbüros, Handwerkern und verbundenen Institutionen wie Gewerkschaften oder Handelskammern, die in einer regionalen Nähe und in Austauschbeziehung entlang einer Wertschöpfungskette stehen. Das Interesse an den für sie günstigen Standortfaktoren eint diese Institutionen. Dutzende solcher Cluster gibt es in Deutschland: Medizincluster auf der Schwäbischen Alb, Automobilcluster im Stuttgarter Raum und im Saarland, Luft- und Raumfahrtcluster in Bayern und Hamburg, Chemiecluster in Nordrhein-Westfalen, IT-Cluster im saxony valley um Dresden. Diese regionalen Cluster finden ihre Entsprechung auf der nationalen Ebene. Die von der alten Koalition installierten Nationalen Plattformen (Industrie 4.0, Zukunft der Mobilität, Neue Qualität der Arbeit etc.) sind die Pipeline, von der die regionalen Cluster gespeist werden.
Die in den 90er Jahren von den Landesregierungen initiierten industriellen Cluster ließen die Gewerkschaften und die Umweltverbände draußen vor. Die Gewerkschaftsseite drang auch nicht sehr auf Aufnahme. Man sah sich für die chemische oder die Metall- und Elektroindustrie zuständig, nicht für einzelne Branchen wie den Maschinenbau oder die Kunststoff-Fertigung. Erst als die Gewerkschaften die einzelnen Branchen und die Technologiepolitik für sich entdeckten und das SPD-geführte Bundeswirtschaftsministerium auslotete, wie es hinterm neoliberal verhängten Horizont weiter gehen kann, war die regionale und die sie ergänzende nationale Strukturpolitik wieder ein Thema. Gabriel lud zu Branchendialogen nach Berlin ein, und beide Seiten, die Betriebsräte mit den Gewerkschaften und die Unternehmer mit ihren Verbänden, sahen Neuland.
Demokratischer Unterbau für Mehr-Fortschritt-wagen
Dieses Neuland wird mit der Ampelkoalition nicht wieder von der Landkarte verschwinden. Oder sollte man vorsichtiger formulieren? Im Koalitionsvertrag heißt es zumindest: „Wir werden Treiber eines starken Technologiestandorts, der auf europäischen Werten basiert, Talente anzieht sowie Zukunftsfähigkeit und Wohlstand unseres Landes sichert. Investitionen in Künstliche Intelligenz (KI), Quantentechnologien, Cybersicherheit, Distributed-Ledger-Technologie (DLT), Robotik und weitere Zukunftstechnologien stärken wir messbar und setzen Schwerpunkte.“ Wer dies liest, geht sicher nicht fehl, wenn er vermutet, man will ihn auch ein wenig mit Fachbegriffen beeindrucken. Alle aktuellen Reizworte fallen, aber interessant wird es erst, wenn den Worten Taten folgen sollen. Die Cluster und die Räte wären geeignet, um dem Mehr Fortschritt wagen einen demokratischen Unterbau zu verschaffen. Die Cluster sind aus dem Bereich der Arkanpolitik in die Sphäre der öffentlichen Debatte zu rücken. Transformationsräte sind, gemäß der föderalen Struktur und der zerklüfteten Industrielandschaft, sinnvoll auf der Länderebene angesiedelt. Der Bund, die neue Koalition, muss sie mit ihrer Industriepolitik unterstützen.
Damit ist eine Bedingung gesetzt: Die von den Christdemokraten dominierten Landesregierungen sind zur Kooperation bereit. Das Gelingen des Transformationsprozesses ist ihnen wichtiger, als die neue Ampelregierung zum Scheitern zu bringen. Ob die CDU/CSU über ihren Schatten springt? Zuerst das Land, dann die Partei? Phrasen gibt es genug, aber gibt es viel Hoffnung? Mit Blick auf die Bewerber um den Parteivorsitz und den Zustand der Partei kann man nur wenig haben.
Eine Koalition im Interesse der reichen Leute hat zusammengefunden, weiß Die Linke. Die Linkspartei ist glücklicherweise nicht die Linke. Die den Kapitalismus geißelnde Rhetorik verdeckt schiere Blöße. Der Parteilinken fehlt die Phantasie, um die Schritte anzugehen, notwendig, um den gröbsten Raubbau an der Natur zu unterbinden. Lieber wettert sie wie eine aufgezogene Sprechpuppe gegen den Neoliberalismus, weil sie nicht angeben kann, wie es weitergeht, jetzt, wo die Zeit über den Neoliberalismus gerade hinweggeht.
Unter dem Titel „Die neue Straßenverkehrsordnung“ erschien der Beitrag zuerst auf Faustkultur.