Reaktoren und Raketen: Wir sollten reden. Eine Replik

Bild: Elionas auf Pixaby

In seinem Beitrag „Vero und die Atombombe“ setzt sich Detlef zum Winkel kritisch mit meinem Auftritt in dem HR-Podcast „Studio Komplex“ über Pazifismus und Ukraine auseinander. Er bildet dabei zwei Thesen: Erstens, „Sie macht den Melnyk“, das heißt, ich trommelte im Stil des ehemaligen ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk für eine ukrainische Atombewaffnung. Zweitens, mein Motiv sei verwerflich. Ich täte das, weil ich eine „Publizistin“ sei, die „die vehement für Atomkraft eintritt“ und die angesichts des in diesem Jahr vollzogenen deutschen Atomausstiegs nun nach neuen Betätigungsfeldern Ausschau halte, inklusive neuer Grenzüberschreitungen zwecks Erzeugung von Aufmerksamkeit. Das ist, um es kurz zu machen, ein Argumentum ad hominem, das auf die Delegitimierung meiner Person abzielt, um auf diesem Wege auch meine fachliche Position zu entwerten bzw. sich erst gar nicht mit ihr auseinandersetzen zu müssen.

Pazifismus, Sicherheit, Kerntechnik und die Ukraine

Doch worum ging es eigentlich? In dem HR-Podcast wurde ich über die Zukunft des Pazifismus angesichts des Ukraine-Kriegs befragt. Der Grund und Hintergrund: ich bin Osteuropa- und Technikhistorikerin mit Forschungsschwerpunkten über die Geschichte des ukrainisch-russischen Verhältnisses und über nukleare Arbeit und Reaktorsicherheit in Osteuropa und Deutschland. Zum ersten Thema wurde ich promoviert, zum zweiten habe ich mich 2021 habilitiert – nach rund zehn Jahren Feldforschung als industrial anthropologist in ukrainischen und deutschen Kernkraftwerken. Als Fachfrau für Kernenergie als soziotechnisches System hat mich auch die Öffentlichkeit kennengelernt, z.B. als eine der wenigen Personen in Deutschland, die die ukrainischen Atomanlagen von innen kennen und 2022 Auskunft darüber geben konnten, wie die Bedrohungslage für Kernkraftwerke im Krieg aussieht. Ich habe aber 2022 auch ein Sachbuch veröffentlicht, in dem ich aus Gründen des Klimaschutzes für ein komplementäres Energiesystem aus Erneuerbaren und Kernenergie plädiere. Dieses Buch irritierte die Anti-AKW-Bewegung erheblich, denn ich formuliere in ihm eine linke Kritik der Energiewende, und die ist nicht so einfach von der Hand zu weisen wie sonst, mit dem Hinweis, man brauche ja nur zu wissen, dass die AfD für Atomkraft sei, um dagegen zu sein.

In dem Podcast-Interview sprach ich über pazifistische Formen von Widerstand in der Ukraine, aber auch über die Grenzen des Pazifismus angesichts des Angriffskriegs, den Russland gegen die Ukraine führt. Unter anderem prognostizierte ich für die Zeit nach dem Krieg eine sogenannte „Israelisierung“ der Ukraine. Damit meinte ich eine innenpolitische Wende zum Primat der schwer bewaffneten Selbstverteidigung aus der historischen Erfahrung heraus, von einem übermächtigen Gegner die Existenzberechtigung als souveräne Nation abgesprochen zu bekommen. Ich prognostizierte, dass – vorausgesetzt, es ändere sich nichts an der imperial-revisionistischen Ausrichtung der russischen Politik – die Sicherheit der Ukraine nur auf zweierlei Weise zu garantieren sei: entweder durch den Schutz eines Militärbündnisses, d.h. der NATO, oder durch eine Rückkehr zur Nuklearbewaffnung.

Atom-Abrüstung ohne Sicherheit

Bekanntlich hat die Ukraine 1994 ihre Nuklearwaffen an Russland abgetreten und ist dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten, allerdings ohne im Gegenzug robuste Sicherheitsgarantien dafür zu bekommen. Die historischen Gründe für dieses Versagen sind weitgespannt: anfangs der 1990er Jahre konnte sich die damals verhandelnde ukrainische Regierung, allesamt ehemalige KP-Parteifunktionäre, schlechthin keinen Überfall des „Brudervolkes“ auf ihr Land vorstellen, obwohl Russland schon damals Ansprüche auf die Krim anmeldete und versuchte, die detaillierte Festlegung des ukrainisch-russischen Grenzverlaufs hinauszuzögern.

Die davon alarmierten „Falken“, also Vertreter einer kritischeren Fraktion, waren ihrerseits nicht gegen eine nukleare Abrüstung, wollten diese aber in eine Friedensdividende für die Ukraine ummünzen mit Entschädigung, Technologietransfers für die Zerlegung der Waffen im eigenen Land und starken Sicherheitsgarantien. Sie vermochten sich gegen die Interessenkoalition aus ukrainischen Altkadern, USA und Russland in der Atomwaffenfrage nicht durchzusetzen. Auch die damalige US-Administration wollte eine rasche Abgabe der Waffen an Russland. Sie wollte unbedingt verhindern, dass aus einer Atommacht infolge der Auflösung der Sowjetunion gleich vier würden, nämlich die Stationierungsländer der sowjetischen strategischen und taktischen Nuklearwaffen, neben Russland eben die Ukraine, Belarus und Kasachstan. Das deckte sich mit dem Interesse Russlands unter Jelzin, die Sprengköpfe nach Russland zu verbringen. Die Ukraine, die sich in den 1990er Jahren in einer tiefen Wirtschaftskrise befand, wurde schließlich mit Drohungen gefügig gemacht, westliche Wirtschaftshilfen zu kürzen. Begleitet wurden die Verhandlungen von erheblichen russischen Anstrengungen, in westlichen Öffentlichkeiten ein Image der Ukraine als unsicherer Kantonist zu verbreiten.

Bill Clinton, Boris Jelzin und Leonid Krawtschuk nach der Unterzeichnung der Trilateralen Erklärung vom 14. Januar 1994 zur Vorbereitung des Memorandums Ende 1994 (Foto: U.S. government employee, photo from William J. Clinton Presidential Library)

Was die Ukrainer 1994 schließlich bekamen, war das Budapester Memorandum, in dem auf Grundlage eines allgemeinen Bekenntnisses zur UN-Charta die Unverletzlichkeit der ukrainischen Grenzen garantiert wird. 2014 hat der Signatarstaat Russland diesen Vertrag mit dem Einmarsch in der Ukraine und der Annexion der Krim gebrochen, 2022 den Vertragsbruch mit der Entfesselung eines Angriffskrieges auf die gesamte Ukraine verschärft. Die westlichen Signatarstaaten unternahmen 2014 außer einem Sanktionsregime keine Maßnahmen gegen Russland; Deutschland schloss trotz des russischen Vertragsbruchs das Nordstream2-Abkommen mit Russland. Das unter deutsch-französischer Vermittlung ausgehandelte Minsker Abkommen war aus ukrainischer Sicht ein Diktatfrieden, der Russland die Möglichkeit gab, von annektierten Territorien aus weiter gegen die Ukraine vorzugehen. Wie wir heute wissen, war diese Sichtweise realistisch.

Die Botin als Täterin

Diese gesamte Entwicklung war vermutlich der schlimmste Schlag für die Idee der Nonproliferation seit Inkrafttreten des Atomwaffensperrvertrags. Sie ist auch der Hintergrund meiner Aussage über die Israelisierung und womöglich auch drohende Nuklearisierung der Ukraine, die rein technisch machbar wäre: die Ukraine besitzt eigene Uranvorkommen, eine hoch entwickelte nukleartechnische Industrie und nukleare Expertengruppen. Mit meiner Aussage habe keinen Wunsch geäußert, sondern eine Situationsbeschreibung vorgenommen, eine Prognose gestellt und eine Debatte wiedergegeben. Ich stehe mit meiner Analyse nicht alleine: der estnische Außenminister hat jüngst eine ähnliche Debatte angestoßen und den Begriff der „Israelisierung“ finden wir auch bei anderen Autoren, die sich über die künftige Friedensordnung in Osteuropa Gedanken machen.

Herr zum Winkel jedoch behauptet, ich beschriebe nicht, sondern ich schriebe es herbei. Seine Aburteilung lautet folgendermaßen: „…dreht sie extrem verantwortungslos an der Eskalationsschraube. Auch ihre nonchalante Missachtung des von der Ukraine wie auch von der Bundesrepublik unterzeichneten Atomwaffensperrvertrags ist beispiellos.“

Diesen Satz muss man sich wirklich mal auf der Zunge zergehen lassen, da bekanntlich keine Historikerinnen in diesem Krieg irgendetwas eskalieren oder Verträge missachten, sondern eine faschisierte Machthabergruppe im Kreml, an der Spitze Putin, der historische Artikelchen im Geiste des russischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts schreibt, diesen gegen die verhasste „Lenin-Ukraine“ in Anschlag bringt und so einen völkischen Landnahmekrieg gegen sein Nachbarland legitimiert. Einen Krieg, den er unter Bruch der UN-Charta und weiterer Verträge führt. Doch Herr zum Winkel erklärt die Botin zur Täterin.

Detlef und die Atomkraftwerke

Detlef zum Winkel behauptet, die Nuklearisierung der Ukraine sei mein Wunsch, da ich die Denuklearisierung Deutschlands nicht verhindern könne. Er macht zur Begründung eine ganze Reihe von Behauptungen, auf die ich kurz eingehen will, weil sie sachlich-fachlich nicht haltbar sind und einem Debattenforum, das ein Experimentierraum für „konstruktive Radikalität“ und „Kritik von Fehlentwicklungen“ sein möchte, nicht gut anstehen. Meiner Meinung nach stehen wir nämlich unter anderem deswegen mit Kohle als dem führenden Elektrizitätserzeuger des Jahres 2022 da, weil wir viel zu lange eben nicht konstruktiv-radikal über die Kernenergie nachgedacht haben.

Herr zum Winkel folgt in seinen Angriffen einer Linie, die seit Frühjahr 2022 vor allem die (Selbstbezeichung) Klimajournalisten Annika Joeres und Jürgen Döschner vorgeben, die auch lange Publikationslisten als Anti-AKW-Journalisten haben. Tenor: Ich betriebe eine „peinliche“ (zum Winkel) Selbstinszenierung und rechtspopulistische Grenzüberschreitung (Joeres) zur Steigerung meines Bekanntheitsgrades, da an mir wissenschaftlich ja sonst nichts dran sei, und das Ganze am Ende natürlich aus Profitgründen. Herr Döschner hat sich mutmaßlich auch unter dem Pseudonym „Klimagerechtigkeit“ an der Diskussion unter zum Winkels Artikel auf Bruchstücke beteiligt, mit seiner unverwechselbaren Diktion („WendeVero“). Alle drei sprechen mir schlicht meine Biografie ab, die sie als inszeniert bezeichnen. Was bringt sie auf? Ich war als junge Frau Atomgegnerin, weil ich Linke war, und weil Tschernobyl in meine 1980er-Jugend einfiel; ich bin heute aus Gründen eines Lernprozesses und auf Grundlage langer wissenschaftlicher Befassung mit der Kerntechnik und der Herausforderung der Klimakrise Atom-Befürworterin und Linke. Das darf nicht sein in Detlefs, Annikas und Jürgens Welt. Da muss ein schlechter Charakter, Profitsucht oder Aufmerksamkeits-Geilheit dahinterstecken.

Kohleboom statt Blackout

Foto: Afranz1982 auf wikimedia commons

Daher hält es Herr zum Winkel auch wider alle Evidenz für plausibel, dass ich mich als Blackout-Angstmacherin betätigt hätte, deren Prognose nicht eingetreten sei. Tatsächlich haben viele Kritiker der Bundesregierung im letzten Jahr den Blackout beschworen – aber nicht ich. Ich habe vielmehr etwas ganz anderes gesagt. Nämlich, dass die Regierung, vor die Wahl zwischen Versorgungssicherheit und Klimazielerreichung gestellt, immer für die Versorgungssicherheit optiere, was in der Realität unserer Stromversorgung bedeute: Sie wird, um den Atomausstieg durchziehen zu können, ein langes Verbleiben in der Kohlekraft in Kauf nehmen. Der Grund ist so alt wie die fossile Stagnation in unserer Elektrizitätswirtschaft: Erneuerbare sind in Deutschland größtenteils Wind und Sonne, d.h. keine gesicherte Leistung. Sie müssen fossil abgesichert werden, weil es die AKW nicht mehr tun dürfen. Meine Prognose ist eingetreten: was wir derzeit sehen, ist ein Kohlekraft-Boom. Wir konnten ihn unter anderem in Lützerath in die Tat umgesetzt sehen. Nebenbei bemerkt gab es übrigens auch in Herrn zum Winkels Anti-AKW-Lager massive Blackout-Angstmache im gesamten Zeitraum 2022-23: nämlich über Frankreich, das wegen seiner maroden AKW vor dem Blackout stehe. Bekanntlich sind diese – hundertfach ausgesprochenen – Prognosen nicht eingetreten.

Green Capitalism

Herr zum Winkel schreibt also die Unwahrheit in gleich zwei Hinsichten: weder habe ich gesagt, was er behauptet, noch waren meine Prognosen falsch. Hätte er mein Buch, auf das er sogar verweist, wirklich gelesen und fachlich rezensiert, hätte er feststellen können, dass ich nicht zu den Doom-Propheten gehöre, die das Ende Deutschlands wegen sechs stillgelegter AKW herbeiphantasieren, dass ich aber einige andere unbequeme Wahrheiten ausspreche. Zum Beispiel jene, dass der Energiewendestaat schaffte, was der Atomstaat nie geschafft hat, nämlich eine Domestizierung der Umweltbewegung im Dienste des Kapitals – in diesem Falle, des in der EE-Industrie verkörperten Green Capitalism, dem Umweltverträglichkeitsprüfungen erlassen und Sondergesetze auf den Leib geschneidert werden. Nebenbei ist die Energiewende auch eine gigantische Umverteilung von unten nach oben – ein Thema, das die meisten in der Klimabewegung kalt lässt.
Vor einer absehbaren Deindustrialisierung spreche ich aus demselben Grunde wie auch Ulrike Herrmann in ihrem neuen Buch , nur mit anderer Schlussfolgerung. Herrmann sagt wie ich, dass die derzeitige Lebens- und Wirtschaftsweise unmöglich mit 100% Erneuerbaren Energien versorgbar sein wird; sie bietet Degrowth und Lebensreform als Lösung an, mogelt sich aber um die Besitzverhältnisse am „Ende des Kapitalismus“ doch herum. Hingegen sage ich – als linke Ökomodernistin – dass wir eine Industriegesellschaft unseres Formats nur dann dekarbonisiert bekommen, wenn wir die leistungsdichte und extrem rohstoff-sparsame Kernenergie die Arbeit machen lassen, die heute die Kohle als EE-Backup macht. Und dass wir das schon allein deswegen werden tun müssen, weil außer uns ein paar weitere Milliarden Menschen wenigstens einen Bruchteil unseres Lebensstandards erreichen möchten.

Die „Atomgemeinde“ und Russland

Isar 2 (2010). Foto: Bjoern Schwarz auf wikimedia commons

Meine Position zur Kernenergie kann diskutiert werden – ich war und bin immer bereit dazu. Ich bin aber nicht das, was Kritiker wie Detlef zum Winkel aus mir auf Biegen und Brechen machen wollen, nämlich die Predigerin und Sprecherin für eine kohärente, schlagkräftige, aber überlebte Lobbygruppe, die sogenannte „Atomgemeinde, die sich durchaus in einem Zwiespalt befindet, weil sie von russischem Uran abhängt, sogar mit steigender Tendenz“. Auch das trifft nicht zu. In Wirklichkeit lässt sich die Abhängigkeit von Russland und seinen Uran-Anreicherungskapazitäten, die bei 20% des in der EU benötigten Urans liegt, weitere 20% stammen aus Kasachstan – sehr viel leichter reduzieren als die von den russischen leitungsgebundenen fossilen Energieträgern. Das Kernkraftwerk Isar-2 kann mit 50 frischen Brennelementen, die in Herrn zum Winkels Wohnzimmer passen würden, einen einjährigen Reaktorzyklus fahren und so 12 Terawattstunden Strom produzieren, was bedeutet, dass es 3,2 Millionen Haushalte ein Jahr lang mit Strom versorgen kann.

Was ich damit sagen will: Wenn der Uranzufluss aus Russland aus politischen Gründen akut abgesperrt würde, könnte das Kernkraftwerken, die mehrere Jahresvorräte an Brennelementen bequem auf dem eigenen Gelände lagern können, herzlich egal sein; was akutes „Hahn zu“ bei Gas und Öl für unsere Versorgungssicherheit bedeutet, konnten wir ja letztes Jahr besichtigen. Abgesehen davon reichen die Kapazitäten der europäischen Uran-Anreicherungsanlagen und Brennelementfabriken in Frankreich, Schweden und Deutschland völlig aus, um die Batches zu übernehmen, die aus Russland nicht mehr kommen werden. Herr zum Winkel hätte gerade am Beispiel der Ukraine, die ja der Anlass seines Artikels war, sich informieren können, wie man, wenn man „russische“, recte: sowjetische Reaktoren nutzt, eine Brennelement-Versorgung diversifizieren und von Russland abkoppeln kann. Anders als die Tschechen oder Ungarn hat nämlich die Ukraine schon vor einem Jahrzehnt begonnen, ihre VVER-Brennelemente nicht mehr nur beim russischen Hersteller TVEL, sondern bei Westinghouse produzieren zu lassen.

Reaktoren und Raketen

Es ist aber noch ein weiterer Aspekt unseres Beispiels Isar-2 nennenswert, nämlich seine Klimabilanz und seine Funktion in einem Stromnetz. Ein Kernkraftwerk versorgt seine drei Millionen Haushalte mit einem CO2-Ausstoß von je nach Quelle fünf bis zwölf Gramm CO2 pro Kilowattstunde, vgl. UNECE (Fig. 1) oder IPCC (Table A.III.2, median). Das ist ungefähr das Level der Windkraft. Die Fläche, auf der das stattfindet: ein paar Fußballfelder. Wollte man mit Windkraft dasselbe erreichen, müsste man 800 bis 1000 moderne Windturbinen auf der Fläche Münchens unterbringen und noch eine Speicher-Infrastruktur dazu stellen, damit aus der intermittierenden auch eine planbare, gesicherte Leistung wird, d.h. eine, die das Kernkraftwerk auch netzfunktional ersetzt und nicht nur in Jahres-Durchschnittsbilanzen.

Weil die Ersetzung von Kernkraftwerken durch intermittierend produzierende Erneuerbare eben nicht trivial ist, war der deutsche Atomausstieg bei gleichzeitigem Hochlauf der volatilen Erneuerbaren auch eine Fahrkarte in die Zementierung der Kohlekraft und in die Abhängigkeit von Gazprom. Die Nebenwirkungen sind Luftverschmutzung und eine miese Klimabilanz unserer Elektrizitätswirtschaft. Eine weitere ist das neue kapitalistische Rattenrennen um die Rohstoffe für EE-Anlagen, die genauso wie das Uran aus Extraktionsindustrien mit schlechten Arbeitsbedingungen am anderen Ende der Welt stammen – nur dass wir davon um Größenordnungen mehr Masse benötigen als wir Uran-Masse benötigen, vgl. UNICE (Fig. 45, 46).

Wofür ich als Publizistin, aber auch als Wissenschaftlerin plädiert habe, war ein energiestrategisches Handeln an der Schnittstelle von Klima- und Versorgungssicherheit. Allein an dieser Schnittstelle hat die Kernenergie eine Berechtigung. Wollen wir nur Emissionsreduktion, können wir auch Degrowth fahren und zusehen, wie die freigesetzten Arbeitskräfte als Gelbwesten unsere Straßen füllen. Wollen wir nur Versorgungssicherheit, können wir auch Kohle verbrennen. Unter Einsatz der Kernenergie können wir eine Industriegesellschaft dekarbonisieren, ohne sie zu demontieren. Das war, nebst der Forderung zur Vergesellschaftung der Energiewirtschaft, mein Vorschlag zur Diskussion, der aber in der Linken nie diskutiert wurde. Die deutsche Linke hat in ihrem Bündnis mit der kleinbürgerlich-ökologistischen Technik- und Modernekritik den Rechten die Atomkraft regelrecht vor die Füße geschmissen; eine der Folgen ist, dass jeder, der für sie plädiert, heute in Rechtsverdacht und Ächtung gerät. Ich plädiere aber gerade als Linke dafür, dass wir noch einmal diskutieren sollten über Reaktoren. Und leider, durch die Verhältnisse gezwungen, auch über Raketen.

Anna Veronika Wendland
Dr. Anna Veronika Wendland ist Osteuropa- und Technikhistorikerin in Marburg. Für ihre Habilitationsschrift hat sie über längere Zeit in Kernkraftwerken in Osteuropa und Deutschland geforscht.

1 Kommentar

  1. Eine gelungene Erwiderung von Fr. Wendland. Sachlich, unaufgeregt und kompetent. Mit Argumenten und Fakten gearbeitet, statt persönlicher Attacken. So wie man es von Erwachsenen, die publizistisch tätig sind, erwarten würde.
    Diese Grundfertigkeiten konnte sich Herr zum Winkel anscheinend bis heute nicht aneignen.

    Beim ursprünglichen Artikel Herrn zum Winkels lese ich sehr viel Neid zwischen den Zeilen. Dass seine Texte und Meinungen weniger Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erfahren haben, dürfte wohl einfach daran liegen, dass sie keine Relevanz haben. Zum Winkels Texte sind belanglos und deren Inhalte sowie Aussagen beliebig austauschbar. Und daher genauso irrelevant wie deren Autor.

    Eine nennenswerte intellektuelle Eigenleistung ist nicht erkennbar. Er kommt mit all den ausgelutschten Standardargumenten zur Atomkraft und zum Ukrainekrieg, die man leider von vielen vermeintlichen Intellektuellen hört und liefert daher nichts neues, was die Debatte irgendwie voran bringen könnte.
    Ganz anders Frau Wendland, die durch ihre Expertise erheblich zu beiden Themen beitragen konnte und auch meinen persönlichen Horizont erweitert hat.

    Herr zum Winkel schürt Angst vor einem nuklearen Inferno. Dabei ist das Inferno doch schon längst in seinem Kopf ausgebrochen. Frau Wendland wirft er Propagandaaussagen vor, fällt aber mit seinem Appeasement gegenüber Russland, ohne es zu merken, selbst auf die Geschichten aus dem Kremlgarten rein.

    Herr zum Winkel sollte sich lieber öfters mal Fragen, ob seine Texte den Solarstrom überhaupt wert sind, den er beim Tippen verbraucht. Sonnenstrahlen, die 150. Mio Kilometer unterwegs waren, können sicherlich für was sinnvolleres verwendet werden.

    Ich bedaure es auf die Artikel von Herrn zum Winkel gestoßen zu sein. Sowohl was den Verlust von Lebenszeit als auch von Gehirnzellen angeht, den ich beim Lesen seiner Artikel erlitten habe. Warum machen sich gerade Menschen fortgeschrittenen Alters so große Sorgen um Atommüll oder einen Atomkrieg? Die Konsequenzen ihrer jetzigen Forderungen werden sie selbst ja ohnehin nicht mehr erleben. Man kann nur hoffen, nicht mehr allzu lange in den Genuss von Texten Herrn zum Winkels zu kommen.

    P.S. Wer in seinen Texten gendert, wie Herr zum Winkel, kann man sowieso nicht ernst nehmen.

    [Redaktioneller Hinweis: „Mit Argumenten und Fakten gearbeitet, statt persönlicher Attacken. So wie man es von Erwachsenen, die publizistisch tätig sind, erwarten würde.“ Und dann folgt eine persönliche Attacke nach der anderen.
    Solche „Kommentare“ erreichen bruchstücke zum Glück sehr selten und für die sehr wenigen Ausreißer wurde der Papierkorb erfunden. Dieser mag als abschreckendes Beispiel dienen. at]

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