Was, wenn der Computer vor dem Auto erfunden worden wäre?

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Stellen wir uns also eine Welt vor, in der aus welchen Gründen auch immer der Transistor vor dem Privatauto massenhaft produziert worden wäre. Vermutlich wären selbstfahrende Autos zur Regel geworden, menschlich gesteuerte hingegen nicht mehr als Zirkusattraktionen, vorgeführt von tollkühnen Männern. Vermutlich hätte die Entwicklung bei den Nutzungsformen einen anderen Pfad eingeschlagen. Der „Herrenfahrer“ – so bezeichnet der Soziologe Andreas Knie den wohlhabenden Autobesitzer früher Tage, der sich zum luxuriösen Gefährt locker auch noch einen Chauffeur leisten konnte – wäre nicht vom „Selbstfahrer“ abgelöst worden, also dem demokratischen, nicht mehr aristokratischen buchstäblichen Jedermann am Steuer seines eigenen Gefährts, sondern vom „Automatenfahrer“, dem zahlenden Passagier fahrerloser Transportmobile.

I Computer, Auto und fahrerloser Kapitalismus

Als vielleicht wichtigste Erfindungen des 20sten Jahrhunderts können gut und gerne das Automobil und der Computer gelten. Der Gesellschaftsgeograph Robert Horvath erklärte das Auto kurzerhand zur „möglicherweise bedeutendsten Innovation der amerikanischen Kultur im zwanzigsten Jahrhundert“ (Horvath 1974, S. 169). Dass das Auto bereits im vorhergehenden Jahrhundert und in Europa erfunden wurde, tut dem wenig Abbruch. Denn erst mit Fords Massenproduktion erlangte das Auto den Status, den es bis heute innehat: Den einer Innovation, die es zur weltumspannenden Basistechnologie im Anthropozän gebracht hat – fraglos ein in erster Linie us-amerikanisches Verdienst.

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Computer. Bereits 1938 gelang es zwar dem Berliner Konrad Zuse, die erste programmierbare Rechenmaschine zu konstruieren und zum Laufen zu bringen. Doch sowohl der kommerziell-industrielle Durchbruch als auch die massenmarktliche Verbreitung dieser Elektronenrechner ging von den USA aus. Erst in den 1970er Jahren wurde der Rechenautomat auch zum Massenprodukt, seine englische Bezeichnung weltweit geläufig, und der Computer so letztlich ebenfalls zu einer bedeutenden „Innovation der amerikanischen Kultur“. Adam Greenfield bezeichnete wiederum das Smartphone – das viel weniger ein Telefon, denn ein internet communication device (so Steve Jobs über das neue Gerät bei der Vorstellung desselben), also ein internetfähiger Computer ist – als „signiture artifact“ (etwa: paradigmatisches oder Gerät schlechthin) unserer Zeit (Greenfield, 2017, S. 9).

Der Autor

Timo Daum ist Physiker, Hochschullehrer und Sachbuchautor, sein Arbeitsschwerpunkt ist der digitale Kapitalismus. Sein Buch „Das Kapital sind wir: Zur Kritik der digitalen Ökonomie“ erhielt 2018 den Preis „Das politische Buch“ der Friedrich-Ebert Stiftung. Zuletzt erschien von ihm der Band „Die unsichtbare Hand des Plans. Koordination und Kalkül im digitalen Kapitalismus“ bei Dietz Berlin, den er zusammen mit Sabine Nuss herausgegeben hat. Timo Daum ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe „Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). Website: www. 2pir.de

Der Beitrag ist entnommen aus : Otto Brenner Stiftung (Hrsg.) (2022): Welche Arbeit machen wir? Zur Zukunft von Wirtschaft, Natur und Kultur. Das Buch gibt es als Download und (kostenlos, vielleicht noch) als gedrucktes Exemplar bei der Otto Brenner Stiftung.

Es gibt also schon von vorneherein durchaus Parallelen zwischen diesen beiden, das vergangene und wohl auch das gegenwärtige Jahrhundert prägenden Innovationen. Beiden gelang es in beeindruckender Weise, ihrer Zeit den Stempel aufzudrücken, unsere Städte und Landschaften, unsere Art zu arbeiten und zu freizeiten, ja unser Denken und Handeln über weite Strecken zu prägen. Aber haben sie auch die gesellschaftliche Funktionsweise verändert, in deren Umfeld sie zu Innovationen wurden? Wurde doch in der Geschichte – darauf hat Evgeny Morozov (2012) hingewiesen – jeder nennenswerten Erfindung zugetraut, den Kapitalismus in Schwierigkeiten zu bringen.

Dass das Kapital systematisch die Anwendung von Erfindungen zu seinen Diensten betreibt, um seine Verwertung zu sichern, haben wir von Karl Marx gelernt. Es wird aber auch – und darum soll es in diesem Text in der Hauptsache gehen – von deren Einsatz selbst zu substantiellen systemischen Veränderungen gedrängt, ja geradezu gezwungen. Wie der Verbrennungsmotor die Sprengkraft vieler Explosionen bändigen muss, muss auch das kapitalistische Gesamtsystem die – wenn auch nur mögliche oder vermeintliche – Sprengkraft von Erfindungen entschärfen und wie beim Verbrennungsmotor in viele kleine kontrollierte Explosionen ummünzen. Womit wir schon mittendrin wären, und mit der Einstiegsfrage beginnen können:

Wie würde unsere Welt aussehen, wenn der Computer vor dem Auto erfunden worden wäre?

Als er noch CEO von Google war, bemerkte Eric Schmidt einmal, es sei eigentlich völlig unverständlich, dass Menschen Autos steuerten und nicht Computer. „Es ist ein Fehler, dass Autos vor Computern erfunden wurden“, sagte er und ergänzte: „Dein Auto sollte von allein fahren“ (ziti. na.: Siegler 2010). Er implizierte damit die These, dass, wäre der Computer zu einer gewissen Reife gelangt, noch bevor das Auto sich anschickte, die ganze Erdoberfläche befahrbar zu machen, dieser als bessere Option für die Steuerung in Betracht gekommen wäre; und die Vorstellung, Menschen diese Aufgabe anzuvertrauen, nur Kopfschütteln verursacht hätte. Ganz uneigennützig war diese Überlegung nicht: Sein Brötchengeber Google war damals schon beim Thema Autonomes Fahren vorne mit dabei und gehört heute mit der Alphabet-Tochter Waymo zu den führenden Unternehmen, denen ein kommerzieller Betrieb von fahrerlosen Taxi-Flotten und dergleichen zugetraut wird.

In der Tat erweisen wir Menschen (insbesondere deren männlich gelesene Hälfte) uns tagtäglich aufs Neue als grottenschlechte Fahrer (und Fahrerinnen, diese in einem signifikant geringeren Maße) und als notorisch der uns gestellten Fahraufgaben nicht Gewachsene. Die überwiegende Mehrzahl von Verkehrsunfällen ist auf menschliches Fehlverhalten zurückzuführen. Würden die menschlichen Fahrerinnen und Fahrer durch Algorithmen ersetzt, ließe sich wohl ein Großteil davon vermeiden. Denn die Hauptursachen – Alkohol am Steuer, überhöhte Geschwindigkeit, Selbstüberschätzung und dergleichen gehören nicht zu den Features automatischer Fahrer. Das Duisburger CAR-Institut hat berechnet, dass schon mit dem Einsatz des sogenannten „Autopiloten“ von Tesla, dem derzeit wohl besten Assistenzsystem, eine Reduktion der Straßenunfälle um 90 Prozent erzielt worden wäre. „Wäre das System eingesetzt worden, hätten sich statt 281.849 lediglich 29.413 Unfälle ereignet.“ (Merkur 2021)

Die aus dem Google Car-Projekt hervorgegangene Firma Waymo und einige andere arbeiten dieser Tage fieberhaft daran, diesen – aus Sicht von Schmidt – „bug“ zu reparieren. Sie versuchen, die historisch stattgefunden habende Erfindungsreihenfolge und Durchsetzungsgeschichte nachträglich zu korrigieren und dem Computer denjenigen Platz zuzuweisen, der seinen Fähigkeiten auch zusteht: Den Fahrersitz. In den Worten von John Krafcik, dem mittlerweile auch schon wieder abgelösten Waymo-Chef: „Wir wollen kein besseres Auto bauen, wir wollen lieber bessere Fahrer machen.“ (zit. n.: Weddeling 2016).

Fahrerloser Kapitalismus

Stellen wir uns also eine Welt vor, in der aus welchen Gründen auch immer der Transistor vor dem Privatauto massenhaft produziert worden wäre. Vermutlich wären selbstfahrende Autos zur Regel geworden, menschlich gesteuerte hingegen nicht mehr als Zirkusattraktionen, vorgeführt von tollkühnen Männern. Vermutlich hätte die Entwicklung bei den Nutzungsformen einen anderen Pfad eingeschlagen. Der „Herrenfahrer“ – so bezeichnet der Soziologe Andreas Knie den wohlhabenden Autobesitzer früher Tage, der sich zum luxuriösen Gefährt locker auch noch einen Chauffeur leisten konnte – wäre nicht vom „Selbstfahrer“ abgelöst worden, also dem demokratischen, nicht mehr aristokratischen buchstäblichen Jedermann am Steuer seines eigenen Gefährts, sondern vom „Automatenfahrer“, dem zahlenden Passagier fahrerloser Transportmobile (Knie 2021).

Hätte es schon Computer gegeben, die für eine automatische Kutschensteuerung in Frage gekommen wären – hätte es dann den Boom um das private Auto gegeben? Vermutlich wäre es auch nicht massenhaft an Privatleute verkauft worden, da ja der appeal des Autobeherrschens beim Automaten wegfällt. Auch wären sie wohl zu teuer in der Anschaffung gewesen, um massenhafte Verbreitung zu finden. Fraglich ist auch, ob es einen Ford gegeben hätte, der das Auto für jedermann am Steuer baute. Vermutlich nicht, vermutlich hätte sich ein System etabliert, ähnlich dem, welches heute für das autonome Fahren anvisiert wird: Der Betrieb von Robotaxi-Flotten durch private Betreiber. Sie hätten also – wie das auch heute in den Geschäftsmodellen für autonomes Fahren projektiert wird – als kommerziell betriebene Flotten dem Verkehr jener Zeit ihren Stempel aufgedrückt.

Eines ist jedenfalls sicher: Wir hätten es immer noch mit einer kapitalistisch verfassten Gesellschaft zu tun, auch das Automatenauto wäre keine Erfindung gewesen, die sich systemsprengend ausgewirkt hätte, noch wird sie eine solche Rolle in der Zukunft spielen, so sie denn massenhafte Verbreitung findet – allerdings wäre sie zu einem fabulösen Geschäft geworden, und wird es wohl demnächst werden.

Vermutlich hätten wir es mit einer gänzlich anderen Welt zu tun, einer Art fahrerlosem Kapitalismus. Vermutlich wäre es dem Kapital gelungen, auch in dieser hypothetischen Innovationsreihenfolge die Oberhand zu behalten und einen Haufen Geld zu verdienen. Denn Erfindungen sind diesem äußerlich, bislang ist noch keine, obwohl immer wieder welche ausgemacht wurden, ihm wirklich gefährlich geworden, auch nicht die Informationstechnologie, das Internet, die Blockchain oder das Faxgerät. Zunächst jedoch noch eine kleine historische Korrektur.

II Um ein Haar hätte es geklappt …

Um ein Haar wäre der Computer sogar schon weit vor dem Auto, nämlich zu Zeiten der industriellen Revolution in England erfunden worden. Und damit ein ganzes Jahrhundert bevor es Konrad Zuse im elterlichen Wohnzimmer erstmalig gelang, einen Computer zum Laufen zu bringen und ein halbes Jahrhundert bevor Berta Benz publicityträchtig mit ihres Ehemanns Motorwagen Nummer 1 von Mannheim nach Pforzheim fuhr.

In den 30er Jahren des 19ten Jahrhunderts hatte sich nämlich der Industrielle, Nationalökonom und Erfinder Charles Babbage darangemacht, eine vollautomatische Rechenmaschine zu bauen, die Analytical Engine. Das dampfbetriebene Ungetüm wies bereits alle wesentlichen Elemente moderner Computer auf: Eingabe, Ausgabe, Programmspeicher und -steuerung. Ein 30 Meter langes mechanisches Monstrum, das der erste Computer der Welt hätte werden können, erblickte jedoch nie das Licht der Welt. Seine Maschine ließ sich nicht realisieren, die Feinmechanik jener Zeit und das Fehlen eines Budgets und geeigneten Teams ließen das nicht zu.

Wie wichtig Babbage – obwohl gescheitert – für die nachfolgende Entwicklung war, betont der kanadische Medienwissenschaftler Nick Dyer-Witheford (1999, S. 2): „Sein Einfluss ging weit über den hinaus, der normalerweise mit einem gescheiterten Erfinder verbunden ist“. Denn seine Erfindung und die Überlegungen, die er in diesem Kontext anstellte, können als Vorarbeiten für einen anderen tiefgreifenden Reformator kapitalistischer Arbeits- und Produktionsorganisation gelten, Frederick W. Taylor. Der Erfinder der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation sah Arbeitsabläufe als Prozesse an, die von einem zentralen Management gesteuert und überwacht werden müssten. In The Principles of Scientific Management zerlegte er die Arbeitsleistung in Einzeloperationen und speiste sie optimiert ins System zurück als kleinteilige Vorschriften, denen minutiös zu folgen war (Taylor 1911).

Die Fabrik und der Computer – Atome und Bits

Babbage selbst hatte rund achtzig Jahre zuvor in seinem Buch von 1832 On the Economy of Machinery and Manufactures die Fragmentierung von Arbeitsprozessen in Einzelschritten propagiert, seinen Überlegungen, Rechenvorgänge zu mechanisieren und von einer Maschine abzuarbeiten, nicht unähnlich (Babbage 1832). Bei der Fließbandproduktion von Automobilen wurden Babbages Ideen – via Taylorismus – verwirklicht und die ganze Fabrik zu einer einzigen Maschinerie – die Arbeiter eingeschlossen. Denn es gibt eine direkte Linie von Babbage zu Ford und die führt über Frederick W. Taylor.

Aus der Sicht des englischen Fabrikanten unterscheidet sich nämlich eine Fabrik, wie sie Taylor für Ford dann programmierte, nicht sehr von einem Computer. Die eine prozessiert tangibles (physische Güter) nach einem vorher festgelegten Plan, der andere tut dies mit intangibles (immateriellen Werten bzw. Informationseinheiten). Beide folgen sie einem im Vorhinein programmierten strengen Ablauf, sie sind Manifestationen eines Algorithmus, wie ihn Alan Turing definiert hat: Als Schritt für Schritt abzuarbeitende Rechenvorschrift (Turing 1936). Babbage selbst schreibt: „Was einigen unserer Leser vielleicht paradox erscheinen mag – dass die Arbeitsteilung mit gleichem Erfolg auf mentale Operationen angewendet werden kann und dass sie durch ihre Anpassung dieselbe Zeitökonomie gewährleistet“ (Babbage 1832, S. 153). Aus Babbages Perspektive sind eine Fabrik und ein Computer im Prinzip dasselbe, der eine schiebt Atome hin und her, der andere Symbole.

Für Karl Marx, dem großen Analysten und Kritiker der damaligen industriellen Startup-Szene, war Babbage kein Unbekannter. Hätte die Analytische Maschine zur Marktreife gefunden, hätten wir es vermutlich mit einem Vierten Band des Kapitals zu tun bekommen, einer aus dem Maschinenfragment entwickelten politischen Ökonomie des Computers – ein Jammer, dass uns das nicht vergönnt ist.

Erfinder-Kapitalisten wie Charles Babbage oder Henry Ford haben immer schon versucht, den Produktionsprozess zu systematisieren, die Fabrik zu rationalisieren, Zufälliges und Überflüssiges zu eliminieren. Nick Dyer-Whiteford knüpft an Braverman an, wenn er schreibt: »Babbages Suche nach mechanischen Mitteln, um die Arbeiter sowohl manuell als auch geistig zu automatisieren, war die logische Erweiterung des Wunsches, den menschlichen Faktor zu reduzieren und schließlich zu eliminieren, der den neuen Industriellen nur als Quelle ständiger Fehleranfälligkeit, Disziplinlosigkeit und Bedrohung erschien.« (Witheford 1999, S. 3)

Diese Homologie bringt Shoshanna Zuboff, Autorin von “Überwachungskapitalismus“ und eine der ernstzunehmenden Theoretikerinnen des digitalen Kapitalismus zum Ausdruck. In einer frühen Arbeit aus dem Jahre 1970 beschreibt sie Taylors Programm aus Informationsverarbeitungs-Perspektive: „Zuerst wurde das implizite Wissen des Arbeiters gesammelt und durch Beobachtung und Messung analysiert. Zweitens legten diese Daten, kombiniert mit anderen systematischen Informationen zu Werkzeugen und Materialien, den Grundstein für eine neue Arbeitsteilung innerhalb der Fabrik. Drittens erforderte das neue System eine Vielzahl spezifischer Kontrollmechanismen, um die Regelmäßigkeit und Intensität der Bemühungen zu gewährleisten und gleichzeitig Manager und Planer weiterhin mit den für Anpassungen und Verbesserungen erforderlichen Daten zu versorgen.“ (Zuboff 1988, S. 43).

Zuboff skizziert, wie Taylor in drei Schritten – Datenerhebung, Erstellung des Produktionsprogramms und Überwachung der präzisen Ausführung – aus der Fabrik des 19. Jahrhunderts die moderne Massenproduktionsanlage geschaffen hat. Diese Beschreibung liest sich nicht nur wie eine Anleitung aus der IT, es ist schlicht eine solche. Die Fabrik von Taylor ist aus Zuboffs Sicht nichts anderes als ein computing device, nur dass statt Symbolen und Zeichen, Bits und Bytes, Dinge und Atome bearbeitet werden, oder wie Vilém Flusser das Bearbeiten von physischen Gegenständen im Arbeitsprozess beschreibt, das „Informieren von Gegenständen“ (Flusser 2000, S. 32).

III Von der Erfindung zur Innovation und zurück

Gute Ideen haben wir alle. Und die Wissenschaft hat auch schon das eine oder andere rausgekriegt. Deutlich seltener gelingen Erfindungen, das heißt Geräte, Funktionsweisen oder Prozesse zu entwickeln, die Regeln der physikalischen Welt in neuer Weise nutzbringend kombinieren. Ist eine Erfindung dann konkretisiert, also beispielsweise ein funktionsfähiger Prototyp gelungen, ist diese vielleicht sogar patentiert, sprich: ihr ist von den zuständigen Behörden ausreichende Schöpfungstiefe attestiert worden, beginnt der schwierigere Teil. Konrad Zuse war es übrigens seinerzeit nicht gelungen, ein Patent auf seine programmierbare Rechenmaschine zu erhalten. Nach 26 Jahren Litigation wies das Bundespatentgericht in München sein Ansinnen endgültig ab. Zur Begründung stand zu lesen: „Die Neuheit und Fortschrittlichkeit des mit dem Hauptantrag beanspruchten Gegenstands sind nicht zweifelhaft. Indessen kann auf ihn mangels Erfindungshöhe kein Patent erteilt werden.“ (Petzold 1998, S. 65).

Nachbau der Z1 im Deutschen Technikmuseum Berlin. Das Original war im Wohnzimmer seiner Eltern aufgebaut und wurde samt den Plänen im Bombenkrieg zerstört. In den Jahren 1987 bis 1989 hat der damals fast 80-jährige Zuse seine Z1 aus der Erinnerung nachgebaut. (Foto: ComputerGeek – de.wikipedia.org: 22:33, 27. Dez 2005. CC BY-SA 3.0)

Ob eine gelungene Erfindung tatsächlich und zahlreich zur Anwendung kommt, steht auf einem anderen Blatt. Ob eine Erfindung zur Innovation wird, also zum ökonomisch verwertbaren und tatsächlich auf breiter Front eingesetzten Produkt – dazu gehört mehr als nur eine gute Idee oder der virtuose Einsatz der Naturgesetze. Der Erfinder oder die Erfinderin muss in die Rolle des Unternehmers oder der Unternehmerin schlüpfen und eine viel größere Herausforderung annehmen: Die Erfindung in die Form eines Produkts oder einer Dienstleistung gießen, sie auf den Markt werfen und hoffen, dabei zu reüssieren (und nicht bereits an bornierten Patentamtsleuten zu scheitern).

Nur ganz wenigen Innovationen ist es wiederum vergönnt, als Basistechnologie eine Ära zu begründen, als technologische Entwicklung die gesellschaftliche Betriebsweise nachhaltig zu beeinflussen. Das Auto und der Computer – das sind zwei solche Basistechnologien im Sinne der Theorie der langen Wellen, wie sie Kondratieff skizzierte. Nach der Innovationstheorie entstehen diese Wellen aus der Bündelung von Basisinnovationen, die technologische Revolutionen auslösen, die wiederum führende Industrie- oder Handelszweige hervorbringen.

Die britisch-venezolanischer Spezialistin für sozioökonomische Entwicklung Carlota Perez nennt diese Basisinnovationen „technologische Systeme“ bzw. „gesellschaftliche und institutionelle Einrichtungen“, die rund um ein Innovationsparadigma herum aufgebaut sind. Im Prozess der Anpassung der Gesellschaft an das neue Paradigma macht sie drei Etappen fest: Erstens „die Entwicklung der dazugehörigen Dienstleistungen (erforderliche Infrastruktur, spezialisierte Lieferanten und Händler, Kundendienstnetze usw.)“, zweitens „die ‘kulturelle`‘ Anpassung an die Eigenlogik des betreffenden Technologieverbunds (bei Ingenieuren, Managern, Verkäufern, Kundendienst, Verbrauchern, usw.)“ und drittens „den Aufbau institutioneller Unterstützung (Regelungen und Gesetze, spezialisierte Schulung und Ausbildung usw.)“ (Perez 1998, S. 27).

Der relative Mehrwert …

Der Kapitalismus macht Erfindungen produktiv, er setzt sie zur Profitmaximierung ein. Noch jede Technologie wird vom Kapital in seinem Sinne eingesetzt, integriert in den Ausbeutungsprozess. Vor und nach Babbage sind noch alle Kapitalisten angetreten, Fließbänder – handfeste oder digitale – in der Produktion anzuwenden in ihrem Streben nach der günstigeren Produktion, dem Vorteil gegenüber der Konkurrenz, dem relativen Mehrwert, wie von Karl Marx im ersten Band des Kapitals ausführlich beschrieben. Rainer Fischbach (2021, S. 19) schreibt: „Die ökonomische Diskussion lokalisiert technologische Innovation meist im Zusammenhang der Konkurrenz von Unternehmen um Kostenvorteile, also in einem Kontext, den die marxistische Tradition als Kampf um den relativen Mehrwert charakterisiert.“ Aber das ist nur die halbe Wahrheit.

… ist nur die halbe Wahrheit/Miete

Nur auf den letzten beiden Stufen – Innovation und Basistechnologie – wirken sich Erfindungen in der ökonomischen Sphäre überhaupt aus, wenn sie zu innovativen Produkten oder Produktionsweisen führen. Gar nur die letzte Stufe hat ausreichend starke Rückkopplung auf die Institutionen und die gesellschaftliche Betriebsweise. Der Begriff der gesellschaftlichen Betriebsweise, der sich bereits in Marx‘ Kapital findet (1967, S. 496), illustriert diesen Prozess der Rückkopplung auf die gesellschaftliche Gesamtheit. Beim berühmten Zeitgenossen Babbages, Karl Marx, hört sich das so an:

„Die sozialen Verhältnisse sind eng verknüpft mit den Produktivkräften. Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten.“ (Marx 1972, S. 130)

Es gibt also einen Rückkopplungseffekt der Innovation auf die Funktionsweise des Kapitalismus selbst. Der Ökonom Stephan Krüger schreibt, dass „die Etablierung der neuen Technik als eminent sozialer Prozess zu fassen ist, der keineswegs nur auf die Ökonomie oder gar die Fabrik beschränkt ist, sondern die gesamte Gesellschaft, d.h. den Reproduktionsbereich und die Formen des individuellen Konsums sowie die Rückwirkung des Staates auf die Wirtschaft einschließt“ (Krüger 2010, S.114).

Was für die Technologien zu Marxens Zeiten gilt, gilt auch heute noch. Von der Dampfmaschine bis zur Blockchain, von der Lochkarte bis zum Quantenrechner – der Kapitalismus sortiert sich neu um Technologie herum. Das Kapital veranlasst Innovation, woraufhin diese das Kapital zur Neuerfindung veranlasst. Der Einsatz der Dampfmaschine, des Fließbands, des Computers wirkt auf die Produktionsverhältnisse zurück, der Kapitalismus als Ganzes muss sich adaptieren. Das Auto und das Öl haben den fossilen Kapitalismus hervorgebracht; der Computer zusammen mit dem Internet eine gesellschaftliche Betriebsweise, die wir digitalen Kapitalismus nennen.

Digitaler Kapitalismus

Wenn Algorithmen, Künstliche Intelligenz, die Extraktion von Daten, die Verbreitung und Verwertung von Information, die Orchestrierung der Aktivität von Milliarden Nutzerinnen und Nutzern auf digitalen Plattformen ins Zentrum der ökonomischen Aktivität geraten, wenn auch die Mehrwertabschöpfung und Profitgenerierung das Paradigma der Ausbeutung lebendiger Arbeit im Produktionsprozess hinter sich lassen, dann kann mit Fug und Recht von einer neuen gesellschaftlichen Betriebsweise gesprochen werden. Die Funktionsweise des digitalen Kapitalismus unterscheidet sich also in mehrfacher Hinsicht von derjenigen des industriellen.

Dyer-Witheford sah eine neue Betriebsweise schon Ende des letzten Jahrhunderts heraufziehen, gekennzeichnet von einem neuerlichen Verwertungsschub, wenn er schreibt: „Hochtechnologien – Computer, Telekommunikation und Gentechnik – werden als Instrumente einer beispiellosen, weltweiten Ordnung der allgemeinen Kommodifizierung geformt und eingesetzt.“ (Witheford 1999, S. 2). Digitaler Kapitalismus ist also einerseits eine systemische Antwort auf die Basisinnovationen Computer + Internet, gleichzeitig eine – über weite Strecken experimentell gefundene – Strategie, unter den neuen Randbedingungen weiterhin profitabel zu bleiben.

Wir haben es mit der Inauguration einer neuen Ära nach Merkantilismus und Fordismus mit dessen Spielart im real existierenden Sozialismus zu tun. Als Motiv für diese neuerliche Iteration sieht der am Londoner der King’s College lehrende Nick Srnicek die „seit Langem sinkende Profitabilität der Produktion“. Daher habe sich das Kapital letztlich den Daten zugewandt, um deren stimulierende Wirkung angesichts des „lahmenden Produktionssektors“ zu genießen (Srnicek 2018, S. 11). Nicht nur ein neues Akkumulationsmodell, also neue Quellen der Verwertung von Kapital, sondern auch gesellschaftliche Veränderungen bis hin zu neuen Subjekt-Konstellationen gehen damit einher.

Basisinnovationen ziehen also eine Generalüberholung des Akkumulationsregimes nach sich. Das gilt insbesondere für Erfindungen, die unter dem Regime des Kapitals stattfinden und sich innerhalb der Verwertungslogik zu ökonomisch erfolgreichen Innovationen entwickeln, ja zu Schlüsseltechnologien langer Wellen werden. Gleichzeitig zwingen sie die kapitalistischen Verhältnisse zu einer – oft umfassenden Anpassung an die neuen Produktivkräfte. Das Auto, der Computer, das Internet haben jeweils zu einem Update gedrängt. Mit tiefgreifenden Auswirkungen. Die Anpassungsprozesse waren und sind teilweise brutal für alle Beteiligten. Man frage die Beschäftigten in der Pferde-Industrie, die Entrepreneure, die darauf bestanden, auf menschliche Rechenknechte zu setzen, oder die Manager, die das Internet oder das Elektroauto oder das Automatenauto als Spielerei abtaten oder noch abtun!

Die jeweiligen Eigenlogiken der Basistechnologien haben selbst erhebliche Sprengkraft, die es systemisch zu entschärfen gilt, damit den Kapitalisten nicht der ganze Laden um die Ohren fliegt…

Bringt uns der Computer tiefer in die kapitalistische Ökonomie hinein?

„We shape our buildings; thereafter they shape us“, sagte Sir Winston Churchill in einer Rede im Oktober 1943 (zitiert nach Volchenkov 2018, S. 159). Die Frage, ob uns der Computer tiefer in die kapitalistische Wirtschaftsweise hineinführt, lässt sich auch allgemeiner formulieren: Führt uns X aus der kapitalistischen Ökonomie heraus oder tiefer in sie hinein? Für X können wir hier wahlweise die Elektrizität, das Auto, den Computer oder auch das Schießgewehr einsetzen – die Antwort dürfte klar sein: Ja, X führt uns tiefer in ihn hinein, aber in eine Version derselben, die mehr oder weniger stark an die Innovation oder sogar Basistechnologie angepasst ist.

Dass Auto und Computer jeweils solch transformative Kraft zu entfalten in der Lage waren, sich die kapitalistischen Verfasstheit ihrer Umgebung davon allerdings nicht beeindrucken ließ, dass sie beide Bestandteil einer perfekt geölten kapitalistischen Maschinerie geworden sind, belegt die Flexibilität eben jener Gesellschaftsordnung, in deren kreativem Umfeld beide Erfindungen das Licht der Welt erblickten.

Es ist ein wechselseitiger Prozess: Das Kapital setzt Erfindungen zu seinem Profitstreben ein, ruft damit aber auch Rückwirkungen hervor: Das Kapital muss sich auch in seinen Produktionsverhältnissen auf die Produktivkräfte einstellen.

Und so wirken also die Erfindungen, die im Schoss und unter der Obhut des Kapitals das Licht der Welt erblicken, von ihm gepäppelt und großgezogen werden, irgendwann zurück, zwingen das Kapital zu einer – im Falle von systemischen Innovationen – außerordentlich grundlegenden Neuformierung der Produktions- und Distributionsverhältnisse – die Verwertungsverhältnisse bleiben, solange die Gesellschaft keine Alternativen realisiert.

Computer führen tiefer in eine kapitalistische Ökonomie hinein, aber in eine gänzlich neue, veränderte Version derselben. So vieles muss sich ändern, damit für das Kapital alles beim Alten bleiben kann.

Quellen

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