Er ist Russe und arbeitet als Gewerkschafter in Genf. Nach dem Ende der Sowjetunion beteiligte sich Kirill Buketow (52) am Aufbau unabhängiger Gewerkschaften in Russland. Da war Aufbruchsstimmung und Hoffnung. Doch jetzt sagt er: «Alle zivilisatorischen Errungenschaften brechen zusammen.»
Jonas Komposch, Redakteur der Gewerkschaftszeitung work, sprach mit ihm. Das Interview erschien am 14. April in work, der Zeitung der (größten) Schweizer Gewerkschaft Unia.
work: Kirill Buketow, Sie gehören zu jenem Teil Russlands, der sich aktiv gegen den Krieg stellt. Wie ist das für Sie, wenn der ukrainische Botschafter in Deutschland sagt: «Alle Russen sind jetzt unsere Feinde»?
Kirill Buketow: Das tut weh. Heute spüren alle Russinnen und Russen, dass unsere ganze Kultur und all unsere zivilisatorischen Errungenschaften zusammenbrechen. Alles fällt auseinander. Wegen Putins Aggression! Es ist schrecklich, dabei zuschauen zu müssen. Doch ich verstehe die Wut der Ukrainer gut. Und trotzdem: diesen Krieg werden wir nur gemeinsam stoppen.
Sie sind ursprünglich ja Geschichtslehrer. Wie erklären Sie diesen Krieg?
Kirill Buketow: Er ist eine typische Reaktion eines zerfallenden Kolonialreichs. Jedes Imperium antwortet mit Gewalt, wenn seine Kolonien nach Freiheit streben. Nehmen Sie Frankreichs Algerienkrieg. Oder Grossbritanniens Krieg gegen die indische Unabhängigkeitsbewegung – beides gewaltvolle Antworten auf den Ruf nach Selbstbestimmung. Und leider war es auch immer so, dass die imperialistischen Kriege in der Bevölkerung der Kolonialreiche zunächst auf grosse Unterstützung stiessen. «Der Krieg ist eine typische Reaktion eines zerfallenden Kolonialreichs.»
Also haben Sie mit einem Krieg gerechnet?
Kirill Buketow: Nein, dieses Szenario erschien mir schlicht zu furchtbar. Kaum jemand sah das kommen. Einer jedoch sagte den Krieg schon 2014 voraus: Boris Nemzow, der russische Oppositionspolitiker und Anführer der Friedensdemonstrationen von 2014. Damals protestierten in Russland Millionen gegen die Annexion der Krim und die verdeckte Intervention im Donbass. Die Strassen waren voller Ukraine-Fahnen. Dann erschossen sie Nemzow. Es folgten Giftanschläge auf Oppositionelle, Nichtregierungsorganisationen wurden als «ausländische Agenten» verfolgt, unabhängige Medien drangsaliert, Systemkritiker ins Exil getrieben, politische Gefangene gefoltert. Zuletzt hat der Staat sogar die weltweit renommierte Menschenrechtsorganisation Memorial geschlossen. Zwei Wochen später folgte die Invasion der Ukraine.
Kirill Buketow (52) ist Sekretär der Internationalen Gewerkschaft der Nahrungsmittelarbeiter (IUF) und seit 2008 in ihrem Genfer Büro tätig. Zuvor zog der gebürtige Moskauer jahrelang durch die Länder der ehemaligen UdSSR und verankerte die Gewerkschaft in den dortigen Tabak-, Fischerei- und Lebensmittelindustrien. Bereits in der Endphase der Sowjetunion beteiligte sich der damalige Maurer und Fabrikarbeiter am Aufbau unabhängiger Gewerkschaften. Nach einem Geschichts-, Rechts- und Philosophiestudium an der Pädagogischen Staatlichen Universität Moskau wirkte Buketow drei Jahre lang als Vize-Chefredaktor von «Solidarnost», der Zeitung des russischen Gewerkschaftsbunds FNPR.
Was wir nicht verstehen: Warum unterstützt der große russische Gewerkschaftsbund FNPR den Angriff auf die Ukraine?
Kirill Buketow: Weil der Verband ein integraler Teil von Putins Imperialprojekt ist! Sämtliche Massenveranstaltungen, die der Kreml für seine Propaganda braucht, werden vom FNPR organisiert. Manchmal hilft noch die Regierungspartei «Einiges Russland», in der heute alle FNPR-Spitzen Mitglied sind. Für solche Dienstleistungen bedankte sich Putin schon 2012 mit einem Besuch der Moskauer Gewerkschaftsparade zum 1. Mai.
Aber vom Krieg haben die Gewerkschaften doch nichts!
Kirill Buketow: Natürlich nicht, die arbeitende Bevölkerung Russlands leidet bereits jetzt unter den wirtschaftlichen Folgen. Und es wird noch viel schlimmer werden.
Also ist der FNPR korrumpiert?
Kirill Buketow: Ja, und zwar schon seit 2008. Damals streikten die Arbeiterinnen und Arbeiter der Ford-Fabriken bei St. Petersburg. Es war die erste große Streikbewegung für Lohnerhöhungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991. Und sie hatte Erfolg! Deshalb begann die Zeit der Repression. Der Staat wollte die Gewerkschaften wieder unter seine Kontrolle bringen. Es gab Attentate auf Streikführer, die Geheimdienste machten sich an die Gewerkschaften heran, und FNPR-Chef Michael Schmakow ging einen Deal ein: Seine Funktionäre sollten Streiks fortan möglichst verhindern. Im Gegenzug erhielten sie wohl erleichterten Zugang zu den Werkplätzen, um Mitglieder anzuwerben. Aber der FNPR ist nicht einfach nur gekauft. Schmakow und andere sind persönlich fest davon überzeugt, dass der Krieg gegen die Ukraine gerecht sei.
Warum sind Sie sich da so sicher?
Kirill Buketow: Schmakows Äusserungen sind zunehmend fanatisch. Kürzlich habe ich mit einem Freund vom Deutschen Gewerkschaftsbund gesprochen, er stand ziemlich unter Schock. Denn er hatte gerade mit Schmakow telefoniert. Er wollte den Russen davon überzeugen, dass Gewerkschaften doch keine Kriege unterstützen könnten. Und dass der FNPR doch wenigstens einen Waffenstillstand befürworten müsse. «Auf keinen Fall!» habe Schmakow da in den Hörer gerufen. [siehe den Zusatz der bruchstuecke-Redaktion im Anschluss an der Interview]
Und für diesen Schmakow haben Sie einst gearbeitet?
Kirill Buketow: In den russischen Gewerkschaften begann in den frühen 1990er Jahren ein Erneuerungsprozess. Viele wollten die verkrusteten Bürokratien aus der Sowjetzeit durch demokratische Strukturen ersetzen. Der Anführer dieser Reformbewegung war ebendieser Michael Schmakow gewesen. Er vermochte wirklich zu überzeugen und galt auch im Westen als der große Hoffnungsträger. 1993 wurde er Präsident des FNPR. Ich hatte damals bereits das unabhängige gewerkschaftliche Informationsnetzwerk KAS-KOR mit aufgebaut. Damit gelang es uns, die staatliche Desinformation gegen die grossen Bergarbeiterstreiks zu unterlaufen. Das gefiel Schmakow, und er holte mich 1994 zur Verbandszeitung «Solidarnost». «Der russische Gewerkschaftsbund FNPR ist integraler Teil von Putins Imperialprojekt.»
Heute betreibt diese Zeitung Kriegspropaganda …
Kirill Buketow: Damals war es noch eine fortschrittliche Zeitung! Und für die freie Meinungsäusserung war es die beste Zeit überhaupt. Mit unserem Kurs steigerte ich die Auflage in drei Jahren von 1000 auf 30’000 Exemplare.
Sie mussten also fast bei null anfangen?
Kirill Buketow: Es gab ja überhaupt keine gewerkschaftliche Tradition mehr! Der Stalinismus hatte die Gewerkschaftsbewegung eliminiert – und zwar physisch. Als ich als junger Maurer in der Zeit der Perestroika (Prozess des «Umbaus» ab 1986 unter Michail Gorbatschow, Red.) an der neuen Arbeiterbewegung teilnahm, fanden wir keinen einzigen alten Gewerkschafter, der uns seine Erfahrung hätte weitergeben können. Das war in den restlichen Staaten des Ostblocks übrigens nicht so. Dort hatte eine gewisse Tradition überlebt.
Schon damals misstrauten offenbar viele Lohnabhängige dem FNPR. Warum?
Kirill Buketow: Der FNPR trat das Erbe der sowjetischen Arbeitsorganisationen an. Das waren weder repräsentative noch demokratische Organisationen, also keine echten Gewerkschaften. Sondern eher Apparate zur Verteilung von Wohlfahrtsdienstleistungen und Finanzhilfen, damit die Mitglieder nicht verhungerten. Gleichzeitig hatten diese Organisationen eine ideologische Kontrollfunktion. Sie mussten jede selbständige Initiative der Arbeiterschaft verhindern. Der FNPR trat an, diese Strukturen zu reformieren, stiess aber vielerorts auf Widerstand konservativer Eliten. Manche Werktätigen, besonders die Matrosen, Berg- und Transportarbeiter, glaubten daher nicht an das Reformprojekt. Sie wünschten Schmakow zwar viel Erfolg, gründeten aber lieber ihre eigenen Gewerkschaften.
Meinen Sie die Gewerkschaften der Konföderation der Arbeit Russlands (KTR), jenes Dachverbands, der sich heute mutig gegen den Krieg stellt?
Kirill Buketow: Genau. Wobei diese Gewerkschaften noch lange zerstritten waren. Es gab einerseits die Konföderation der Arbeit Russlands und andererseits die Allrussische Konföderation der Arbeit. Das war sehr verwirrend. Erst unter dem Eindruck der zunehmenden Repression fusionierten die Verbände im Jahr 2009. Heute stehen viele Mitglieder des KTR unter großem Druck. Kürzlich haben zum Beispiel 5000 Lehrerinnen und Lehrer öffentlich erklärt, dass sie an ihren Schulen keine Kriegspropaganda betreiben wollen. Jetzt sind sie mit heftiger Repression konfrontiert.
Und der FNPR schaut einfach weg?
Kirill Buketow: Im Gegenteil. Die unabhängigen Gewerkschaften sind dem FNPR schon lange ein Dorn im Auge. Deshalb befahl Schmakow seinen Leuten, die Führungsposten der internationalen Gewerkschaftsföderationen zu besetzen. So sollten sie alle Aufnahmegesuche der unabhängigen Verbände abblocken. Dass die echten Gewerkschaften jetzt Probleme bekommen, ist also ganz in seinem Interesse.
Zusatz der bruchstuecke-Redaktion
Die FNRP-Website dokumentiert den „Bericht des Vorsitzenden des FNPR Shmakov M.V. bei der Sitzung des FNPR-Generalrats am 20. April 2022 ‚Zur aktuellen Situation und Aufgaben der Gewerkschaften‘„, nachlesbar unter dem Link https://fnpr.ru/events/novosti-fnpr/doklad-predsedatelya-fnpr-shmakova-m-v-na-zasedanii-generalnogo-soveta-fnpr-20-aprelya-2022-goda-o-t.html
Wir geben die ersten Absätze des Berichts in der Google-Übersetzung wieder, weil sie verdeutlichen, in welchen verschiedenen Welten man auf diesem Planeten leben kann.
Liebe Mitglieder des FNPR-Generalrats, liebe Gäste!
Wenn Sie es direkt und mit seinen Eigennamen nennen, dann wurde unserem Vaterland in allen öffentlichen Bereichen – wirtschaftlich, logistisch, diplomatisch, informativ und anderen – der Krieg erklärt. Der Krieg wurde von der globalistischen liberalen Elite erklärt, deren Ziel einfach und klar formuliert ist – die Zerstörung der russischen Zivilisation, der russischen Welt.
Warum ist auch einfach und klar: Der westliche Kapitalismus verkommt zu einem globalen digitalen Konzentrationslager auf Nazi-Basis, während Russland für eine multipolare Welt steht, für eine Zukunft für alle Völker.
Und in dieser Konfrontation verteidigt Russland vor allem sein Recht, sich zu traditionellen Werten zu bekennen, eine souveräne Macht zu sein, sein Recht zu sein.
Es muss zugegeben werden, dass wir militärische Verluste erleiden, aber das ist der Preis für das höchste humanistische Ziel, das die russischen Streitkräfte verwirklichen – den Schutz der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers, vor allem des Rechts auf Leben...
Eine Informationsbroschüre des DGB-Bildungswerks aus dem Jahr 2008 über „Gewerkschaften in Russland heute“ gibt historische Einblicke.