Gäbe es eine Gesellschaftstheorie, die ihren Gegenstand als Totalität erfassen wollte, die Analytik des Eigentums stünde in ihrem Zentrum. Eine solche Theorie gibt es nicht, nicht einmal mehr im schmerzlichen Bewusstsein ihres Fehlens. Wer heute Soziologie studiert, muss seine Module nach dem Cappuccino-Prinzip komponieren: Viel statistisch-mathematische Formel, plus Rational Choice, plus vielleicht ein bisschen Wirtschaftspsychologie als Milchschaum-Häubchen. Würde er seinen Dozenten nach einer Kritik der politischen Ökonomie fragen, würde der ihn ratlos anschauen. Kritik der was? Was hat Ökonomie, was hat Eigentums- mit Gesellschaftstheorie zu tun?
Jürgen Leibiger hat ein anachronistisches Buch vorgelegt, und der Anachronismus ist ein Löcken wider den Stachel. Sozialwissenschaften werden im Hochschulbetrieb gerade noch geduldet, soweit sie sich einem unbegriffenen Gesellschaftssystem verschreiben, dem sie optimierende Dienstleistung bieten müssen. Damit kann der Autor nicht dienen, und dass er einen Verlag gefunden hat, der seine Monographie des Eigentums verlegt, grenzt an ein Wunder. Kritik des Privateigentums hat allemal zu unterbleiben, das gehört zum wissenschaftlichen Common Sense.
Ein weitgehend unbekannter Theoretiker namens Marx
Diese zum guten Ton gehörende Übereinkunft der traditionellen Theoriebildung sieht absichtsvoll über ein wesentliches Faktum hinweg. Die Dynamik der Naturzerstörung ist von der Dynamik privatkapitalistischer Eigentumsverhältnisse nicht zu trennen. Der in ihrem Rahmen organisierte technologische Fortschritt gleicht „jenem scheußlichen heidnischen Götzen…, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte.“ Leibiger zitiert einen weitgehend unbekannten Theoretiker namens Marx, den man der Friday for Future-Jugend zum Studium anraten sollte. Genau das müsse unterbleiben, wolle FFF nicht im linken Sektierertum landen, warnt die Zeitschrift der aufgeklärten Mittelstandseltern, Die Zeit. Papa und Mama drohen sonst, die Mitarbeit bei der Beschriftung der Transparente einzustellen.
Leibigers Buch liefert eine umfassende Theorie, wobei sein Gegenstand die deutschen ökonomischen Verhältnisse sind. Die werden durchleuchtet, was ihre Geschichte und was die gegenwärtige Ausprägung unterschiedlicher Eigentumsformen angeht. Auch lassen sich andere denken, schreibt der Autor, und spätestens hier verlässt er die Komfortzone des wissenschaftlich Erlaubten. Der Begriff der Kritik hatte einmal den Ruf der großen deutschen Philosophie begründet; heutzutage gilt sie als Nörgelei von nicht ganz Mitgekommenen, jedenfalls soweit sie sich nicht am fehlenden Gendern entzündet.
Kritik war das Geschäft der Aufklärung, und die Entzauberung der Natur war ihr Telos. Die Gegenwartsphilosophien bleiben diesem Telos treu. Sie gehen von einem – von Kant bestrittenen – Axiom aus: Die Natur ist wesenlos und die zu ihrer Bearbeitung abgestellten Individuen sind es ebenfalls. Sie haben als ihrer Substanz beraubte, entkernte Monaden zu gelten, und als solche sind sie das passende Beiprodukt einer auf Privateigentum an Produktionsmitteln gegründeten Herrschaft. Diese Formation der Herrschaft hatte, um sich herauszubilden, den protestantischen Geist als Triebkraft nötig und eine zweckrationale Version von Vernunft, die jede Berufung auf wesenhafte Rechte für Metaphysik erklärte. An der Verabschiedung der Metaphysik halten die zeitgenössischen Philosophien fest, auch wenn sie sich im Gegensatz zu den herrschenden Verhältnissen wähnen.
Mit dem Grenznutzen des Wassers spekulieren
In diesen Verhältnissen kann alles zum Privateigentum werden, so das Geschäftsprinzip, und ließe sich die Luft privatisieren, gäbe es längst die für diesen Naturstoff passenden Investmentfonds. Für Wasser gibt es solche; Trinkwasser ist ja in großen Teilen der Erde ein knappes Gut. Was liegt also näher, als mit dem Grenznutzen dieses Guts zum eigenen Nutzen und Frommen zu spekulieren? Den Geschäftsleuten und ihren höheren Angestellten wird solche Spekulation auf den Billboards der großen Flughäfen nahegebracht.
Jürgen Leibiger stellt ganz kindlich klingende Fragen:
- Was ist Eigentum?
- warum gehört jemandem etwas?
- könnte es eine Welt ohne Privateigentum geben?
- ist Eigentum am Häuschen mit Garten identisch mit dem Eigentum eines Konzerns, dem die ganze Welt als Hinterhof gilt?
- setzt individuelle Freiheit Privateigentum voraus und wenn ja, reicht es nicht, wenn ein Ich der Eigentümer seiner Arbeitskraft ist?
- geht als okay durch, wenn 40 Leute so viel an Vermögen angehäuft haben wie bald vier Milliarden Menschen?
Die kindlichen Fragen sind natürlich hintersinnig gestellt, es ist gleichsam ein sokratisches Fragen, womit der Schreiber des Buchs seine Leser behelligt. Warum solche Hebammenkunst außer Gebrauch gekommen ist, versteht man sofort. Wer so vorgeht, will den Zusammenhang von Eigentum, Macht und Herrschaft beleuchten. In den Spiegel schaut eine Gesellschaft aber nicht gerne, die ziemlich alt aussieht, wenn sie ihre propagierten politischen Ideale (die sogenannten Werte) mit der schmutzigen ökonomischen Realität abgleicht.
Verweigerung der radikalen Geste
Bei aller scheinbar naiven Dialektik, Leibigers Buch ist keine Fibel für Anfänger. Er mutet ganze Berge von Theorie zu. Es sind die Klassiker der politischen Ökonomie plus ihre Kritiker, die er kenntnisreich vorstellt. Man macht dabei erstaunliche Erfahrungen: Der als Reformist verschriene Eduard Bernstein hat einem plötzlich mehr zu sagen, als der viel geschliffenere, einmal hoch im Kurs stehende Karl Korsch. Reformismus war ja ein Schimpfwort, als es noch eine Neue Linke gab, lang ist’s her. Das Pejorativ verdankte sich einem abstrakten Radikalismus. Adorno, der Schüler- und Studentenbewegung zur Seite stehend, machte darauf aufmerksam: „Es wäre eine schlechte und eine idealistische Abstraktheit, wenn man um der Struktur des Ganzen willen die Möglichkeit von Verbesserungen im Rahmen der bestehenden Verhältnisse bagatellisieren oder gar… negativ akzentuieren würde… Also ich würde denken, in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Realität sollte man…mit dem Vorwurf des sogenannten Reformismus sehr viel sparsamer umgehen, als das im vorigen Jahrhundert und zu Anfang dieses Jahrhunderts vielleicht noch möglich war.“
Diese Verweigerung der radikalen Geste macht sich der Autor zu eigen. Er bestätigt keine vorgefertigten Meinungen. Er hat ein gelehrtes Buch geschrieben, das nie langweilig wird, weil es frei ist von der Konnotation, die dieses Adjektiv mit sich führt. Man erfährt so allerhand. Dem Aristoteles galt der Sklave als sprechendes Werkzeug; das lateinische dominum meinte beides, das Eigentum und die Herrschaft. Warum kann das entstehende bürgerliche Recht das viel ältere römische beerben? Im Exkurs über Rechtsgeschichte erfährt man’s.
Der Formalismus des positivistisch verstandenen Rechts klammert aus, was die deutsche idealistische Philosophie unter Sittlichkeit verstand: Was gelten soll, kann es nicht begründen. Eigentumsrechte an Pflanzen, Tieren, dem menschlichen Genom sind rechtens, falls entsprechende Patente vorliegen. Das legale Verfahren liefert die Rechtmäßigkeit der Begründung. Wenn als Natur nur die Seite des Objektes gilt, die dem wissenschaftlichen Zugriff zugänglich ist, dann ist das Reden von der unverfügbaren Natur idealistisches Geschwätz. Mit Wissenschaftlichkeit, mit Szientismus lassen sich aber keine moralischen Fragen beantworten.
Wem gehört das Wissen um den genetischen Code von Getreide?
Die Biotechnologie stellt die Gesellschaft vor eine radikal neue Situation, weil sie die Naturwüchsigkeit des menschlichen Organismus mit Hilfe der Gen-Schere abgeschafft hat. Eingriffe in die Keimbahn menschlicher Embryos sind nun möglich. Soll der Gesetzgeber sie erlauben? Moralische Kategorien wären von Nöten, aber woher nehmen und nicht stehlen? Kann der Dialog von Philosophie und Theologie dazu beitragen, solche Kategorien zu begründen? Ein nach Selbstauskunft methodischer Atheist wie Jürgen Habermas hat diese Frage neulich wieder aufgeworfen.
Life Science Patente im Bereich der Pharmazie, Medizin und Biotechnologie sind der am schnellsten wachsende Bereich bei der Patentanmeldung, erfährt man in diesem Buch. Dem Kapital ist die Natur nur Material seiner Verwertung und der dabei abfallende Gebrauchswert ist die ausgeworfene Angel, die dem Einholen der Beute dient. Vier Großkonzerne (darunter die BASF) halten 70 Prozent des weltweiten Saatgutmarktes und die 200 Staaten der Welt müssen sich dies gefallen lassen. Die Kleinbauern der Schwellenländer können sich das Saatgut der ertragreichen Sorten gar nicht leisten. Das Wissen um den genetischen Code von Getreide, existentiell für die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung, gehört dem CEO von BASF und seinen Aktionären. Der effiziente Impfstoffe ist mit Patenten geschützt, während die nordkoreanische Gesellschaft ungeschützt in der Pandemie versinkt.
Leibiger schreibt auch über das Eigentumsverhältnis bei geistigen Gütern, die immer noch so altfränkisch heißen, während es sich doch vor allem um digitale Programme handelt. Auf ein immaterielles Gut die besitzergreifende Hand zu legen, ist schwieriger als bei einem handfesten Ding. Aber es ist unabdingbar; in der Software einer industriell verfertigten Ware steckt der größte Batzen des Tauschwerts. Industriearbeit ist in großen Teilen ein Schreiben von Codes in der Zahlenfolge von 0 und 1.
Marx würde sein Proletariat nicht wieder erkennen
Der da Programme schreibt, ist das ein Arbeiter, gar ein Proletarier, wie er Engels und Marx vor Augen stand? Ein heutiger IT-Fachmann hat wahrlich mehr zu verlieren als seine Ketten. Das Recht auf die von ihm geschriebene Software gehört aber nicht dazu. Denn auf dieses Eigentum hat er mit dem Verkauf seiner Arbeitskraft Verzicht geleistet; dies unterscheidet ihn nicht von den alten Industriearbeitern.
Marx würde sein Proletariat nicht wieder erkennen. Von Wissensarbeitern hätte er vermutlich nicht gesprochen; gegen Kauderwelsch war er allergisch. Die Taylorisierung geistiger Arbeit war wohl schon im ausgehenden 19. Jahrhundert zu erahnen. Die Schicht der Angestellten hat sich gemausert, ohne sich aus der Klasse der Lohnabhängigen zu verabschieden. Leibiger schreibt nicht als Dogmatiker, der glaubt, alles sei beim Alten geblieben. Ein heutiger Angestellter verfügt über Eigentumsrechte, von denen das alte Proletariat nur hätte träumen können. In seinem Berufsleben erwirbt er Anrechte auf Leistungen aus der Sozialversicherung, er hat Rechte aus der Betriebsverfassung, der Arbeitsgesetzgebung, den Tarifverträgen.
Eine wachsender Anteil der Angestellten hält gar Aktien; auch dies ein im Buch verhandelter Gegenstand. Vom Volkskapitalismus hat man früher einmal gesprochen. Das Ende der Klassengesellschaft sollte eingeläutet sein. Der Autor hört da keine Glocken läuten. In Analogie zum von Marx so genannten Kaiser-Sozialismus könnte man vom Angestellten-Sozialismus reden. Als im Zweiten Kaiserreich des Louis Bonaparte der Crédit Mobilier und das Motto Bereichert Euch das Licht der Welt erblickten, hat der zum Spott neigende Erfinder des Marxismus vom Kaiser-Sozialismus gesprochen. Die schöne Anekdote ist dem Buch zu entnehmen.
Der Kleinaktionär bleibt zu Hause
Die Aktionärsversammlung ist nicht der Ort, wo der zum Angestellten geadelte Arbeiter seinen demokratisch-politischen noch ökonomische Mitspracherechte hinzufügen könnte. Dort findet kein Plebiszit statt. Der Kleinaktionär bleibt zu Hause, und die institutionellen Anleger bestimmen die Musik der Versammlung. Er firmiert formal unter Eigentümer, aber von der wirklichen Verfügung über das Kapital ist er ausgeschlossen. Aktien können verliehen und beliehen werden; neue Eigentumsobjekte sind entstanden und die ihnen entsprechenden Eigentumsdelikte, zu deren bevorzugten Opfern die Aktien-Amateure gehören. Die Demokratisierung des Kapitaleigentums ist ein Schein, auch wenn Aktienbesitz zur Angestelltenkultur bald unverzichtbar dazu gehört.
Der Kritik der bestehenden Eigentumsverhältnisse kommt wenig entgegen. Die Wirklichkeit drängt eher zu den Aktienfonds als zu der Idee, die Aktiengesellschaft als Vorstufe einer Produktionsweise assoziierter Individuen zu begreifen. Resignation also, politische Praxis als auf unabsehbare Zeit vertagt ausgeben; bloß noch Bücher schreiben (und rezensieren) als Rumpfform kritischer Tätigkeit? Jürgen Leibiger reicht das nicht. Er erweist sich als Dialektiker in eigener Sache. Er hat Ideen, wie veränderte Eigentumsformen aussehen könnten, aber solche Ideen kommen nur dem, der moralisch das Zeug hat, die Defizite des den Globus umspannenden Systems zu erkennen. Die Anderen schrecken schon bei dem Wort System zurück, und geben die Ideologiekritik für pure Ideologie aus.
Der Staat ist nicht bloß der ideelle Gesamtkapitalist, für den ihn eine eingefrorene Dogmatik ausgibt. Ihm kommen hoheitliche Aufgaben zu, die zu privatisieren das Gros der Bevölkerung mutmaßlich ablehnt. Seine Finanzhoheit gehört dazu, auch wenn der organisierte Finanzmarkt-Kapitalismus seine Bitcoins unbedingt in Umlauf bringen will. Die staatliche Politik beim Einnehmen und Ausgeben der Steuermittel steht im Mittelpunkt des von Leibiger favorisierten Reformismus. Vermögens-, Erbschafts-, Finanztransaktionssteuer, was dem Herrn Lindner und seiner FDP die Pickel ins Angesicht treibt und Rot-Grün sich nicht durchzusetzen traut, will Leibiger angegangen wissen. Die Grünen und die Sozialdemokraten müssten sich damit nicht wirklich überfordert fühlen.
Den heutigen Parteien wäre vermutlich mehr Treue zu ihrem Programm eigen, gäbe es eine verlässliche soziale Bewegung der sich als lohnabhängig Verstehenden. Die Industriegewerkschaften bekommen es nicht hin, die Angestellten an sich zu binden. Solidarität ist eine knappe Ressource, an deren Verknappung die Kulturindustrie verlässlich arbeitet. Dieser Industriezweig lebt von der Wirklichkeit gewordenen Idee, die Individuen seien, wie die Objekte der äußeren Natur, bloße Singularität, der nichts Wesenhaftes eigne. Der Gedanke der Solidarität lebt aber vom Gedanken an dieses Übergreifende. Den vereinzelten Individuen fällt es unsagbar schwer, den Gedanken der Solidarität zu fassen; Karl Heinz Haag hat diesen Zusammenhang analysiert. Was bleibt, sind Theoretiker und politisch Handelnde, die diesem Gedanken die Treue halten, auch wenn solche Intransigenz als schiere Donquijoterie erscheint.
Leibigers Buch endet mit keinem Hurra auf ein unüberwindliches Proletariat, sondern mit dem Melancholiker Hamlet: „Dass wir die Übel, die wir haben, lieber ertragen, als zu uns unbekannten fliehen. So macht Bewusstsein Feige aus uns Allen.“
Unter dem Titel „So macht Bewusstsein Feige aus uns Allen“ erschien die Rezension zuerst auf Glanz & Elend
Siehe auch Jürgen Leibiger: Die Eigentumsfrage im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts