Was sind Auftrag und Perspektiven für die Nachhaltigkeitsforschung in den kommenden Jahren? Und was sind Orientierungspunkte für die forschungspolitische Agenda im Kontext multipler Krisen? Zu diesen Fragen hat das ECOLOGICAL RESEARCH NETWORK (ECORNET) elf Thesen formuliert, die wir auf bruchstücke dokumentieren.
1 Wir befinden uns in einer Zeit des Umbruchs
Die gegenwärtige Situation steht für grundlegende Veränderungen: Es geht nicht mehr um die Bewältigung singulärer Krisen. Die dringend notwendigen sozial-ökologischen Transformationen stehen im Spannungsfeld verschiedener, miteinander verwobener, globaler Krisen (Gesundheit, Klima, Biodiversität, Energie, Inflation) und neuartiger Konflikte. Die Verwobenheit dieser Krisen und Konflikte wird in den öffentlichen Debatten, aber auch in Forschungsprojekten oft verkannt oder bewusst ignoriert.
2 Schnelles Handeln, aber auch tiefgreifende Transformationen sind gefragt
Die Unmittelbarkeit der Krisen verbunden mit ihren enormen, direkt spürbaren Auswirkungen führen zurzeit dazu, nach Sofortmaßnahmen mit kurzfristigem Impact zu greifen, die die Folgen einzelner Krisen abmildern und gesellschaftliche Stabilität versprechen. Sofortmaßnahmen sind wichtig. Sie müssen jedoch die wechselseitigen Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Krisen und soziale Aspekte berücksichtigen, um langfristig die gesellschaftliche Resilienz zu erhöhen. Die Bewältigung akuter Krisenlagen darf die Entwicklung und Gestaltung systemischer Transformationsprozesse, bei denen soziale und technische Innovationen wirksam ineinandergreifen, nicht behindern. Isolierte technische (Groß-)Lösungen führen häufig in Sackgassen.
3 Es braucht eine neue Forschungsoffensive für Nachhaltigkeit
Die Ecornet-Institute liefern über die transdisziplinäre Forschung wichtige Transformationsbeiträge mit systemischer Perspektive. Angesichts der Größe der anstehenden Herausforderungen und der damit verbundenen Risiken braucht es aber eine neue Forschungsoffensive. Die Rolle der Nachhaltigkeitsforschung für die kommenden Jahre muss neu diskutiert werden. Schneller, besser, weiter: Wo liegen Auftrag und Perspektiven der Nachhaltigkeitsforschung in den kommenden Jahren?
4 Transdisziplinäre Forschung steht für systemische und weitsichtige Lösungen
Probleme sind komplexer geworden – Lösungsvorschläge müssen diese Komplexität aufgreifen. Dazu braucht es verstärkt inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit, welche die akute Verwobenheit der Krisen, Synergien und Trade-offs zwischen verschiedenen Lösungsansätzen sowie mögliche zukünftige Entwicklungen einbezieht (Vorsorgegedanke). Um in der Komplexität handlungsfähig zu sein, braucht es aber auch neue Strategien und Methoden, um diese Komplexität adäquat zu reduzieren.
5 Neue Ansätze müssen entwickelt werden, um schneller Wirkungspotentiale aufzubauen
Angesichts der zunehmenden Beschleunigung und Häufung akuter Krisen und der Dringlichkeit transformativen Handelns, muss die transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung neue Ansätze entwickeln (rapid transdisciplinary appraisal). Es geht darum, bei akuten Krisen schnell und effektiv bestehende Wissensbestände zusammenzuführen, verschiedene Sichtweisen zu integrieren und Lösungsstrategien in der Praxis zu testen. Dies erfordert u. a. eine Ausweitung von Synthese- und Begleitforschung.
Aus der Selbstdarstellung von Ecornet
„Ecornet hat sich als Netzwerk von acht unabhängigen, gemeinnützigen Instituten für Umwelt- und Nachhaltigkeitsforschung in Deutschland etabliert, um mit seiner gebündelten Expertise die Forschungslandschaft und die Politik zu unterstützen. Ihre Mitgliedsinstitute beschäftigen insgesamt rund 800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und finanzieren ihre Forschungsprojekte überwiegend aus Drittmitteln. […]
Die Ecornet-Institute sind Teil eines kritischen Erbes. Sie wurden zwischen 1977 und 1995 als unabhängige Institute außerhalb des etablierten Wissenschaftssystems gegründet, das keine tragfähigen Konzepte für die damals drängenden Probleme wie Ölkrise, Chemiekatastrophe, Waldsterben oder Ozonloch hatte. Im Zuge der sich global entwickelnden Nachhaltigkeitsdebatte (Rio, Kyoto, Johannesburg) und Umsetzung auf nationaler Ebene sind die Ecornet-Institute aus dieser einstigen Nische herausgewachsen und nehmen mit ihrer kritischen Nachhaltigkeitsforschung an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ihren eigenen Platz in der deutschen Wissenschaftslandschaft ein.
6 Gerechtigkeit muss als integraler Bestandteil der Nachhaltigkeitsforschung weiter gestärkt werden
Nicht-nachhaltige Entwicklungen, aber auch Transformationsprozesse können weniger privilegierte Bevölkerungsgruppen besonders hart treffen. Die Analyse von Gerechtigkeits- und Verteilungsfragen muss daher mehr als bisher integraler Bestandteil von Nachhaltigkeitsprojekten und eine zentrale Dimension bei der Entwicklung von Gestaltungsalternativen sein.
7 Wir brauchen neue Denkansätze für die Zukunft und bewusste Entscheidungen über den Umgang mit Pfadabhängigkeiten und Zielkonflikten
Die vorherrschenden Wertesysteme, Wissensbestände und Alltagspraktiken stabilisieren nicht-nachhaltige Entwicklungspfade. Diese Zusammenhänge sichtbar zu machen, in partizipativen Prozessen neues Ziel- und Transformationswissen zu entwickeln und alternative, suffizientere Praktiken zu erproben ist eine wichtige Aufgabe der Nachhaltigkeitsforschung. Resilienzdenken gewinnt neue Bedeutung für die Gestaltung von zukunftstauglichen Entwicklungspfaden.
8 Das Wie von Transformationsprozessen muss noch besser verstanden werden
Wie transformative Prozesse gefördert werden können, gehört nach wie vor zu den größten Forschungsherausforderungen. Hierfür gilt es, historische und analytische Arbeiten noch besser mit experimentellen Ansätzen zu verknüpfen. Soziale Innovationsprozesse sollten noch stärker beforscht und verstanden werden. Wir müssen aber auch systematischer fragen, welches Wissen wirklich transformativ wirkt und wie dieses über kommunikative Prozesse vermittelt werden kann. Forschung, Transfer, Impact: zu einfach gedacht? Was sind Orientierungspunkte für die forschungspolitische Agenda im Kontext multipler Krisen?
9 Es braucht ein umfassenderes Verständnis von Innovation, Transfer und Impact
Eine zukunftsgerichtete Forschungsagenda braucht ein zukunftsorientiertes Innovationsverständnis, das die Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen ins Zentrum stellt. Zudem gilt es, innovative Potenziale außerhalb von Wissenschaft und Wirtschaft zu erkennen und nutzbar zu machen. Auch Transfer und Impact müssen breiter als bisher gedacht werden. Der Weg von Forschung zu Impact ist bei Nachhaltigkeitsfragen selten linear und zeigt sich nicht über Metriken wie Patente oder Ausgründungen. Wirkungspotentiale werden über soziale Interaktionen während des gesamten Forschungsprozesses aufgebaut. Daher müssen Transfer und Kommunikation als integrale Bestandteile von Forschungsprozessen verstanden, anerkannt und gefördert werden.
10 Wir brauchen langfristige und stabile Partnerschaften an der Schnittstelle zwischen Forschung und Praxis
Damit Wissenschaft und Praxis gemeinsam an Nachhaltigkeitstransformationen arbeiten können und in akuten Krisen handlungsfähig sind, braucht es stabile Netzwerke zwischen relevanten Akteur*innen. Vielfältige Perspektiven müssen mittels institutionalisierter Mechanismen zusammengebracht werden. Außerdem braucht es Menschen und Institutionen mit Kompetenzen für die Schnittstelle zwischen Forschung und Praxis. Sie helfen dabei die richtigen Fragen zu stellen, Wissensbedarfe rasch zu benennen und bereits vorhandenes Wissen schneller in die Anwendung zu bringen.
11 Wir brauchen eine verlässliche und innovative Förderung für transdisziplinäre Forschung
Die Forschungsförderung sollte verlässlich systemische, transformationsorientierte Forschung zu einem breiten Spektrum von Nachhaltigkeitsthemen ermöglichen und unterstützen. Zudem braucht es eine stärkere Förderung von neuartigen Ansätzen, Syntheseleistungen und Arbeiten zu Qualitätsstandards und Wirkungsorientierung transdisziplinärer Forschung sowie eine Förderung von Kommunikation und Transfer, um Forschungsergebnisse gegenüber Politik und Gesellschaft anschlussfähig zu machen.
Die 2015 von allen Ländern der Vereinten Nationen einstimmig beschlossene Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung verlangt die „Transformation unserer Welt“. Das Zielsystem dieser „Transformation unserer Welt“ wird in dieser Resolution mit den 17 Nachhaltigkeitszielen (SDGs) beschrieben und benannt.
Diese Agenda 2030 und die 17 Nachhaltigkeitsziel bilden heute die Orientierung für alle Politik, die auf der Höhe der Zeit sein will.
Welche Orientierung für wen bieten die hier dokumentierten 11 Thesen von Ecornet, die die Agenda 2030 und die „Transformation unserer Welt“ demonstrativ ignorieren? Mit dieser Ignoranz wirken die Thesen aus der Zeit gefallen. Und ich frage mich schon, welchen Zweck sie verfolgen. Für die Politik sind Thesen, die die Agenda ignorieren inzwischen weitgehend uninteressant.
Ob die Thesen von Ecornet für die Wissenschaft interessant sind, will ich nicht beurteilen. Allerdings stelle ich fest, dass sich die Nachhaltigkeitsforschung mit der Agenda 2030 grundsätzlich schwer tut. Das mag daran liegen, dass sich Wissenschaft mit einer Agenda grundsätzlich schwer tut und sich noch schwerer ungern eine Frist setzen lässt.
Die Frage, wie man im Jahr 2023 nicht nur aber auch über die Agenda 2030, die die Frist für das, „was zu tun“, mit dem Jahr 2030 sehr kurz setzt, forscht, lässt sich schon stellen. Welche Wissenschaft und welche Ergebnisse der Wissenschaft können in den noch verbleibenden sieben Jahren dieser Frist einen Beitrag zur „Transformation unserer Welt“ leisten?
Eine Antwort, die die Agenda 2030 einfach ignoriert scheint mir nicht sinnvoll zu sein
Die Antwort kann doch nur sein, dass sich die Wissenschaft im Kontext der „Transformation unserer Welt“ selbst einer Transformation im Sinne der Agenda 2030 unterzieht. Was das bedeutet und wie das geschehen kann, wäre Thesen wert, die auf der Höher der Zeit sein sollen und wollen.