Nichts weist auf einen Kompromisswillen des Kreml hin  

Foto: Nelly Right, Oktober 2014 auf wikimedia commons

„Die ‚Sprache der Macht‘ ist uns Deutschen weitgehend fremd, auch weil wir nicht über die nötigen Sanktionsmechanismen verfügen. Wir brauchen sie aber“, sagt Andreas Wittkowsky im Interview mit Wolfgang Storz. „Zeitenwende“ heiße auch, sich von der unseligen deutschen Tradition zu verabschieden, die Probleme erst dann anzugehen, wenn der innen- und außenpolitische Druck zu stark werde. Bisher habe sich Deutschland trotz gegenteiligen Anspruchs nicht wirklich als Führungsmacht in Europa empfohlen.

Wolfgang Storz: Putin steht „fast alleine da“, sagte jüngst Bundeskanzler Olaf Scholz. Wie wurde erreicht, dass sogar potentielle Verbündete Russlands wie China und Indien auf Abstand gehen? Das Werk von Wladimir Putin oder ein Erfolg westlicher Diplomatie?

Andreas Wittkowsky: In erster Linie ein Resultat der globalen Folgen von Putins Angriffskrieg, aber auch der Entschlossenheit des Westens, diesem unter Inkaufnahme eigener Kosten entgegenzutreten. Das waren erstens der befürchtete Einbruch der Weltwirtschaft infolge von Sanktionen und kriegsbedingter Inflation, zweitens drohende Hungersnöte infolge ausbleibender Getreidelieferungen der Ukraine und drittens das Spiel von Russland, immer wieder mit dem Einsatz von Nuklearwaffen zu drohen. Die westliche Diplomatie hat dann dazu beigetragen, dass sich China und Indien auf dem G20-Gipfel in Bali hinter eine Abschlusserklärung stellten, die den russischen Krieg gegen die Ukraine und den möglichen Einsatz von Atomwaffen auf das Schärfste verurteilt.

Putin-Russland international isoliert, im Krieg ein Patt: Die Ukraine hat bisher bewiesen, sie wird nicht verlieren, Russland hat bewiesen, es kann nicht gewinnen. Und der Winter ist nahe, in dem das Wetter große Militäroperationen erschwert. Vor diesem Hintergrund: Was müsste der Westen jetzt tun?

Andreas Wittkowsky: Ich sehe kein Patt. Der Ukraine ist es gelungen, im Süden die Stadt Cherson und das westliche Ufer des Dnipro zu befreien. Die Strategie, den russischen Nachschub systematisch zu zerstören, damit einen Rückzug zu erzwingen und eigene Verluste zu minimieren, ist aufgegangen. Auch die erfolgreiche Gegenoffensive im Nordosten bei Charkiw ist zwar ins Stocken geraten, aber nicht beendet. Nur im Osten, im Gebiet Donezk, kann Russland mit einem massiven Einsatz von Truppen und Artillerie noch minimale Geländegewinne erzielen. Aktuell werden diese Angriffe mit den Truppen verstärkt, die aus Cherson abgezogen wurden, um den wichtigen Nachschubweg entlang des Asowschen Meers außer Reichweite der ukrainischen Geschütze zu halten. Gleichzeitig legt Russland tief gestaffelte Verteidigungslinien an, selbst auf der 2014 annektierten Krim, weil es weitere ukrainische Vorstöße befürchtet.

Verpasste diplomatische Chancen?

Ist in diesen Wochen die Situation reif, um mit einigem diplomatischen Geschick in ernsthafte Verhandlungen einzusteigen? Wer muss die Initiative wagen, damit sie vielversprechend ist: die EU, die USA, China?

Andreas Wittkowsky: Nur wem strategisches Denken völlig fremd ist, würde die Zeit als reif für Verhandlungen bezeichnen. Es ist offensichtlich, dass Menschen und Material der russischen Streitkräfte gegenwärtig erschöpft sind. Auch die jüngste Mobilmachung hat daran nichts geändert. Russland braucht jetzt eine Atempause, um neue Truppen auszubilden und die Vorräte an Waffen und Munition aufzustocken. Die Geschichte ist reich an Beispielen, dass unter solchen Umständen Verhandlungen nur dazu dienen, Zeit zu gewinnen. Nichts weist derzeit auf einen echten Kompromisswillen Russlands hin. Angesichts dessen lässt sich auch die Ukraine nicht auf Verhandlungen ein, weil sie ihre Offensive ohne Aussicht auf ein realistisches Ergebnis ausbremsen würden.

Dr. Andreas Wittkowsky ist Wirtschaftswissenschaftler, arbeitet seit Anfang der 1990er Jahre als Osteuropaexperte, unter anderem mit mehrjährigen Aufenthalten im Kosovo und in der Ukraine. Seit 2011 ist er am Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF), dem Kompetenzzentrum des Auswärtigen Amts für Friedenseinsätze. [Twitter @Twittkowskyi]

Wenn Sie einmal zurückblicken: Gab es seit Februar verpasste diplomatische Chancen? Meine Beispiele: Bereits im März schlug Wolodymyr Selenskyj Verhandlungen auf der Basis vor, die Ukraine bleibe militärisch neutral, wolle aber Mitglied der EU werden. Mario Draghi hat im Mai als italienischer Ministerpräsident im Rahmen eines Vier-Punkte-Friedensplanes ähnliches vorgeschlagen. Warum hat die westliche Diplomatie aus diesen Vorschlägen nicht mehr gemacht? Die wurden ja faktisch beide ignoriert von EU und USA.

Andreas Wittkowsky: Nein. Ignoriert wurden diese Vorschläge von Russland. Die USA und die EU haben darauf beharrt, es sei die Entscheidung der Ukraine, welche Verhandlungspositionen sie einnimmt. Nach den russischen Kriegsverbrechen in Butscha, Irpin und Mariupol hat sich deren Position verhärtet, zumal Russland an den Maximalforderungen einer „Demilitarisierung“ und „Entnazifizierung“ der Ukraine festhält. Damit setzt Russland unverändert auf einen Regimewechsel in Kiew und auf die Zerstörung der ukrainischen Nation.
Und: Am 30. September 2022 hat Putin mit seiner Entscheidung, die Oblaste Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson zu annektieren, erneut seine Kompromisslosigkeit gezeigt und bestätigt, dass er zu echten Verhandlungen nicht bereit ist.

Begleitet wird dies von immer schrilleren Propagandaaktivitäten Moskaus, die immer öfter genozidalen Charakter haben: Sie sprechen den Ukrainerinnen und Ukrainern nicht nur ihre Selbstidentifikation als Nation, sondern ihre menschlichen Eigenschaften überhaupt ab. Ex-Präsident Medwedjew hat gerade gegen die „Kakerlaken im Kiewer Insektarium“ gehetzt.

Wie einflussreich sind die Falken in den USA?

Bei den Kritikern von Waffenlieferungen, bei Friedensbewegung, bei Linken bis weit in die SPD hinein heißt es, es würde zu wenig verhandelt. Auch weil die Falken in den USA die Gelegenheit nutzen wollten, um Russland militärisch entscheidend auf Dauer zu schwächen.

Andreas Wittkowsky: Noch einmal: Es wäre fatal, aus einem friedenspolitischen Wunschdenken heraus Verhandlungen anzustreben, die Russland lediglich eine Atempause verschaffen. Auch in unserem eigenen sicherheitspolitischen Interesse ist die Überlegung völlig legitim, eine fortgesetzte Aggression Russlands – aber auch Wiederholungstaten anderer Staaten – abzuschrecken. Wenn eine dauerhafte militärische Schwächung Russlands dazu beiträgt, künftige militärischen Aggressionen zu verhindern, sollte dies in das politische Kalkül des Westens einfließen.

Aber wie einflussreich sind die Falken in den USA?

Andreas Wittkowsky: Begrenzt. Wir sehen doch, dass die Biden-Administration ihre prinzipielle Unterstützung für die Ukraine mit Bestrebungen verbindet, den Krieg nicht maximal zu eskalieren. Kürzlich haben CIA-Direktor William Burns und US-Sicherheitsberater Jake Sullivan Gespräche mit ihren russischen Gegenspielern geführt. Seitdem hat Russland seine nukleare Rhetorik spürbar zurückgefahren. Es ist davon auszugehen, dass hinter verschlossenen Türen sehr deutliche Ansagen zu einer möglichen US-Reaktion gemacht wurden. Diese „Sprache der Macht“ ist uns Deutschen weitgehend fremd, auch weil wir nicht über die nötigen Sanktionsmechanismen verfügen. Wir brauchen sie aber.

Erinnert sei auch an die beiden Verträge, die Russland den USA und der NATO vor einem Jahr zur Unterschrift vorlegte — schon damals unterlegt mit Warnungen vor einer nuklearen Eskalation. Danach sollten USA und NATO die NATO-Osterweiterung rückgängig machen und die USA sollte mit ihrem nuklearen Schutzschirm aus Europa verdrängt werden. Die Antwort der USA und deren Bemühen, trotz dieser ultimativen Forderungen Ansatzpunkte für weitere Verhandlungen herauszudestillieren, war durchaus konstruktiv, wurde aber von Putin abgelehnt. Er wollte nicht verhandeln, er wollte den Krieg.

Eine Spekulation: Hätten die Kritiker die Politik von EU und Deutschland bestimmt und es wären gar keine oder deutlich weniger Waffen geliefert worden. Wie wäre dann der Stand der Dinge? Und noch die gegenteilige Spekulation: Was wäre heute, hätte der Westen früher deutlich mehr und gezielt Panzer- und Luftabwehrwaffen geliefert?

Andreas Wittkowsky: Ohne die westliche Unterstützung bei der Aufklärung und Ausbildung, ohne die Lieferung moderner Panzerabwehr-, Artillerie- und Luftabwehrraketen wäre es der Ukraine nur unter wesentlich höheren Opfern gelungen, die Russen im Frühjahr aus dem Großraum Kyiw zu vertreiben. Gleiches gilt für die Offensive bei Charkiw. Ob jene in Cherson überhaupt Erfolgsaussichten gehabt hätte, ist fraglich. Hätte der Westen die Ukraine deutlich früher und umfangreicher unterstützt, wäre ihr Blutzoll geringer gewesen.

Umso wichtiger ist es jetzt, so schnell wie möglich das zu liefern, was die Ukraine braucht, um ihre Städte zu schützen und weitere besetzte Gebiete zu befreien – in erster Linie Luftabwehrsysteme, Präzisionsartillerie und Panzer. Zwar hat es die ukrainische Armee vermocht, Gerät und Munition von den Russen zu erobern. Aber es ist absehbar, dass dieses erbeutete Material schon bald verbraucht ist, die Ukraine also westlichen Ersatz braucht. „Zeitenwende“ heißt auch, sich von der unseligen deutschen Tradition zu verabschieden, die Probleme erst dann anzugehen, wenn der innen- und außenpolitische Druck zu stark wird. Bisher hat sich Deutschland trotz gegenteiligen Anspruchs nicht wirklich als Führungsmacht in Europa empfohlen.

Wie stark ist der ukrainische Widerstandswillen?

Wie stark ist denn nach den vielen Monaten eines erschütternden und zermürbenden Krieges der Widerstandswille im ukrainischen Volk? Ist der ‚von oben‘ erzwungen? Gibt es viele Deserteure? Gibt es dazu verlässliche Umfragen?

Andreas Wittkowsky: Die übergroße Mehrheit steht hinter Präsident Selenskyj und der militärischen Führung. Eine Umfrage im Juli zeigte, dass 90 Prozent der Bevölkerung territoriale Zugeständnisse ablehnen. Auch die russischen Terrorangriffe, mit denen gerade die Energie- und Wasserinfrastruktur der Ukraine zerstört wird, führen zu keinem Meinungsumschwung. Trotz aller Unbill finden die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer Mittel und Wege, mit dieser Lage umzugehen. Sie sind deutlich resilienter als wir, brauchen aber unsere Unterstützung, um durch den Winter zu kommen.
Das heißt nicht, dass alle Männer im wehrfähigen Alter bereit sind, in diesem Krieg zu kämpfen. Im Vergleich zur russischen Mobilmachung ist aber die Zahl derer, die sich freiwillig melden, beachtlich.

Kritiker von Waffenlieferungen vertreten oft zudem die Thesen: Die Politik der Ukraine sei stark von Rechtsextremen und Oligarchen bestimmt, von Korruption geprägt, von einer auch nur halbwegs funktionierenden Demokratie könne keine Rede sein. Was stimmt daran?

Andreas Wittkowsky: Eines vorweg: Es ist seit Jahren ein zentrales Anliegen der russischen Propaganda, den Maidan der Jahreswende 2013/14 als „faschistischen Putsch“ und die gewählte Führung der Ukraine als „faschistische Junta“ zu diffamieren, während gleichzeitig Kreml-nahe Institutionen rechtsradikale Bewegungen in ganz Europa fördern. Sie verfolgt das Ziel, die Ukraine zu diskreditieren und den russischen Überfall zu legitimieren, indem er in die Tradition des Sieges über den Faschismus im Zweiten Weltkrieg gestellt wird. Anderseits bezweckt sie, dass wir uns im Westen genau über diese Themen „unterhalten“ und damit ablenken von der Unterstützung der Ukraine.

Tatsächlich hat die Unzufriedenheit mit Oligarchen und Korruption die ukrainische Gesellschaft sehr stark mobilisiert mit dem Ziel, Abhilfe zu schaffen. Seit dem Maidan gibt es eine Fülle zivilgesellschaftlicher Aktivitäten, die Reformen einfordern und kritisch begleiten. Selenskyj hat mit diesen Themen seine Präsidentschaft errungen. Die angestrebte EU-Mitgliedschaft wird das Anliegen auf der Tagesordnung halten.

Und der Vorhalt des Rechtsradikalismus?

Andreas Wittkowsky: Was rechtsradikale Kräfte anbelangt: Die gibt es auch in der Ukraine. Sie zeigt sich aber wenig anfällig für deren Gedankengut – gerade auch im Vergleich mit anderen europäischen Ländern. Alle Versuche Rechtsradikaler, in der ukrainischen Politik Fuß zu fassen, sind gescheitert. Bei den Parlamentswahlen 2019 wurde ein einziges von 450 Mandaten von einer rechtsradikalen Partei errungen, der „Freiheitspartei“ Swoboda.

In der Diskussion steht besonders das umstrittene Regiment Asow im Vordergrund. Entstanden als Freiwilligenbataillon spielte es 2014, bei der Abwehr der ersten russischen Angriffe auf die Ostukraine, eine wichtige Rolle. In Symbolik und Gedankengut ist seine Nähe zu rechtsradikalen Strömungen nicht zu verleugnen. Noch 2014 wurde das Bataillon deshalb in die Nationalgarde integriert: zum einen, weil es vor Ort gebraucht wurde, zum anderen, weil man es so besser unter Kontrolle haben wollte. Dies entspricht einer international verbreiteten Praxis zur Re-Integration von Kombattanten. Tatsächlich scheint diese Einbindung gelungen zu sein. Wegen seiner Rolle bei der Verteidigung Mariupols im Frühjahr hat das Regiment landesweiten Heldenstatus erlangt.

Fahnenwache des Asow-Bataillons während der offiziellen Zeremonie im Innenministerium der Ukraine zu Ehren der Verwundeten und Toten des Krieges im Donbass, 22. August 2014 (Foto: UTR News auf wikimedia commons)

All die gelieferten Waffen hätten ohne diesen Widerstandswillen, den Sie oben skizziert haben, vermutlich wenig genutzt. Zumindest für die westliche Politik, aber auch für die russische war das die große Überraschung in diesem Krieg. Wird diese große Überraschung nach dem Krieg vor allem in den westlichen Gesellschaften die Debatte über den Wert von Nationalbewusstsein, die Abwägung von Nationalbewusstsein versus Internationalismus verändern?

Andreas Wittkowsky: Das ist zu hoffen. Ich frage mich immer öfter, wie wir reagieren, wenn Deutschland und seine Bündnispartner noch stärker unter den Druck einer hybriden Kriegsführung geraten. Denn diese hat bereits begonnen. Wir sehen das am zunehmenden Einsatz von Desinformationen und der „Gaswaffe“. Sind wir bereit, uns auf die Stärken der gesellschaftlichen Solidarität zu besinnen? Oder lamentieren wir weiter über einen ansatzweise überforderten Versorgungsstaat? Und empfiehlt uns ein öffentlicher Diskurs, der uns von einem Untergangsszenario in das nächste jagt, ein „Lieber rot als tot 2.0“? Oder trägt er dazu bei, die im Ausland sprichwörtliche „German angst“ zu überwinden?

Im Übrigen: Es gibt keinen Internationalismus ohne aufgeklärtes Nationalbewusstsein, mag man ihn Verfassungspatriotismus oder anders nennen. Die Unterstützung der Ukraine ist doch Internationalismus in Reinkultur. Neben der staatlichen Hilfe steht eine überwältigende Solidarität mit geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern. Und die deutsche Zivilgesellschaft unterstützt auch humanitäre, politische und militärische Aktivitäten der Ukraine.

Siehe auch „Waffenstillstand fordern? Gut gemeint, nicht durchdacht“ und „Putin geht es um weit mehr als die Unterwerfung der Ukraine

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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