„Leute wie ich haben keinen politischen Einfluss“, sagen 75 Prozent  

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Diese alle zwei Jahre erscheinende empirische Untersuchung zieht regelmäßig heftige Kritik auf sich. Den Autoren wirft man vor, sie würden ihre soziologischen Befunde dramatisieren, um Aufmerksamkeit zu erregen. Wo harmloses Geschwulst vorfindlich wäre, würde Krebsgeschwür diagnostiziert. Das letzte Mal formulierte die FAZ diesen Anwurf, in diesem Jahr wärmt ihn ein mäßig interessantes Monatsmagazin auf. Dort ist von der Zauberwelt der Villa Kunterbunt aus dem Hause der „kritischen Theorie“ zu lesen; ihr entstamme das hyperkritische Leipziger Zeug. Der deutsche Konservatismus löst sein Problem, über keine Intellektuellen zu verfügen, indem er seine Sottisen über die linken Intellektuellen ewig recycelt. Nichts Eigenes bringt er zustande. Noch der Verfassungspatriotismus, die grobe publizistische Linie der Zeitschrift Cicero, ist vom Kontrahenten geklaut.

Diese nun zum elften Mal erscheinende Studie hat das Verdienst, der bundesdeutschen Gesellschaft immer wieder ein Bewusstsein ihrer selbst zu geben. Bald 200 Interviewer treffen auf 2.500 Leute; zudem ist ein umfänglicher Fragebogen im Einsatz. Die Befragten sind nach einer randomisierten Auswahl ermittelt. Adäquat gewichtet sind jüngere und älterer Jahrgänge (letztere sind in Onlinebefragungen, des fehlenden Internetzugangs wegen, oft unterrepräsentiert), Frauen und Männer, Arbeiter und Angestellte, Personen mit niedrigem und höherem Einkommen, Bürger der alten und der neuen Bundesländer. Externe Daten des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung werden genutzt, um dem Einfluss regionaler Schrumpfungsprozesse auf das Meinungsbild der Gesellschaftsmitglieder nachzugehen. Medizin-Soziologie steuert ihre Erkenntnisse im Zusammenhang der Pandemie bei. Der Ukrainekrieg hat eine ergänzende, 4.000 Personen umfassende Onlinebefragung notwendig gemacht.

Es sind analytische Abstraktionen, die aus dem Zahlenmaterial der Leipziger Sozialwissenschaftler hervorgehen; die Zahlen bilden keine unmittelbar handelnden politischen Kollektive ab. Zum Glück, muss man sagen, auch wenn die mit den Verhältnissen Einverstandenen keinen Grund zur Sorge sehen. Die Cicero– Logik lautet: Die Mitte kann gar nicht extrem sein. Es ist der Verschnarchte, der so denkt. Wie heißt es in Morgensterns Palmström-Gedicht? Und er kommt zu dem Ergebnis: Nur ein Traum war das Erlebnis.

Grassierender Antisemitismus

Nur sind die Ergebnisse der Leipziger Studie leider kein Traum. Den Satz Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land unterschreiben 43 Prozent der Ost- und 37 Prozent der Westbürger. Wir brauchen starke Führungspersonen, damit wir in der Gesellschaft sicher leben können finden 27 Prozent der Bundesbürger. Dass die Bundesrepublik …durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet (ist), glauben acht Prozent. Diese Zahl erscheint als gering; aber es ist bloß die Sicht der Eingefleischten. Dazu sind noch die latente Zustimmung signalisierenden 18 Prozent der Bevölkerung zu addieren. Die Ausländer kommen hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen“: 11 Prozent stimmen dem Satz völlig, weitere 16 Prozent mit leichter Einschränkung zu.

Die Studie macht den in der Mitte der deutschen Gesellschaft heimischen autoritären Charakter sichtbar, das antidemokratische Potenzial, an das die Rechte andocken will. Für seine Botschaft wird der Bote beschimpft. Dabei sollte man den empirischen Forschern dankbar sein. Den größten Schimpf handeln die Sozialwissenschaftler sich regelmäßig für ihre Zahlen zum grassierenden Antisemitismus ein. Da grassiert doch nichts, sagen die rezensierenden Kritiker. Sind die Leipziger Zahlen also gezinkt? Ja, weil sie die Unentschiedenen, die mit den teils/teils-Antworten den Judenfeinden zurechnen, so die Kritik. Ihr auf statistische Sauberkeit pochendes Argument blendet, um sich selbst zu beruhigen, den sozialpsychologischen Zusammenhang aus.

Das Tabu verdeckt ihn

Der klassische Antisemitismus ist in Deutschland tabuisiert; das sollte sich bis in die konservativen Redaktionsstuben herumgesprochen haben. Dieses Tabu verdeckt ihn, bringt ihn aber nicht zum Verschwinden. Die sozialpsychologisch informierte Fragetechnik der Leipziger Soziologen macht das scheinbar Verschwundene deutlich sichtbar.

Es macht mich wütend, dass die Vertreibung der Deutschen und die Bombardierung deutscher Städte immer als kleinere Verbrechen angesehen werden – das ist eine solche Frage. 31 Prozent der Deutschen sehen dies so. Israels Politik in Palästina ist genauso schlimm wie die Politik der Nazis im Zweiten Weltkrieg. 19 Prozent manifeste, 30 Prozent latente Zustimmung. Die Sozialpsychologie spricht von einer Umweg-Kommunikation. Wer den Umweg wählt, vermeidet es, mit dem Tabu zu kollidieren und die inopportune Antwort zu geben. Dieses Argument sei ihm zu hoch, sagt der sich von der Leipziger Studie provoziert Fühlende. Er versteht das Argument aber sofort, wenn es um die – vermeintlich linke – Boykottiert-Israel-Kampagne geht. Dass sich hier ein camouflierter Antisemitismus äußert, wer wollte dies leugnen?

Die Autoritarismus-Studie mit ihrem Langzeitverlauf zeigt, wie der primäre und der sekundäre Antisemitismus steigen und fallen; die Kursverläufe stehen in Relation mit den ökonomischen Krisen. Der Beinahe-Kollaps der Finanzmärkte in den Jahren 2008 und folgende ließ den mit den Juden und der Wall Street synthetisierten Verschwörungstopos massiv ansteigen. Er bleibt eine dunkle Ressource, wie die Autoren so treffend formulieren.

Karikatur eines Klassenbewusstseins

Die über die vielen Jahre fortgeschriebene Untersuchung des Autoritarismus stößt auf vehemente Ablehnung, weil sie die Übereinkunft zwischen der publizierten Öffentlichkeit und der angesagten Soziologie stört. Man hat sich auf die flotte Gesellschaft der Singularitäten geeinigt, und diesen Konformismus scheuchen die Leipziger mit ihrem Anknüpfen an den Geist, ja gar an die Terminologie, der Kritischen Theorie auf. Man will dies lächerlich machen und setzt dabei auf das antiakademische Vorurteil des gesunden Menschenverstands. Sadomasochistische Dimensionen des autoritären Syndroms“ – was für ein Quatsch, soll sich der Leser des Cicero sagen.

In der Studie 2022 werden erstmals das Gesellschaftsbild von Lohnabhängigen betreffende Fragen gestellt. Die Studie reagiert damit auf die Erfolge der AfD im Milieu der Industriearbeiter. Der Zuspruch für die AfD ist dort hoch, wo überdurchschnittlich viele Personen im verarbeitenden Gewerbe beschäftigt sind und die Haushaltseinkommen unterhalb des Bundesdurchschnitts liegen. Das weiß man von Infas, aber die Leipziger wollen Genaueres wissen. Was sie herausfinden, ist die böse Karikatur eines Klassenbewusstseins. Mehr als die Hälfte der Befragten (59,1 Prozent) sieht zwar einen Interessensgegensatz zwischen Kapitalisten und Arbeiterklasse, und ist von dem nach Klassenkampf klingenden Vokabular gar nicht abgeschreckt. Mehr als ein Drittel (35,9 Prozent) macht einen Interessensgegensatz aber zwischen Nichtdeutschen und Deutschen aus.

Es gibt demnach einen Rest von Rationalität, an den jedoch Ressentiment angeflanscht ist. So klagt ein Drittel der abhängig Beschäftigten Verteilungsgerechtigkeit ein, aber die von diesem Drittel geäußerte Vorstellung, wie dieser Ungerechtigkeit beizukommen wäre, lässt einem die Haare zu Berg stehen. Die Autoren resümieren: Eine stärkere Wahrnehmung von Konflikten in der Gesellschaft ist tendenziell auch mit stärker ausgeprägten antidemokratischen Ressentiments verbunden.

Je höher die Einkommen sind, desto niedriger ist der Anteil an für Rechtsextremismus anfälligen Beschäftigten, so ein weiteres Ergebnis der Studie. Erfreulich, dass die Hardcore-Rechte nach ihren Erfolgen in den auf die Wiedervereinigung folgenden sogenannten Baseballschlägerjahren selbst in Ostdeutschland an Boden verloren hat. 94 Prozent der Deutschen sind mit der Idee der Demokratie völlig einverstanden, 59 Prozent sogar mit ihrem gegenwärtigen Funktionieren. Dennoch glauben bald 75 Prozent der Befragten, dass Leute wie ich keinen politischen Einfluss haben. Die Leipziger Autorinnen und Autoren geben Handlungsempfehlungen, um die Kluft zwischen dem Ideenhimmel und den Erdenbürgern zu schließen: Die durchaus vorhandene Wahrnehmung sozialer Ungleichheit und die Verteilungskonflikten nutzen, um organisierte Lernprozesse in Gang zu setzen. Sie verweisen auf Oskar Negts Klassiker Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen.

Den Datensatz vertiefend interpretierende Zusatzkapitel widmen sich dem Sexismus, der Klimaschutzbewegung, rechtem Hate Speech und Memes. Der Rezensent glaubt, ein bisschen viel mit dem eigentlichen Thema kaum verknüpftes Must have vorzufinden. Er wird eines Besseren belehrt. Memes, so lernt er, sind kleine Einheiten aus Bild und Text, etwas in der Art von Comics, und diese Bildersprache setzt die Neue Rechte erfolgreich ein, um ihre Hassrede im Netz zu verbreiten. Man macht sich mit Memes über Feministinnen lustig oder über effeminierte Militärs. (Ein im Buch wiedergegebene Abbildung zeigt einen russischen Panzer mit großem, aufgerichtetem Kanonenrohr und darunter, mit einem kaum sichtbaren, das NATO-Gefährt). Solche Bilder scheinen gut anzukommen. Eine der Ironie, gar der Selbstironie fähige Rechte, das ist wahrlich was Neues. Eine Medienwissenschaftlerin unterzieht diese Bildsprache einer hermeneutischen Segmentanalyse. Sehr lesenswert dieser Beitrag, wie es der ganze neue Band der Leipziger Langzeitstudie ist.

Die Autoren können sich den eingangs zitierten Anwurf, sie würden bloß Kritische Theorie betreiben, eigentlich ans Revers heften. Kritische Theorie gibt es in der Gegenwart ja in zwei Versionen, in einer historisierenden und in einer aktualisierenden Version. Sie vertreten die letztere, aber marktgängiger ist die erste, vor allem wenn sie mit der Schlüssellochperspektive des Biografischen angereichert ist.

Der Beitrag erschien unter dem Titel „Die dunklen Ressourcen der deutschen Gesellschaft“ zuerst auf Glanz&Elend

Peter Kern
Peter Kern hat Philosophie, Politik und Theologie in Frankfurt am Main studiert, war kurzzeitig freier Journalist, dann langjähriger politischer Sekretär beim Vorstand der IG Metall und ist nun wieder freier Autor und Mitarbeiter der Schreibwerkstatt Kern (SWK).

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