Die Un/Sichtbarkeit von Minderheiten ohne Mutterstaat  

Screenshot: FUEN-Website

Vom 29. September bis zum 2. Oktober findet in Berlin der FUEN-Kongress statt. Das ist die jährliche Zusammenkunft der Vertretungen der meist in mehreren Ländern existierenden Minderheiten Europas. FUEN steht für: Föderalistische Union Europäischer Nationalitäten. Ihr gehören in 36 Ländern über 100 Minderheiten an.

Jüngst trafen sich beispielsweise Repräsentanten der FUEN auf Einladung der Pomaken, um über deren Belange zu reden. Die Frauen und Männer der Pomaken gibt es in Bulgarien, in der Türkei und in Griechenland. Sie sprechen eine slawische, der bulgarischen Sprache ähnelnde, gleichwohl eigenständige Sprache. In der Zeit des kalten Kriegs war dieses Volk zwischen den Gegnern Bulgarien und Griechenland eingeklemmt, der Öffentlichkeit weitgehend entzogen, aus militärisch- strategischen Gründen seiner Rechte beraubt.

In der Bundesrepublik gibt es vier offiziell anerkannte, autochthone Minderheiten: die deutschen Sinti und Roma, das sorbische Volk, die dänische Minderheit, die friesische Volksgruppe. In der Schweiz existiert eine weitere, offiziell anerkannte Minderheit, die es auch in Österreich und in Deutschland gibt; ebenso in Spanien, in Frankreich, den Benelux Ländern oder in Irland und Großbritannien. Das sind die Jenischen, die ihre eigene Sprache sprechen, ihre Musik singen, unter denen sich eine eigene Literatur entwickelt hat. Man schätzt deren Zahl auf über eine halbe Million. Es könnten freilich auch viel mehr sein, weil viele Jenische sich nicht zu erkennen geben. Sie folgen mit dieser Einstellung einer Tradition ihrer Vorfahren, die Ablehnung, Verfolgung, Diskriminierung erfuhren und sich daher bezüglich ihrer Herkunft bedeckt hielten.

„Polizeiliche Wegweisung“, Messerligrube bei Bern, 1977 (Foto: Rob Gnant auf wikimedia commons)-

Heute sind die Jenischen zumeist und im Unterschied zu den Vorfahren sesshaft. Sie sind Kinder und Enkel früher landfahrender Familien. Eine Minderheit unter der Minderheit lebt noch so wie die Vorfahren.

Der deutsche Staat, der auf seinen verschiedenen Ebenen die unglaublichsten Datenmengen sammelt, weiß bis heute nicht, wie viele Jenische in Deutschland leben, wie deren Lebensbedingungen sind, wie viele von den Nazis verfolgt, zwangssterilisiert oder auch ermordet wurden. Sie wurden nicht verfolgt, weil ihre angebliche „Rasse“ den Nazis zuwider war, sondern weil sie – so hieß es damals – „nach Zigeunerart“ lebten, als arbeitsscheu, asozial galten, als irgendwie unverbesserlich und daher dem Vernichtungswillen auszusetzen waren.

Auch auf diesen Zustand ist ohne Zweifel gemünzt, was Theodor W. Adorno 1966 über „Erziehung nach Auschwitz“ sagte.

„Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, dass man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen, hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug. Daß man aber die Forderung, und was sie an Fragen aufwirft, so wenig sich bewußt macht, zeigt, daß das Ungeheuerliche nicht in die Menschen eingedrungen ist.“

Der Schweizer Rock-Chansonnier Stephan Eicher kommt aus einer jenischen Familie (Foto: Thesupermat auf Flickr)

Auf die Jenischen bezogen gilt das immer noch. Sie sind ein vergessenes Volk in Deutschland. Mancher ihrer Verfolger und Quäler waren bis in die siebziger Jahre noch in Amt und Würden auf Gesundheitsämtern unseres Landes. Nach dem Krieg wurden die Jenischen zusammen mit Sinti und Roma den displaced Persons ähnlich in ehemaligen Lagern und in Nissenhütten untergebracht. Man wollte sie in den Städten nicht haben. Dementsprechend landeten deren Kinder in den hintersten Bänken der „Sonderschulen“. Bis auf den heutigen Tag gibt es Diskriminierung, beklagt vor allem der Zentralrat der Jenische Deutschlands.

Nun wollen die Jenischen, den Schweizern folgend und auch im Einklang mit Bestrebungen in Österreich, als offizielle Minderheit anerkannt werden. Sie werden auf den erwähnten Kongress in Berlin zu hören sein.

Anerkannt werden sie bisher nicht. Der frühere Beauftragte der Bundesregierung für Fragen der Minderheiten, Professor Bernd Fabricius vermochte unter den deutschen Jenischen keine eigene kulturelle Identität zu erkennen. Daher passten sie nicht in die Kriterien und in die Systematik des bundesdeutschen Minderheitenrasters, meinte er. Die neue Minderheitenbeauftragte, Natalie Pawlik, ist offenbar noch nicht festgelegt. Sie wird auf dem FUEN-Kongress sprechen. Vielleicht findet sie ja Anschluss an die Debatte über die Anerkennung von Minderheiten in Europa, die längst läuft.

Klaus Vater
Klaus Vater arbeitet als Kommunikationsberater und Autor. Er war stellvertretender Sprecher der Bundesregierung, zuvor Pressesprecher des Gesundheitsministeriums sowie des Arbeitsministeriums. Seinen Jugend-Kriminalroman "Sohn eines Dealers" wählte die Kinderjury des Literaturpreises "Emil" 2002 zum Kinderkrimi des Jahres.

1 Kommentar

  1. Sehr geschätzter Klaus Vater!
    Herzlichen Dank für diesen Querschnitt durch die Un/Sichtbarkeit von Minderheiten ohne Mutterstaat. Wir leben aktuell / wieder mal in «schwierigen Zeiten», was nicht Grund aber Begründung ist für die trölerische Behandlung der Minderheitenanliegen, meiner Beobachtung nach in ganz Europa. Um so wichtiger sind die Mahner und Ruferinnen in der Wüste. 2014 stellte sich der Jahreskongress der FUEN/FUEV geschlossen hinter die Forderungen der Jenischen nach Anerkennung (1). In der Schweiz erfolgte die Anerkennung, nach jahrzehntelangem Kampf, 2016 (2). Tausende Jenische, die Opfer der Verfolgungen in allen Staaten Europas wurden, sind inzwischen verstorben. Sie liegen oft im Armengrab und hatten keine Chance, die vielgepriesene Chancengleichheit des modernen Europas zu erleben. Es liegt in den Händen von Politik und Verwaltung dafür zu sorgen, dass die letzten Überlebenden in Würde leben, altern, ihre Kultur (er)leben können.
    (1) https://fuen.org/assets/upload/editor/fuenorg-Resolution-2014-Schaeft_qwant_de.pdf
    (2) https://www.srf.ch/news/schweiz/jenische-und-sinti-als-nationale-minderheit-anerkannt

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