In meiner Heimatzeitung, im Bonner General-Anzeiger, fand ich einen vierspaltigen Korrespondentinnen-Bericht der Deutschen Presseagentur („Aufregung um Layla“) über einen „Partyhit“ mit diskriminierender, sexistischer Ballermann-Lyrik, der tagelang ein großes öffentliches Thema war.
Diskriminierend und wirklich beängstigend zugleich fand ich den Sachverhalt, den General-Anzeiger-Redakteurin Silke Elbern einige Zeit vorher beschrieb: Lediglich 30 Prozent der Haltestellen im Stadtbereich Bad Godesberg seien barrierefrei umgerüstet. Noch deutlich weniger als zum Beispiel im zentralen Teil der Stadt Bonn, wo es knapp 47 Prozent seien. Warum beängstigend? Weil nach dem geltenden Recht die Verpflichtung bestand, bis zum 1. Januar 2022 den öffentlichen Nahverkehr komplett barrierefrei zu gestalten.
In einer Dresdener Erklärung hatten die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern noch im Herbst 2021 nachdrücklich daran erinnert: „Wir wollen, dass Deutschland in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens, vor allem aber bei der Mobilität (u. a. bei der Deutschen Bahn), beim Wohnen, in der Gesundheit und im digitalen Bereich, barrierefrei wird.“
Die Deutsche Bahn wird in der Erklärung namentlich erwähnt. Wie sieht es da aus mit der Barrierefreiheit? Auf 60 Prozent der Bahnsteige sind nach Bahn-Angaben die „zwingenden Ausstattungsmerkmale“ für Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer und Menschen mit Gebehinderung vorhanden. Ebenfalls zu 60 Prozent für Familien mit Kleinkindern und für kleinwüchsige Menschen, für Sehbehinderte nur zu 25 Prozent. Die Bahn bietet ihre Leistungen auf 5400 Bahnhöfen und über 9300 Bahnsteigen an. Sie sagt, jährlich würden etwa 100 Bahnhöfe komplett barrierefrei. Es gibt also noch eine Menge zu tun.
Es ist nicht zu bestreiten, dass sich während der vergangenen Jahrzehnte eine Menge geändert hat, vieles verbessert wurde. Sozialpolitisch versierte „Oldies“ werden sich erinnern: 1980 bekam eine Frau vor dem Frankfurter Landgericht Recht, die dagegen geklagt hatte, im Hotel während einer Pauschalreise nach Griechenland behinderte Menschen ertragen zu müssen. Das Landgericht unter Richter Otto Tempel folgte der Argumentation der Klägerin und hielt in seinem Urteil fest: »Es ist nicht zu verkennen, dass eine Gruppe von Schwerbehinderten bei empfindsamen Menschen eine Beeinträchtigung des Urlaubsgenusses darstellen kann. Dies gilt jedenfalls, wenn es sich um verunstaltete, geistesgestörte Menschen handelt, die keiner Sprache mächtig sind, von denen einer oder der andere in unregelmäßigem Rhythmus unartikulierte Schreie ausstößt und gelegentlich Tobsuchtsanfälle bekommt. So wünschenswert die Integration von Schwerbehinderten in das normale tägliche Leben ist, kann sie durch einen Reiseveranstalter gegenüber seinen anderen Kunden sicher nicht erzwungen werden. Dass es Leid auf der Welt gibt, ist nicht zu ändern; aber es kann der Klägerin nicht verwehrt werden, wenn sie es jedenfalls während des Urlaubs nicht sehen will.“
Das Urteil löste Wut und Entsetzen aus. Richter Tempel, der bis 1994 Recht sprach, echauffierte sich: „Was glauben Sie, was ich alles zu hören kriege. Religionslehrer nehmen statt der Bibel schon das Urteil durch.“
Fast acht Millionen Schwerbehinderte
2006 trat das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz in Kraft. Das Gesetz schob solchen Entscheidungen einen Riegel vor. Aber an der durch Barrieren und materielle Nachteile geprägten Lebenswirklichkeit behinderter Menschen änderte sich zu wenig. Der Fortschritt war und ist in diesem großen gesellschaftlichen Bereich eine echte Schnecke. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes leben in Deutschland knapp acht Millionen schwerbehinderte Menschen.
Man schätzt, dass zwischen 25 und 30 Prozent der mit Bahn und Bus Reisenden in irgendeiner Weise gehandikapt und auf Barrierefreiheit angewiesen sind. Es dauerte immerhin noch 14 Jahre, bis das Menschenrecht behinderter Menschen auf Teilhabe am Leben in der Gesellschaft glasklar Gesetz wurde. (Eine sehr gute Zusammenfassung dieses Teils der Verfassungs- und Sozialgeschichte bietet das Handbuch Behindertenkonvention der Bundeszentrale für Politische Bildung von Theresia Degener und Elke Diehl von 2015). Erst 2020 wurde das Bundesteilhabegesetz Wirklichkeit, das in zeitlich versetzten Stufen bis 2023 umgesetzt wird. Jahrelang war das Gesetz diskutiert und erst nach vielen Klärungen verabschiedet worden. „Die Veränderungen – insbesondere durch die neue Eingliederungshilfe – sind so umwälzend, dass manche Konsequenzen daraus noch nicht absehbar, geschweige denn planbar wären“, schrieben Fachleute.
Gemeint ist damit, dass Rechtsansprüche auf die einzelne Person konzentriert werden, bei der einzelnen Person zusammenlaufen und nicht mehr in einer Institution oder einer Einrichtung. An die Stelle der traditionellen Fürsorge über eine Einrichtung tritt das unmittelbare Recht der Person. Das ist eine Errungenschaft eigener Art, die in andere Bereiche ausstrahlt.
Konsequenzen zeigen sich im Augenblick beim Streit über die Anwendung des Paragraphen 43 im Sozialgesetzbuch neun (Pflegeversicherung). Die Versicherungspflicht in der Pflegeversicherung gilt selbstverständlich auch für behinderte Menschen. Die sollen heute, das ist der Sinn der Teilhabe, selber entscheiden, wo sie leben, in ihrer Familie, allein oder in Gemeinschaft mit anderen Behinderten. Ein mittelbar wirkender, materieller Zwang ist damit nicht vereinbar.
Diskriminierende Schlechterstellung
Wenig bekannt ist, dass Menschen mit einer Behinderung einer Sonderregelung unterworfen werden. Leben diese Behinderten in einer eigenen Wohnung oder zusammen mit Familienangehörigen, werden ihnen im Rahmen der ambulanten Pflege Sachleistungen zugesprochen wie anderen Menschen mit Pflegebedarf. Beim Pflegegrad 4 sind das 1693 € monatlich. Haben sie sich entschieden, zusammen mit anderen in einer gemeinschaftlichen Wohnform mit Eingliederungshilfe zu leben, bekommen sie lediglich und unabhängig vom Pflegegrad einen pauschalen Betrag, der der Sachleistung der ambulanten Pflege nach dem Pflegebetrag 2 entspricht, 266 € im Monat.
Dies ist eine systembedingte Schlechterstellung und Diskriminierung, die mit dem Ziel des Teilhabegesetzes unvereinbar ist. Begründet wird dies mit einer eigenartigen Definition dessen, was gemeinschaftliche Wohnformen seien. In der Praxis entsteht ein materieller Zwang, den Bereich der Selbstbestimmung zu verlassen und in eine Einrichtung der stationären Pflege umzuziehen. Das nach der Behindertenkonvention geschützte Recht der Wahl zwischen verschiedenen Lebensmöglichkeiten wird verletzt.
Das wird nicht die letzte Schwierigkeit sein. Es werden neue auftauchen, weil die Sozialsysteme untereinander durchaus verschiedene Leistungs- und Anspruchsgrundlagen aufweisen. Pflegefachleute sagen: Während der vergangenen Corona-Jahre habe immer wieder und wieder gefordert werden müssen, die Behinderten nicht zu vergessen. Den „Layla“- Gesang können wir also getrost vergessen. Wir könnten stattdessen den Freddy Quinn von 1960 singen: „Weit ist der Weg, der Weg ist so weit…“
Weitere Informationen bieten „Eine wahr gewordene Utopie. Selbst bestimmt leben. Mit persönlicher Assistenz“ und Michael Opielka/ Magdalena Wißkirchen: So macht man Teilhabe. Abschlussbericht der Evaluation.