Das Militärische und das Nukleare liegen näher beieinander, als man während eines halben Jahrhunderts ziviler Nutzung von Atomkraft in Deutschland geglaubt hat. Jetzt dient Putins Krieg gegen die Ukraine als Argument für ein Comeback der Atomenergie – und als Alibi, „das Undenkbare“ ins Gespräch zu bringen.
Nur wenige Stunden nach dem russischen Einmarsch forderte Berthold Kohler, einer der Herausgeber der FAZ, die deutsche Energiepolitik müsse sofort überdacht werden. „Können wir in dieser Lage wirklich auch noch die letzten Atomkraftwerke abschalten?“ fragte er, um sich zwei Tage später selbst zu antworten: Die Ampelkoalition werde in der Energiepolitik „ihre Prämissen und Prioritäten ändern“ müssen.
180-Grad-Wenden
Garniert mit Umfragen über einen angeblichen Meinungsumschwung in der Bevölkerung geisterte das Thema durch den Medienwald, um bald bei einschlägig bekannten Politikern zu landen. Allen voran platzte der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) mit dem Vorschlag heraus, die Atomkraftwerke drei bis fünf Jahre länger zu betreiben, um „billigen Strom zu produzieren, der gleichzeitig auch keine Klimabelastung bringt“.
In der FDP forderten die Landesvorsitzenden von Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, Andreas Pinkwart und Stefan Birkner, ebenfalls eine Verlängerung der Laufzeiten für die verbliebenen drei Kraftwerke. Schließlich erklärten sich auch die politischen Schwergewichte Friedrich Merz (CDU) und Christian Lindner (FDP) in diesem Sinn, wobei es der Finanzminister bei der Forderung nach einer Debatte beließ, weil er einstweilen noch nicht gegen den Koalitionsvertrag verstoßen will.
Eine Diskussion zu fordern, die seit mindestens zwei Jahren mit zunehmender Heftigkeit ausgetragen wird, macht wenig Sinn. Gemeint ist, dass sich die Grünen nach ihrer 180-Grad-Wende in der Rüstungspolitik, so die Diktion von Alexander Neubacher im Spiegel, nun auch von ihrem „Ökofimmel“ verabschieden sollen. Die Angesprochenen versuchten den Druck von sich fernzuhalten und werteten die Vorstöße als „Phantomdebatte“.
Gleichwohl haben die Ministerien von Robert Habeck (Wirtschaft) und Steffi Lemke (Umwelt) die Vor- und Nachteile einer Laufzeitverlängerung umgehend geprüft. Sie stellten fest, dass es sich nur um einen sehr begrenzten Beitrag zur Lösung des Problems handeln würde, „und dies zu sehr hohen wirtschaftlichen Kosten, verfassungsrechtlichen und sicherheitstechnischen Risiken“. Einfacher sei es, mehrere Kohlekraftwerke, die eigentlich vom Netz gehen sollten, für Notfälle in Reserve zu halten.
Rabatt in Fragen nuklearer Sicherheit
Es lohnt sich, die ministeriellen Einwände genauer zu betrachten. Dann erfährt man nämlich, dass seit den letzten großen Sicherheitsprüfungen in den AKW schon dreizehn Jahre vergangen sind. Eigentlich sind solche umfassenden Wartungen im Zehnjahresrhythmus vorgesehen. 2019 wären sie zuletzt fällig gewesen, aber wegen der bevorstehenden Abschaltung hat man darauf verzichtet.
Diese Enthüllung ist mehr als peinlich. Sie konterkariert die tausendfach gegebene Versicherung, wonach es in Fragen der nuklearen Sicherheit keinen Rabatt geben dürfe. Das gilt ausdrücklich auch für die letzte Phase des Anlagenzyklus. Nun wird jedoch von offizieller Stelle eingeräumt, dass die Betreiber im sogenannten Auslaufbetrieb improvisiert haben, während die Aufsichtsbehörden ihre Pflichten äußerst großzügig interpretierten.
Das nonchalante Verfahren begründet in der Tat juristische Fragen, ob der laufende AKW-Betrieb überhaupt noch rechtlich zulässig ist. Ein penibler Sicherheitscheck würde nämlich mit hoher Wahrscheinlichkeit ähnliche Probleme wie in Frankreich ans Licht bringen; dort weisen die Reaktoren bedenkliche Verschleißerscheinungen an kritischen Rohren auf. Der gesamte französische Nuklearpark muss sukzessive untersucht werden, bei jedem zweiten Reaktor sind teure und zeitraubende Reparaturen erforderlich. Frankreich ist in diesem wie im nächsten Jahr stark auf Stromimporte angewiesen.
Von solchen Aussichten sind die deutschen Energieunternehmen wenig begeistert. Andererseits würden sie sich gern bitten lassen, wenn der Staat dafür zahlt und die richtigen Rahmenbedingungen setzt, man könnte ja wieder mal das Atomgesetz ändern.
Das Undenkbare
Für einen Teil der Atom-Freunde und für die zahllosen Militär- und Strategieexperten, die derzeit wie Pilze aus dem Boden schießen, sind die Probleme der Energiewirtschaft ohnehin nur untergeordnete Details. Für sie zählt seit dem 24. Februar nur noch der Krieg und wie er für nationale Interessen genutzt werden kann. Sie wollen ihre nuklearen Obsessionen in die Politik einbringen und nennen sie „das Undenkbare“. Obwohl es angeblich nicht gedacht werden kann, weiß Jeder, was damit gemeint ist. Das Undenkbare ist das Codewort für den deutschen Erwerb von Atomwaffen.
Der eingangs erwähnte Kohler koppelte seine Forderung nach einer Revision der Energiepolitik mit dem Aufruf, Europa müsse Atommacht werden. Weil es keine Garantie für den sogenannten Schutzschirm der USA gebe und Frankreichs Arsenal zu schwach sei, müsse sich Deutschland selber mit der nuklearen Frage befassen. Im Spiegel übersetzte Kolumnist Nikolaus Blome die hochfliegenden Pläne in die Sprache des Boulevard. „So darf nicht undenkbar bleiben, dass Deutschland sich atomar bewaffnet.“ Und: „Ich denke nicht, dass die dunkle Seite der deutschen Geschichte es politisch erzwingt oder moralisch gebietet, für ewig auf Atomwaffen zu verzichten.“ Dass dieser Verzicht eine Bedingung für die deutsche Vereinigung war und vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl bereitwillig eingegangen wurde, kommt in diesem Diskurs schon gar nicht mehr vor. Blome ist konsequent genug, dann auch den Atomwaffensperrvertrag in Frage zu stellen – passender Weise zu einem Zeitpunkt, wo man den Iran zur Einhaltung desselben bewegen möchte. Das zeugt von politischem Instinkt.
Gern lässt man sich die eigene Meinung von Fachleuten bestätigen, wofür die FAZ (31.5.2022) einen Spezialisten für Geopolitik namens Maximilian Terhalle gefunden hat. Sein Befund lautet, dass die USA Russland nicht glaubwürdig abschrecken könnten, weil sie ihr ganzes Arsenal für China benötigten. „3750 US-Sprengköpfe müssen alle großen Städte (!) und Militäreinrichtungen Chinas durch eine Zweitschlagoption auslöschen können“, und da sei Nordkorea noch nicht berücksichtigt. Also müsse Europa „zwingend“ einen vergleichbaren eigenen Nuklearschirm errichten, um einen russischen Erstschlag abzuschrecken, falls die USA militärisch in Ostasien „vereinnahmt“ seien. Offenbar gibt es bei nicht konventionellen Waffen auch unkonventionelle Maßstäbe: China besitzt nach Einschätzung des Pentagon ca. 200 Atombomben. Terhalle will ein Gleichgewicht des Schreckens durch zwanzigfache Überlegenheit herstellen.
Der Geostratege hat auch eine Idee, wie der deutsche Beitrag zur europäischen Nuklearmacht aussehen könnte. Berlin solle in Kiel produzierte U-Boote von Israel atomar bestücken lassen, um sie dann im Mittelmeer zu stationieren. „Und zur Stärkung Polens sollte Berlin taktische amerikanische Nuklearwaffen aus dem Fliegerhorst Büchel übereignen.“
Jeder bekäme, was er will, bei diesem raffinierten Ringtausch, der allerdings ein klassisch antisemitisches Projekt darstellt. Israel kann gar keine Atombomben exportieren, es würde sich also, wenn überhaupt, um amerikanische Waffen handeln. Aber sie sollen natürlich über Jerusalem in deutsche Hände gelangen, ein feines Alibi, das den Akteuren zudem erlauben würde, die Verantwortung für das Böse auf den jüdischen Staat zu schieben. Es wäre ein ganz neuer Schlußstrich unter die deutsche Vergangenheit, einer, bei dem die Nuklearfanatiker laut zum Aufbruch blasen und im Stillen Putin danken würden.
P. S. Dank an den Hamburger Autor Günther Jacob, der zahlreiche Hinweise zum Thema gab.
Eine modifizierte Version des Beitrages erschien unter dem Titel „Lass laufen“ in Jungle World
Das ist ein Beitrag der Sorte: Zuerst weiß ich, wer alles ein Schwein ist, und dann kleistere ich mir aus allen möglichen Versatzstücken das dazu passende Bild zusammen. Von Handlungszwängen und Dilemmata ist in dem Text keine Rede. Wenn der Autor allein entscheidender Bundeskanzler wäre, gäbe es keine Probleme., so der Duktus. Super!
Hmm… von welcher Sorte ist dieser Kommentar?
Danke fuer den Bericht.
Soziopathen haben Hochkonjunktur in den Medien,die Kriegstrommeln haben sie gerufen.
Erst eine rhetorische Frage (Arlt), dann eine sinnfreie Antwort von Auhagen. So geht Diskussion heute. Als Freund guter Polemik hätte ich selbstredend gar nichts gegen intelligente Einwände. Aber das hier von Auhagen gebotene ist von eine unterirdischen Niveaulosigkeit, dass es eigentlich nicht lohnt darauf einzugehen, uneigentlich jedoch trägt es die um sich greifenden diffamatorischen Züge, die sich dadurch auszeichnet, sich mit den nackten Fakten auseinander zu setzen.
Korrektur: der Satz muss heißen: … diffamatorische Züge, die sich dadurch auszeichnen, sich nicht mit den nackten Fakten auseinander zu setzen.“