Falsche Forderung aus richtigen Motiven

Place des Nations, Genf. Skulptur „Frieden“ von René Brandenberger (Foto: Markus Schweizer auf wikimedia commons)

Das Motiv für das „Manifest für den Frieden“ ist ehrenwert und nachvollziehbar: Der schiefen Ebene der Eskalation – hin möglicherweise sogar zum Atomkrieg Einhalt gebieten! Statt zuzuschauen – Eingreifen! Und auf wen können wir am ehesten Einfluss nehmen? Auf unsere Regierung! Und was bietet sich da als Handlung an? Der Verzicht auf Waffenlieferungen. Und was ist unter anständigen, zivilisierten Menschen die richtige Konfliktlösung? Verhandlungen. Also lautet die scheinbar naheliegende Konsequenz: Verhandlungen statt Waffenlieferungen! Aber…

Aber wie sollen Verhandlungen aussehen mit einer Macht, die ein anderes Land überfällt und diesem Land seine Existenzberechtigung bestreitet? Die flächendeckend zivile Ziele bombardiert und mutmaßlich schwere Menschenrechtsverletzungen begeht? Was soll Russland daran hindern, seine Ziele weiter mit Gewalt durchzusetzen? Die Schwäche der Gegenseite? Eine Unterlegenheits-Erklärung der schwächeren Seite, also der Ukraine? Vertrauen die Unterzeichnerinnen des Manifests darauf, dass der Überlegene (das ist Russland) dem Unterlegenen einfach so Zugeständnisse macht?

Gefährliche Kriegsziele

Skulptur „Frieden“ von Siegbert Amler (Foto: Gerd Fahrenhorst auf wikimedia commons)

Ich interpretiere in das Manifest das eigentlich Richtige hinein: Der gefährlichen Eskalation mit Selbstbeschränkung entgegenzuwirken! Aber das Problematische auf der ukrainischen Seite, also der von uns teilweise zu beeinflussenden Seite, ist nicht ein etwaiges Übermaß an Verteidigungsfähigkeit und ein ZUVIEL an Waffen. Sondern die Frage: WOFÜR sie eingesetzt werden sollen. Das erklärte Ziel nämlich – über die Verteidigung der heute von der Ukraine noch kontrollierten Gebiete hinaus – ALLE besetzten Gebiete einschließlich der Krim zurückzuerobern. Die moralische Legitimität dieses Ziels will ich hier gar nicht diskutieren, sondern realpolitisch feststellen: Wenn das der Ukraine auch nur zu einem Teil gelänge, würde die heute regierende Elite in Moskau vor der Frage stehen: Eigener auch physischer Untergang oder der Einsatz von taktischen Atomwaffen in der Ukraine?

Wenn das geschieht, dann steht die westliche Welt vor der fürchterlichen Alternative: globaler Atomkrieg oder Zuschauen, wie Russland sich mit einem noch entsetzlicheren Verbrechen die Ukraine unterwirft. Ich nehme an, es dürfte das letztere geschehen – so wie 1956 der Westen der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes zugeschaut hat und 1968 des Prager Frühlings.

Das größte Risiko auf der ukrainischen Seite geht vom KriegsZIEL aus – nämlich unrealistischerweise auf militärischem Weg alle Gebiete zurückgewinnen zu wollen. So schlecht die russische Kriegsführung auch sein mag – die potentiellen Kräfteverhältnisse sind eindeutig, vor allem weil Russland über taktische Atomwaffen verfügt. Was mich (an der Ukraine) und unserer Bündnisrolle beunruhigt, ist die Blanko-Vollmacht, die zumindest Teile der ukrainischen Führung und Armee aus unserer Unterstützung ableiten. So hat die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Agnes Strack-Zimmermann (FDP), immer wieder betont, dass es allein Sache der Ukraine sei, die Kriegsziele festzulegen. Eine solche Blanko-Vollmacht des Deutschen Reichs an Österreich-Ungarn hat 1914 zur Eskalation eines regionalen Konflikts zum Weltkrieg geführt.

Wer Frieden oder zumindest Deeskalation will, muss der Gegenseite (insbesondere wenn es die stärkere ist) einen gesichtswahrenden „Ausstieg“ ermöglichen. Und das ist zumindest vorübergehend die russische Aneignung der „Volksrepubliken“ und der Krim – so bitter diese Konzession an eine verbrecherische Macht unter moralischen Gesichtspunkten auch sein mag.
Soweit werden mir wohl alle Unterzeichnerinnen des Manifests zustimmen!

Sachlich sinnvolle Kombination zur Deeskalation

Nach dem Verweis auf 1914 nun ein anderes historische Beispiel: 1936 haben Frankreich und Großbritannien der von Nazi-Deutschland und Italien angegriffenen spanischen Republik die Unterstützung mit Waffen verweigert, was zum Sieg von Franco führte und einen Schritt hin zum Zweiten Weltkrieg bedeutete. Also: Auch Waffenverweigerung kann zur Eskalation führen!

Denn wer wirklich Verhandlungen und nicht Unterwerfung der schwächeren Seite will, muss diese auch in die Lage versetzen, sich zu verteidigen. Und zwar so wirksam, dass dem Aggressor der Preis für Gewalt unkalkulierbar hoch erscheint. Dazu braucht die Ukraine Waffen – aus dem Westen. Welche Art von Waffen (Massenvernichtungswaffen ausgenommen) ist dabei eine untergeordnete und von Laien kaum sinnvoll zu diskutierende Frage.

Darum führt doch rein sachlich folgende Kombination am ehesten zur Deeskalation: Maximale Waffenlieferungen an die Ukraine bei Verzicht auf militärische Rückgewinnung russisch besetzter Gebiete.

Für Russland wäre dann zweierlei klar:
Dass erstens der Versuch, die Ukraine ganz zu erobern, noch viel teurer und riskanter werden würde als heute schon. Und dass zweitens die Gefahr des totalen Gesichtsverlusts wegen einer militärischen Niederlage in den besetzten Gebieten nicht mehr droht.

Damit wäre noch lange kein Frieden erreicht, noch keine Gerechtigkeit für die Opfer des russischen Angriffskriegs, noch nicht die Rückkehr der Entführten. Aber ein erster Schritt zur Deeskalation und damit zu Verhandlungen AUF AUGENHÖHE wäre getan! Und vielleicht ein Angebot zum gesichtswahrenden Rückzug an die Teile der russischen Elite, die insgeheim den Angriffskrieg als Fehler ansehen.

Hendrik Auhagen
Hendrik Auhagen war in den 1980er Jahren für die Partei Bündnis 90/Die Grünen (Grüne) im Deutschen Bundestag. Er hat in den Nuller-Jahren erfolgreich gegen die damals geplante Privatisierung der Deutschen Bahn gekämpft und engagiert sich zur Zeit im VerkehrsClub Deutschland gegen die geplante Abhängung des Südens von Baden-Württemberg vom Stuttgarter Hauptbahnhof. In den Jahren 1999 und 2000 unterrichtete er Deutsch an einem Kolleg in Legnica (Polen), von 2001 bis 2004 Deutsch und Gemeinschaftskunde in Bad Säckingen am Scheffel-Gymnasium, später am Friedrich-Wöhler-Gymnasium in Singen.

1 Kommentar

  1. Einer der meistgenutzten Begriffe im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg der russischen Führung gegen die Ukraine lautet: Eskalation. Auch im Wagenknecht-Schwarzer- Text kommt das Wort vor. Man warnt vor einer Eskalation der Waffenlieferungen an die Ukraine. Und wenn uns hier im Westen etwas verbinden soll in diesem Zusammenhang, dann bitte eine Verständigung über solche Schlüsselworte.

    Eskalation beschreibt in der Konflikt- und Militärtheorie eine Status quo – Änderung. Eine Seite im Konflikt beginnt, gegnerische Ziele mit bislang nicht eingesetzten Mitteln anzugreifen. Man will einen Vorteil erreichen im Verhältnis zum Kontrahenten. Schelling und Kahn haben solche Eskalationsszenarien während der ersten Jahrzehnte des Kalten Krieges rauf und runter beschrieben. Angereichert um Elemente der Spieltheorie.

    Mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine hat das nüscht zu tun. Niemand kommt in einem Stadtviertel, in welchem oft eingebrochen wird, auf den Gedanken, eine Diebstahl-Sicherung als Element der Eskalation zu bezeichnen. Das wäre irre.

    Die russische Führung hat den Angriffskrieg gegen die Ukraine vom ersten Tag an fortwährend ausgeweitet. Die ukrainische Regierung hat all ihre Mittel eingesetzt, um dieser ständigen Ausweitung zu begegnen. Das hat mit Eskalation nüscht zu tun. Das Wort Eskalation ist in diesem Zusammenhang nichts anderes als die zuerst gedachte und dann ausgesprochene Gleichsetzung zwischen Angreifer und Angegriffenem. Das wiederum findet man sehr wohl im erwähnten Text der beiden Frauen. Wagenknecht hat dies, zu wenig beachtet, in der Maischberger- Sendung der vergangenen Woche klar formuliert. Sie sprach davon, dass sich ein russisches Oligarchensystem und ein ukrainisches Oligarchensystem bekämpften. Die Morde von Butcha als Teil einer Oligarchen- Auseinandersetzung. Das könnte aus einer „Betriebsanleitung“ von Faschisten stammen.

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