Technik macht vieles leichter und komfortabler. Trägt ein Gabelstapler die Lasten oder müssen Menschen sich abschleppen? Je üppiger wir uns mit Technik ausstatten, desto abhängiger werden wir von Energie. Schwierigkeiten mit der Energieversorgung lösen in einem hochtechnisierten Land sofort Alarm aus, weil nicht nur der Lebensstandard, sondern vielfach tatsächlich Überleben davon abhängt. Wenn, wie gegenwärtig, Energiekrise und Klimakrise aufeinandertreffen, wird es schwer zu entscheiden, ob erst der Belzebub oder erst der Teufel ausgetrieben werden sollen. Die Agenda 2030 muss als Zukunftsstrategie Antworten auf die Gegenwart von 2022 geben. Wenn es in ihrer Präambel heißt, dass die 17 Ziele (SGD) für nachhaltige Entwicklung eine wirtschaftliche, eine soziale und ökologische Dimension enthalten müssen, ist dies auch als Beitrag zu einem anderen Zivilisationsmodell zu verstehen, einem Zivilisationsmodell, dessen Energieverbrauch nicht zu Klimakatastrophen führt.
Dieses Megaprojekt muss belastbar sein. Die Ansprüche an eine 3D-Nachhaltigkeit müssen auch den Herausforderungen der gegenwärtigen Energie- und Umweltkrise standhalten und mehr als umwelt- und energiepolitische Antworten im engeren Sinne bieten. Aber wie ist die Gegenwart von 2022 zu beurteilen? Sind die Möglichkeiten wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Erneuerung vorhanden, die über die Erschließung neuer Energiemärkte und Entlastungspakete hinausgehen?
Als der dritte Stand die Weltbühne betrat
Dabei kann der Rückgriff auf geschichtliche Erfahrungen hilfreich sein. Was waren beispielsweise die Wirkungen der Französischen Revolution von 1789, die ebenfalls als ein Durchbruch zu einem neuen Zivilisationsmodell gelten kann? Sie folgte auf die Entwicklung der Stadtkulturen der „Generalstaaten“ der Vereinigten Niederlande nach ihrer Unabhängigkeit vom spanischen Weltreich. Das „kosmopolitische“ Zivilisationsmodell war weniger staatlich-zentralistisch als die Revolution in Frankreich.1
Als der „Dritte Stand“ die Weltbühne betrat, wurde der Liberalismus zu einer historischen Größe und der Fortschritt zu einer wirklichkeitsmächtigen Orientierung. Es folgte eine fast hundertjährige Epoche, in der die französische Bourgeoisie die bürgerliche Gesellschaft zu erhalten und die doppelte Gefahr der Jakobinistisch-Demokratischen Republik und des Ancien régime zu vermeiden suchte: der revolutionären Periode (1794-1799) folgte das Direktorium (1795-1799), das Konsulat (1700-1804), das erste Kaiserreich (1815-1830), die konstitutionelle Monarchie (1830-1848), die Republik (1848-1852) und das zweite Kaiserreich (1852-1870).2 Seither bestimmt der Streit zwischen dem liberalen, dem konservativen und dem sozialistischen Zivilisationsmodell unsere politische Phantasie.
Als die liberale Ideologie ihren ursprünglichen Schwung und ihr Selbstvertrauen verlor, gründete die Ideologie des Sozialismus die Idee der Zukunft auf den festen Glauben an die Vernunft, die Wissenschaft und den Fortschritt. Erst Karl Marx ging über die Wünschbarkeit und Vernunftgerechtigkeit des Sozialismus hinaus und suchte mit Hilfe der politischen Ökonomie zu zeigen, dass der Kapitalismus innere Widersprüche enthielt, die ihn „unvermeidlich“ an einem bestimmten Punkt in ein Hindernis für den weiteren Fortschritt verwandeln würden.3
Die Schwäche der Menschenrechtserklärung
Längst haben wir die Vorstellung von der Unvermeidlichkeit des Fortschritts verloren. Unsere Gegenwart ist eine offene geschichtliche Situation. Aber die Agenda 2030 zeigt, dass die Idee des Fortschritts noch immer valent ist. Freilich muss der progress anders bestimmt werden. Wir können seiner Geschichte entnehmen, dass das wirkliche Leben sich in den Kategorien des Liberalismus nicht einfangen lässt. Der liberale Begriff von Freiheit tendiert immer dazu, nur die Rechte der Individuen, aber nicht die der Gesellschaft, erst recht nicht die der Natur in den Blick zu nehmen. „Die Menschenrechtserklärung“, schreibt Michel Serres, „hatte darin ihr Verdienst, von ‚jedem Menschen‘ zu sprechen, und ihre Schwäche, ‚allein die Menschen‘ zu meinen oder allein an die Menschen zu denken.“4 Und dabei vergessen, dass Menschen ein Teil der Natur sind, sich also selbst vernichten, wenn sie die Natur zerstören.
Die grundsätzliche Frage nach einer Strategie der Transformation trägt dieser Problematik Rechnung. Sind die Voraussetzungen und Grundlagen, unter denen vor mehr als zwanzig Jahren die ökologische Transformation auf den Weg gebracht wurde, noch gültig und tragfähig? Oder benötigen wir ein neues energiepolitisches Regime, dass eine mehrjährige Übergangszeit in Anspruch nimmt? Diese Frage betrifft nicht nur die Umwelt-, Industrie- und Energiepolitik. Sie lautet im Kern, ob die Gegenwart das Momentum für ein anderes Zivilisationsmodell enthält, das sich nicht durch Verschwendung und Maßlosigkeit auszeichnet.
Der Versuch, ein neues Zivilisationsmodell angemessen zu beschreiben, ist eine Überforderung. Gleichwohl sollten Kernelemente dieses Modells genauer diskutiert werden. Zu diesen gehört die Lösung der Energiefrage (Stichwort „Wasserstoff statt Kohlenstoff“), die Ermittlung eines Standorts für die (End-)Lagerung des Atommülls, die Beantwortung der Frage, wie ein neues Konsumtionsmodell aussehen könnte und wie die politische Klasse nationalgesellschaftliche, europäische und globale Handlungsfähigkeit (und Steuerungskompetenz) erlangen kann.
Ob ein neues Zivilisationsmodell politische Relevanz erlangen kann, hängt auch mit der Frage der Übergänge oder Wege dorthin zusammen. Ist dafür gegenwärtig ein günstiger Zeitpunkt vorhanden? Lässt sich die gegenwärtige Krise als Chance begreifen? Und wenn dies der Fall sein sollte: gibt es eine Chance für alle Bürgerinnen und Bürger? Oder ist dieser Kairos nicht gegeben? Und besteht nicht die Gefahr, dass sich die große Mehrheit der Bevölkerung auf diese Übergänge einlässt, während sich eine Minderheit von Trittbrettfahrerinnen und Trittbrettfahrern heraushält?
Siehe auch den Beitrag von Wolfgang Storz „Höchste Zeit für zwei, drei, viele und noch mehr Ökoprojekte„.
1 Vgl. Stephen Toulmin, Kosmopolis, Suhrkamp, Frankfurt a.M 1991
2 Eric Hobsbawm, Europäische Revolutionen, Kindlers Kulturgeschichte Europas, Band 15, DTV München 1983 (1962), S.131
3 Vgl. Hobsbawm (1983, 421f)
4 Michel Serres, Der Naturvertrag, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1994, S. 66