Die SPD (und mit ihr weitgehend das politische Spektrum der Linken) war und ist teilweise auch noch heute in den tradierten Vorstellungen ihrer durchaus erfolgreichen Entspannungs- und Friedenspolitik befangen, wie sie vor allem von Willy Brandt und Egon Bahr konzipiert und repräsentiert wurde. Diese Politik hat seit rund drei Jahrzehnten keine realen Grundlagen mehr. Es ist notwendig, sich mit der gesellschaftspolitischen Konstellation in Russland und mit den polit-ökonomischen Bedingungen des Oligarchen-Kapitalismus (Crony Capitalism oder auch Cronyism) auseinander zu setzen. Dazu fünf Thesen.
These 1: Sich ausschließende Deutungen des Kriegsmotivs
Der Überfall Russlands auf die Ukraine wird momentan mit zwei Deutungen erklärt, die sich ausschließen.Die eine lautet: Der Westen ist in letzter Instanz schuld. Er hat Russland über viele Jahre hinweg mit der Erweiterung der NATO auf osteuropäische Gesellschaften eingekreist und hat in zwei Fällen, Georgien und der Ukraine, versucht, frühere Republiken der Sowjetunion zu einer Mitgliedschaft in der NATO zu motivieren; im Fall der Ukraine auch zu einer Mitgliedschaft in der EU. Der Westen hat Russland also militärisch und politisch in die Enge getrieben, aus der sich aktuell Russland gewaltsam zu befreien versucht. Dabei bleibt offen, von wem die Initiative zur Stationierung von NATO-Truppen ausging und ausgeht: von den USA oder von den osteuropäischen Ländern, die vor allem vor dem Hintergrund ihrer historischen Erfahrungen einen wirksamen Schutz vor russischer Gewalt suchen.
Das zweite konkurrierende Narrativ lautet: Russland versucht nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung dieser Union in unabhängige Republiken erneut einen national- oder großrussischen staatlichen Zusammenhang wieder zu errichten. Dieser zielt auf die Wiederherstellung des vorkommunistischen zaristischen Reiches, wie es bis 1917 bestanden hatte und wie es mit der Revolution 1917 und die spätere Sowjetunion und den Warschauer Pakt erweitert wurde. Dieser Zusammenhang ist in dem Jahr 1991 und danach zerfallen und soll nach dem Willen Putins als neue russische Großmacht wieder durchgesetzt werden. Als ideologische Zeugen dieses Narrativs wird auf Alexander Dugin und Iwan A. Iljen, also zwei russische Intellektuelle verwiesen, die Putin beeindrucken und beeinflussen sollen.
These 2: Die Blackbox — das großrussische Reich
Das Problem der SPD besteht darin, dass sie das erste Narrativ kennt, ihm teilweise auch zustimmt. Und dass sie das zweite, konkurrierende Narrativ ganz überwiegend nicht kennt. Die linke Minderheit in der SPD, die dieses Narrativ wenigstens kennt, hält es für ideologische Propaganda einer als werteorientierte Außenpolitik getarnten Strategie der USA. Diese Propaganda sei in Deutschland, so diese linke Lesart, von den Grünen unkritisch übernommen worden, dürfe nicht ernst-, geschweige denn übernommen werden.
Eine solche Haltung werfe ich der SPD nicht einmal vor. Schließlich handelt sie nicht als zeithistorische Forschungsinstitution oder als außenpolitischer Thinktank. Vielmehr bewegt sie sich als Partei in einer außenpolitischen Tradition, die auf Normen und auf den Erfahrungen der Ost- und Entspannungspolitik von Willy Brandt, Egon Bahr und anderen basiert. Jedoch: Diese Zeit und die dieser Zeit eigenen geopolitischen und polit-ökonomischen Konstellationen sind bereits kurz nach 1990 abgelaufen, es gibt seither neue Entwicklungen, die Lage ist bereits seit vielen Jahren eine grundsätzlich andere. Trotzdem ist diese Konzeption in der SPD unverändert lebendig, weil das Gedächtnis (in diesem Fall) der SPD langlebiger ist als die historischen Fakten, die diesen ideologischen Überbau geschaffen haben.
These 3: Der qualitativ andere Russland-Komplex der SPD
Die normativ begründete Einstellung der SPD zu Versöhnung und Frieden zwischen den Gesellschaften ist nicht in Frage zu stellen, sie ist ethisch gerechtfertigt. Unentbehrlich ist es allerdings, normative Begründungen immer wieder zu überprüfen: Sind sie dem Gegenstand, auf den sie sich beziehen, noch angemessen oder nicht? Hier muss die SPD selbstkritisch feststellen, dass sie die Entwicklung, die sich aus dem Zerfall der Sowjetunion nach 1990 ergab, bis heute nicht ausreichend qualifiziert analysiert hat. Es sind nach dem Zerfall der Sowjetunion eine Reihe von neuen, zunächst hybriden Gesellschaften (mit alten sozialen Elementen und einer sich durchsetzenden kapitalistischen Marktökonomie) in Osteuropa und auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion entstanden. Sie sind heute allesamt aus ökonomischer Sicht als im Kern kapitalistische Gesellschaften zu charakterisieren, mit oft verschiedenen politischen Ausprägungen, jedoch nie mit ausreichender demokratischer Legitimation versehen.
Diese Gesellschaften haben mit der früheren Sowjetunion nur noch wenig gemein. Das gilt besonders für deren neue politischen und ökonomischen Eliten. Die entscheidende Folge daraus: Es verbietet sich, für die Politik mit diesen neuen Gesellschaften ungeprüft auf Rückschlüsse und Erfahrungen aus der Entspannungspolitik mit der Sowjetunion zurückzugreifen.
Auch Hinweise auf einen „Russland-Komplex“1 mancher Deutscher führen hier nicht weiter, weil diese in eine Vergangenheit vor 1945 zurückführen, die heute sowieso nicht mehr wirkmächtig ist und die die Denkweisen der SPD auch in dieser früheren Zeit nicht bestimmt hat. Die SPD hat vielmehr einen neuen, qualitativ anderen Russland-Komplex geschaffen. Das für die SPD prägende Narrativ basiert auf der Versöhnungs- und Friedenpolitik der SPD nach 1969.
These 4: Das Denken in überholten Narrativen
Dieses Narrativ ist heute überholt, weil die geopolitischen, aber auch die ideologischen Bedingungen sich nach 1990 grundlegend verändert haben. Teile der SPD denken noch in Bewusstseinsformen, denen die materiellen Voraussetzungen abhandengekommen sind. Das war der sowjetische Staatskapitalismus, auch als realer Sozialismus bezeichnet, der sich jedoch nach 1989/90 in kurzer Zeit aufgelöst hatte. Das ihm nachfolgende Russland folgt anderen ideologischen Orientierungen als der früheren Staatsideologie des Leninismus, in der von Stalin verzerrten Interpretation.2 Inwieweit Stalins Herrschaft im neuen Russland noch positiv bewertet wird, muss hier offenbleiben. Aber insgesamt werden der Leninismus und die daraus resultierende staatskapitalistische Ideologie von den neuen Eliten abgelehnt. An seine Stelle ist die Orientierung an vorkommunistische, offen antidemokratische und nationalistische Philosophen wie Iwan A. Iljen getreten, den der US-Historiker Timothy Snyder für einen Faschisten hält 3.
Aktuell (und bereits seit einigen Jahren) wird auch auf den Politikwissenschaftler Alexander Dugin und seine Utopie eines neuen Eurasiens verwiesen. Aus dieser ideologischen Neuorientierung resultiert dann ein großrussischer Nationalismus, der nach außen gerichtet ist und auf die Durchsetzung eines russischen Großreiches in den Grenzen des Zarenreichs bis 1917 zielt. Diese Feststellung ist eine These, die sich unter anderem auf die Argumente von Snyder stützt. Sie müsste ausführlicher belegt und differenzierter begründet werden. Sie wird unter anderem bestätigt und konkretisiert von dem in Kiew lehrenden Politikwissenschaftler Andreas Umland.4
These 5: Das neue Andere zu spät erkannt
In Teilen der SPD wird Russland noch in einer geopolitischen Defensive gesehen. Die offensive Rolle in diesem Konflikt wird der NATO zugeschrieben. Diese Sicht ist durch Putins Angriffskrieg faktisch falsifiziert, mindestens stark eingeschränkt worden. Hätte Russland einen besseren Schutz gegen die Stationierung von NATO-Truppen angestrebt, so wäre dies Gegenstand von Verhandlungen gewesen. Diese wurden aber, so sieht es heute aus, ernsthaft von Russland nicht angestrebt, weil von Russland Bedingungen gesetzt wurden, die einem Diktat glichen. Es gibt daher einige Anzeichen, dass die Stationierung von Truppen an den Grenzen der Ukraine keine auf mögliche Verhandlungen zielende Drohkulisse war, sondern in der Tat auf die Vorbereitung eines Angriffs auf die Ukraine zielte. Dass die SPD diese Intention nicht als solche erkannte, liegt daran, dass sie noch in den tradierten Vorstellungen ihrer durchaus erfolgreichen Entspannungs- und Friedenspolitik befangen war und das teilweise auch noch ist.
Das unterstreicht die Notwendigkeit, dass sich nicht nur die SPD, sondern die politische Linke insgesamt, intensiv mit der gesellschaftspolitischen Konstellation in Russland, aber auch mit den polit-ökonomischen Bedingungen des Oligarchen-Kapitalismus (Crony Capitalism) vor allem in Russland, aber auch in Belarus und in der Ukraine auseinandersetzt. „Seit der Auflösung der Sowjetunion ist das Interesse kritischer Wissenschaften an den vormals staatssozialistischen Ländern stark zurückgegangen.“ Diese kritischen Wissenschaften hatten sich in erster Linie auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem westlichen Neoliberalismus konzentriert, bilanzierte Stefan Jaitner 2014.5 Dem ist aktuell leider nichts hinzuzufügen.
1 Gerd Koenen, Der Russland-Komplex: Die Deutschen und der Osten 1900-1945, München 2005 2 Dass Lenins Interpretation der Marxschen Theorie an zentralen Stellen widerspricht, ist in der Marx-Renaissance der späten 1960-er Jahre gezeigt worden. Dazu: Projekt Klassenanalyse, Leninismus – neue Stufe des wissenschaftlichen Sozialismus? Westberlin 1972 3 Timothy Snyder, Der Weg in die Unfreiheit, München 2019 4 Andreas Umland, Das eurasische Reich Dugins und Putins, in: www:kritiknetz.de (2014) 5 Stefan Jaitner, Einführung des Kapitalismus in Russland, Hamburg 2014
Herrlich das Bild mit Ibrahim Böhme. Das war ein Schurke! Das Bild ist denn ja wohl auch noch zu einem Zeitpunkt erschienen, an dem Bahr und Brandt nichts von seiner hidden agenda wussten. Mit dieser Naivität ist die SPD einfach weitergetorkelt.
Sorry, aber selten habe ich so viel inhaltlichen Dünnsch…. in wohlformulierten Sätzen lesen müssen. In seiner bornierten Überheblichkeit hat Wendel dann auch noch vergessen wenigstens in Ansätzen ein paar Schlussfolgerungen anzudeuten. Sieht man einmal davon ab, dass er meint ( hier kann man durchaus zustimmen) lange vertretene Positionen und politische Grundfesten immer zu überprüfen oder zu hinterfragen, kommt außer Sprechblasen nichts – rein gar nichts. Leider nur zerbröselnde Bruchstücke…. Will damit sagen: Für mich lohnt es sich nicht, mich mit den „Thesen“ näher auseinanderzusetzen!
@ Ulf Imiela. Wir freuen uns über kritische Kommentare, wir wünschen sie uns. Aber in diesem Fall ist es mir sehr schwer gefallen, „freischalten“ anzuklicken, weil ich kein einziges Argument, sondern nur Beschimpfungen lese. Also: kein Sorry, bitte anders.
Das ist keine Kritik, sondern nur inhaltsloses Geschimpfe. Die SPD ist noch nicht soweit, Schlussfolgerungen aus einer neuen und realistischen Analyse der russischen Politik zu ziehen. Welche daraus gezogen werden, ist Resultat eines Diskussionsprozesses. Ich bin von solchen Reaktionen nicht überrascht, sie zeigen die in diesem Fall etwas aggressive Ratlosigkeit der tradierten Sichtweisen, die jetzt den Verkünder der Nachricht beschimpfen, weil ihnen die Nachricht, die sie kritisieren sollten, nicht passt.
Ich möchte zu drei Aspekten von M. Wendls Thesen Anmerkungen machen:
Voll und ganz stimme ich seiner Bemerkung zu der „Notwendigkeit“ zu , „dass sich … die politische Linke insgesamt, intensiv mit der gesellschaftspolitischen Konstellation in Russland, aber auch mit den polit-ökonomischen Bedingungen des Oligarchen-Kapitalismus (Crony Capitalism) vor allem in Russland, aber auch in Belarus und in der Ukraine auseinandersetzt.“
(Hier wäre evtl. zu ergänzen, dass Ähnliches auch für die anderen früheren Sowjetrepubliken gilt.)
Leider (!) muss ich nach meinem Kenntnisstand M. Wendl auch insofern Recht geben, dass heute (! – dazu gleich mehr) nationalistische und Großmacht-Ambitionen für die Politik der führenden Kreise Russlands bestimmend sind.
Allerdings – und hier beginnt mein Widerspruch – scheint mir die 1. These etwas zu holzschnittartig geraten, weil sie zwei „Narrative“ als unvereinbar einander gegenüberstellt, die ja vielleicht in gewisser Hinsicht einander ergänzen können:
Wenn mensch die heutigen demagogischen Äußerungen Putins für bare Münze nimmt, sollte dann nicht zumindest in Erwägung gezogen werden, ob frühere anders lautende Äußerungen vielleicht auch ernst zu nehmen wären? Dabei meine ich „natürlich“ u.a. die Rede 2001 vor dem Bundestag.
Mir scheint es so zu sein, dass in der russischen Führung zwei oder auch drei „Narrative“ existier(t)en:
– der geschichtlich nicht eben irreale Hinweis, dass in den vergangenen gut 200 Jahren Russland mehrmals existienziell (!) bedroht war – und zwar jedesmall vorrangig von Westen her (Napoleon (da brannte Moskau!), 1. Weltkrieg, Interventionskriege, 2. Weltkrieg),
– die fortwährende Vorstellung eines „Gemeinsamen Hauses Europa“, die zwar m.W. von Gorgatschow geprägt, aber von Putin zu Beginn seiner Amtszeit aufgegriffen wurde und
– tatsächlich die nationalistische/großrussische Tradition.
Aus meiner Sicht spricht vieles dafür, dass für die russische Führung – ganz unabhängig von der Beurteilung der innerpolitischen Situation – die zweite Variante die günstigste gewesen wäre – und Putins Rede von 2001 insofern durchaus ernst zu nehmen ist.
Allerdings ist darauf vom „Westen“ tatsächlich nicht konstruktiv eingegangen worden.
Wenn ich das so schreibe, heißt das nicht, die Anteile Russlands an der erneuten Konfrontation zu leugnen. Mir geht es ja gerade darum, dass „Entweder – Oder“, das M. Wendl in der Gegenüberstellung der beiden „Narrative“ in These 1 konstruiert, aufzulösen.
Ich stimme Bernhard Pfitzner zu, dass sich die in These 1 skizzierten Deutungen nicht ausschließen müssen. Es kann eine Mitverantwortung der NATO für die gegenwärtige Blockade zwischen Russland und dem Westen geben. Es kann auch eine Mitverantwortung des Westens für die Restauration des Kapitalismus in Russland nach 1989/90 geben. Das ist theoretisch denkbar, aber noch nicht solide erforscht. Keine Mitverantwortung des Westens gibt es aber einmal dafür, dass sich die sog. Oligarchen die russischen Staatsunternehmen unter den Nagel gerissen haben und zweitens der KGB dabei eine wesentliche Rolle gespielt hat. Russland ist deshalb nicht nur Opfer, sondern auch Täter, (gewalttätiger) Akteur des historischen Prozesses – und das ist die freie Entscheidung von Putin & Co. Das Problem des Westens und der Linken ist, dass sie die Entwicklung eines autoritären russischen Staates zu wenig kritisch gesehen haben – aus durchaus verschiedenen Gründen- als Lieferant billiger Energie oder aus naiver Sympathie mit einem vermeintlich in die Enge getriebenen Land. Offen versagt hat der deutsche Marxismus, der nicht in der Lage war, eine materialistische Entwicklung des russischen Gesellschaftssystems zu versuchen.
Zunächst wieder zwei Aspekte, in denen ich Michael Wendl zustimme:
– Den einen hatte ich bereits genannt: die Kritik an der völlig ungenügenden Analyse der russischen Entwicklung in breiten Kreisen der Linken. (Ich schließe mich persönlich da ausdrücklich ein.)
– Und auch der Aussage: „Russland ist deshalb nicht nur Opfer, sondern auch Täter, (gewalttätiger) Akteur des historischen Prozesses“, muss ich mich (leider!) uneingeschränkt anschließen.
Mein weiterhin bestehender Widerspruch setzt da ein, wo M. Wendl m.E. die Erkenntnisse des von ihm selbst (in meinen Augen: zu Recht) sehr positiv bewerteten Buchs von Stefan Jaitner „übersieht“: Ich lese aus diesem Buch jedenfalls eine ganz erhebliche „Mitverantwortung des Westens für die Restauration des Kapitalismus in Russland nach 1989/90“ heraus.
(Eine eventuelle „Mitverantwortung der NATO für die gegenwärtige Blockade zwischen Russland und dem Westen“ ist nicht oder kaum Gegenstand des Buchs, dazu hatte ich bereits in meinem vorigen Beitrag argumentiert.)
Das entschuldigt – wie bereits in meinem vorigen Beitrag angesprochen – nicht die Aktionen der russischen Führung (leider ja nicht nur Putins!), lässt aber doch Einiges in der heutigen „westlichen“ Rhetorik in etwas anderem Licht erscheinen.
PS.: Die print-Version des Buchs von Jaitner ist vergriffen, es ist aber vollständig online verfügbar:
https://www.vsa-verlag.de/uploads/media/VSA_Jaitner_Einfuehrung_des_Kapitalismus_in_Russland.pdf