Das Land, in dem das Proletariat nicht genannt werden darf: Walter Benjamin hat das einmal geschrieben, und der Satz drängt sich auf, denkt man an das sogenannte Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Nur die FDP redet noch Klartext und der Chef vom Baugewerbeverband. „Wir reden zwar immer von Fachkräftemangel, tatsächlich haben wir aber in Deutschland einen Arbeitskräftemangel.“ Der Verbandschef stimmt dem FDPler zu. „Und diese Erkenntnis darf nicht erst eintreten, wenn Horden von Akademikern jahrelang warten müssen, bis sie ihr Dach repariert bekommen; da muss jetzt schnell etwas passieren.“ Geschlossene Restaurants, chaotische Zustände auf den Flughäfen, keine Chance auf einen Handwerkertermin – es herrscht Arbeitermangel in der Angestelltengesellschaft.
Bäcker, Mauerer, Busfahrer, Lageristen, Pflegerinnen und Pfleger, Kellnerinnen und Kellner werden gesucht. Bald zwei Millionen offene Stellen registriert die Arbeitsmarktforschung Mitte des Jahres 2022. Von fehlenden Arbeitern ist jedoch selten die Rede. Ein Euphemismus muss her. Von Fachkräften zu reden, kommt einer semantischen Verbeugung gleich, ähnlich der Raumpflegerin, die die Putzfrau ersetzt hat.
Das konservative Leitmedium der Gebildeten sieht die sich bietende Chance eines Tauschhandels: Die entwickelten Gesellschaften der nördlichen Halbkugel brauchen Handlanger in der Industrie, dem Handwerk und in der schlecht bezahlten Dienstleistung, während die südliche Halbkugel solche Arbeitskräfte im Übermaß aufweist. „Theoretisch stehen rund um die Erde genug potentielle Arbeitskräfte zur Verfügung“, so die FAZ.
Der Dünkel ist unsichtbar, weil so stark verbreitet
Woran liegt es, dass es an solchen Arbeitskräften in der deutsche Gesellschaft mangelt? An der „gesellschaftlichen Statuswahrnehmung“, weiß der zitierte Berufsforscher. Den Arbeiterberufen haftet demnach ein Makel an. Die auf Berufe mit körperlicher Arbeit vereidigten Personen gelten als Plebejer. Der den Bürgern früherer Jahrhunderte eigene Dünkel ist keineswegs verschwunden. Er ist bloß unsichtbar, weil er sehr große Ausmaße hat.
Die für die Schicht der Angestellten typische Büroarbeit hat die körperlich beanspruchende Arbeit abgewertet. Solche Abwertung wäre bis in die 70er Jahre der alten Bundesrepublik ganz undenkbar gewesen. Damals stand die heimische Eisen- und Stahlindustrie am Prozessbeginn der wichtigsten Produktionszweige, und der Hüttenarbeiter war die emblematische Figur einer sich als Industriegesellschaft begreifenden Gesellschaftsformation.
Die dreckigsten Jobs dieser Ära ( z. B. das Säubern der Gussformen mit dem Sandstrahler) fielen damals den Gastarbeiter genannten Fellachen zu. Diese Jobs sind weitgehend verschwunden, der Rationalisierung sei Dank. Aber die körperliche Arbeit ist nicht verschwunden. Auch ein sich als Wissensgesellschaft verstehendes Land braucht Tätigkeiten, die ihr gleichwohl als minderwertig gelten.
Der soziale Unterschied zwischen Arbeitern und Angestellten sei am Verschwinden, prognostizierten vor einem halben Jahrhundert die Sozialwissenschaften. Die klassische historische Studie von Jürgen Kocka (Die Angestellten in der deutschen Geschichte 1850-1980) zeugte davon. Zugleich trat die Differenz schärfer denn je hervor. Günter Wallraffs ‚Ganz unten‘ (wenige Jahre später geschrieben) zeigte einen durch die deutsche Gesellschaft gehenden, sozial determinierten und ethnisch überdeterminierten Riss.
Migrant:innen als Malocher
Was hat diese historische Retrospektive mit der Gegenwart zu tun? Der Riss ist das Verbindende, und in der Debatte um das geplante Einwanderungsgesetz taucht der alte Gastarbeiter wieder auf.
Die deutsche Gegenwartsgesellschaft braucht weiterhin die ganz unten werkelnden Alis, deren ungelebtes Leben Wallraff gezeigt hat. Der Mangel an Malochern macht auf die Maloche aufmerksam. Auf den großen Baustellen wird rumänisch oder serbo-kroatisch gesprochen; die Pflege der alten Eltern übernehmen polnische Frauen; das Haareschneiden in den Großstädten ist das Metier türkischer Friseure; das Reinigungsgewerbe wird zur Domäne der Schwarzafrikaner; an den Bändern der Auto-, Metall- und Elektroindustrie stehen überproportional viele Menschen migrantischer Herkunft.
Die autochthone Bevölkerung ihrerseits schickt ihre Kinder zunehmend auf die Gymnasien und auf die Hochschulen. Die Zahl der Studierenden ist erstmals höher als die der Azubis. Die akademische Ausbildung gibt das Plateau vor, von dem der berufliche Aufstieg seinen Anfang nehmen soll. Was einmal Proletariat hieß, hat dagegen ein Nachwuchsproblem. Die Einwanderung soll diese Kalamität lösen helfen.
In ihrer Soziologie ähnelt die deutsche Gesellschaft den anderen entwickelten Industrieländern. Alle sind überaltert und verstehen sich keineswegs mehr als Industrienationen. Die VWL hat längst schon den Übergang zum Postindustrialismus festgestellt. Der tertiäre Sektor sei dominant geworden, in der sogenannten Dienstleistung liege die Zukunft.
Es sind die Abstraktionen aus dem VWL-Lehrbuch, die an der ökonomischen Realität zerschellen. Durch die zurückliegenden Krisen sind die Volkswirtschaften mit einem hohen Anteil an Industrieproduktion noch am besten hindurchgekommen. Die EU-Kommission hat daraus den logischen Schluss gezogen, die industriellen Sektoren in den Mitgliedsländern zu stärken.
Trommeln gegen den Trend
„Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören“, hat Hegel einmal geschrieben. Dem geplanten Gesetz fällt die Aufgabe zu, die von Abstraktionen verursachten Scherben zusammen zu fügen. Die Gewerkschaften stehen der Bundesregierung bei dieser Anstrengung bei. Was keineswegs selbstverständlich ist; denn im Unterschied zum Klientel der Grünen und der FDP müssen die von ihnen vertretenen Berufsgruppen mit Konkurrenz auf den Arbeitsmärkten durchaus rechnen. Die offenen Jobs der Gegenwart können in naher Zukunft rasch wieder verschwinden, falls der fortdauernde Krieg die Rezession bis zur manifesten Krise verschärft.
Was leitet die Politik der Gewerkschaften? Ihr Blick auf die ökonomischen Realitäten ist nicht durch VWL-Lehrbücher verstellt. Trifft ein Buch auf einen Kopf, und es klingt hohl, kann es am Kopf liegen, schreibt Lichtenberg, aber der umgekehrte Fall ist auch denkbar. Die Gewerkschaften trommeln für die berufliche Ausbildung, aber es ist ein Trommeln gegen den Trend. Die offizielle Politik lobt die duale, dreijährige Ausbildung über den grünen Klee, aber es sind weitgehend Lippenbekenntnisse geblieben. Seit der Pisastudie ist vorgegeben: Die akademischen Bruttoregistertonnen sind das Maß aller Dinge.
Die Gewerkschaften sind in der Frage der Einwanderung in keinem Reiz-Reaktionsschema befangen. Dass die Bundesvereinigung der deutschen Industrie die Einwanderung will, gilt ihnen nicht als Grund, um dagegen zu sein. Die BDI will die Arbeitskraft am liebsten zum Weltmarktpreis, also spottbillig haben, und die DGB-Verbände wollen die Gewähr für nicht unterlaufene Tarifverträge. In den tariflich ungeregelten Sektoren muss der Mindestlohn seinen Schutz entfalten, fordern sie; das ist ihr Preis für die Zustimmung zum geplanten Gesetz. Das Gesetz, dessen Eckpunkte das Bundeskabinett am 30. November 2022 verabschiedet hat, wird diesen Forderungen wohl Rechnung tragen.
Die Gewerkschaften wollen die gewerbliche, aus Berufsschule und Lehrwerkstatt kombinierte Ausbildung nicht weiter geschwächt sehen. Zugleich ist ihnen bewusst, dass dieses hohe Niveau der dualen Ausbildung die Zuwanderung sehr erschwert. Man ist von Gewerkschaftsseite zu einem Kompromiss bereit: Im Ausland erworbene Zertifikate anzuerkennen, soll erleichtert werden. Auch dürfe es keine Zuwanderung in die Leiharbeit geben. Auch dies wird das geplante Gesetz wohl garantieren. Sich hinter das geplante Einwanderungsgesetz zu stellen, bringt Mut und eine Treue zur gewerkschaftlichen Programmatik zum Ausdruck.
Das Ende der alten verlogenen Gastarbeitersemantik?
Die AfD wird das Gesetz natürlich heftig attackieren und die Gewerkschaften gleich mit. Deren Mitglieder sind für AfD-Parolen durchaus anfällig. Das männliche, nicht mehr ganz junge, wenig qualifizierte Mitglied lässt sich vom nationalistischen ‚Wir Deutsche’ leicht betören. Bei Landtagswahlen haben Gewerkschafter überproportional AfD gewählt, die Wahlanalysen zeigen dies. In der letzten, der Niedersachsen-Wahl war der Zuspruch für die Rechten dort wieder hoch, wo der Strukturumbruch die Angst vor dem Jobverlust wachsen lässt. So in der von der Stahlproduktion geprägten Region in Salzgitter, so in den Wohnbezirken um das VW-Werk in Wolfsburg.
Die „Kinder statt Inder“-Parolen der vormerkelschen CDU hallen nach. Was dem Herrn Rüttgers die Inder waren, ist dem Herrn Merz der „Sozialtourismus“. Stimmung gegen die Einwanderung zu machen, soll helfen, wieder an alte Erfolge anzuknüpfen. Das gilt für CDU und für die AfD. Beide werden die Frage der Einbürgerung und der doppelten Staatsbürgerschaft politisieren, mit der Hoffnung, dass diese Frage den Sprengstoff birgt, den sie gegen die Regierung zünden wollen.
Das Gesetz wird sich in dieser Frage nicht bedeckt halten können, denn die Vorgabe des Koalitionsvertrags ist eindeutig: „Wir schaffen ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht. Dafür werden wir die Mehrfachstaatsangehörigkeit ermöglichen und den Weg zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit vereinfachen. Eine Einbürgerung soll in der Regel nach fünf Jahren möglich sein, bei besonderen Integrationsleistungen nach drei Jahren. Eine Niederlassungserlaubnis soll nach drei Jahren erworben werden können. In Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern werden mit ihrer Geburt deutsche Staatsbürgerinnen bzw. Staatsbürger, wenn ein Elternteil seit fünf Jahren einen rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat.“
Ein solches, Einwanderung und Einbürgerung verbindendes Gesetz ist dann das Ende der alten, verlogenen Gastarbeitersemantik. Wer hierzulande mit Arbeit dauerhaft sein Leben und das seiner Angehörigen fristet, dem werden seine republikanischen Rechte nicht mehr verweigert. In den DGB-Gewerkschaften hat die Ampelkoalition einen verlässlichen Partner für eine republikanische Regelung. Die Arbeitskraft willkommen heißen und den Staatsbürger abwehren, diese Rechnung geht nicht mehr auf. Jeden zehnten Beschäftigten und gar jeden vierten Leiharbeiter vom Wahlrecht auszuschließen, wie es die bisherige Praxis ist, (verdi verweist auf diese Zahlen) kann sich keine auf demokratische Legitimation verwiesene Regierungsform leisten.
Cargohose und Doc Martens Stiefel
Das der Bundesarbeitsagentur angegliederte Institut IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) weist in seiner Statistik jährlich über acht Prozent Ausländer aus, die nicht hierbleiben wollen. Hinter der Abwanderung stehen enttäuschte Erwartungen. Viele haben sich auf das Wagnis Deutschland eingelassen, aber für ihre Partner und Kinder keine Zuzugsperspektive vorgefunden. Bietet das neue Gesetz diese Perspektive, wird die Zuwanderung eher von Dauer sein.
Was zu Zeiten des Reichskanzlers Bismarck einmal die Arbeiterfrage hieß, ist wieder zurückgekommen; eine ironische Reprise in einer Gesellschaft der Angestellten. Ein Zuwachs an wahrgenommener gesellschaftlicher Realität könnte die Folge sein. Diese Gesellschaft schwelgt ja gerne in Illusionen; besser gesagt, sie wird geschwelgt. Das der Einwanderung einen instruktiven Artikel widmende Handelsblatt gibt im hinteren Teil lebenspraktische Ratschläge für die Liebe zur Arbeit in Zeiten der Pandemie. Es listet die „vier Homeoffice-Typen“ auf, als da wären: „Die einsamen Single, die Freiheitsliebenden, die frustrierten Kreativen, die Überarbeiteten.“ Vorne im Blatt ist die Einwanderung Thema, hinten die Auswanderung: „Überlege dir also als erstes, wo es dich hinzieht. Willst du nach Feierabend noch eine Runde schwimmen? Oder morgens in den Bergen wandern? Solange du nur einen Laptop für die Arbeit brauchst, hast du die freie Wahl.“
Dem ‚Abschied vom Proletariat‘ war einmal ein ganzes Buch von André Gorz gewidmet. Zwischenzeitlich ist die Garnitur des Proletariats, die Stiefel von Doc Martens, die Cargohose von Carhartt, zum stylischen Outfit von Hip Hop und Antifa geworden. Und plötzlich wird es wieder leibhaft herbeigesehnt, im Land, das seine Erwähnung verpönt.
Unter dem Titel „Maloche in den Zeiten der Migration“ erschien der Beitrag zuerst auf Faustkultur.