Ein historischer Moment – der Aufbruch hunderttausender Israelis

Demonstration in Jerusalem 20. 2. 2023 (Foto: Hanay auf wikimedia commons)

Wir Israelis dürfen der irreführenden Identitätspolitik, hinter der wir uns zu verstecken gewohnt sind, nicht erlauben, uns von innen zu zersetzen. Wir müssen uns freimachen von unserem Narzissmus der kleinen Differenzen. Das bedeutet auch, diejenigen nicht zu beschimpfen, die mit palästinensischen Fahnen demonstrieren. Nicht ein einziges der Gesetze, die von der israelischen Regierung derzeit in einem Staatsstreich durchgepeitscht werden, kommt sozial Schwachen oder Kranken zugute, geschweige denn den Unterdrückten, Ungebildeten oder Bedürftigen der Gesellschaft. Diese Art der Gesetzgebung – euphemistisch als „Justizreform“ propagiert – hat in der hebräischen Sprache dem Wort für „Reform“ bereits einen zynischen Klang verliehen; sie spottet seiner korrektiven, progressiven Konzeption, denn ihrem Wesen nach ist diese Gesetzgebung regressiv.

Die israelische Regierung versucht derzeit nichts anderes als Rechtsstaatlichkeit in Gewaltherrschaft umzuwälzen; die in allen Lebensbereichen der israelischen Gesellschaft herrschenden ungleichen Machtverhältnisse im öffentlichen Recht zu verankern. Hinterhältig versucht sie, die Bürger des Landes mit ihrer neuen Rechtsordnung zu unterjochen, nur damit ein paar korrupte Politiker an der Macht bleiben können.

Noch mehr Macht raffen

Nicht einmal dem Anschein nach wollen die aktuellen Gesetzespläne die Sozialleistungen oder den Schutz von Minderheitenrechten aufrechterhalten. Unverhüllt wird die parlamentarische Mehrheit missbraucht, um noch mehr Macht zu raffen. Unter der Führung des bislang raffgierigsten aller Ministerpräsidenten Israels wird die israelische Unabhängigkeitserklärung annulliert – jene ideologische Rückversicherung, ohne die Israel ihren Platz unter den demokratischen Staaten verliert.

In der Geschichte gibt es nicht wirklich so etwas wie einen „entscheidenden Moment“. Es bleibt immer die Möglichkeit zu einer weiteren, guten oder schlechten Entscheidung. Stets bleibt Raum für Hoffnung und die Möglichkeit zum Handeln. Der historische Moment, der die jetzige Generation prägt, ist schon längst nicht mehr der Mord an Jitzchak Rabin oder die Bildung der jetzigen, rechtsextremen Regierung. Unser historischer Moment ist der Aufbruch hunderttausender Israelis, die auf die Straße gehen, um zu demonstrieren. Das überrascht und begeistert. So wird ein Triumph der Demokratie möglich. Doch nur, solange wir das nicht für selbstverständlich halten und nicht selbstgefällig werden. Der Einfluss der israelischen Zivilgesellschaft ist enorm, und darin unterscheidet sich Israel von anderen Ländern, die ähnliche Verfassungskrisen erlebt haben, wie der Iran unter dem Schah, die Türkei unter Erdogan, wie Ungarn oder Polen.

Diejenigen, die glauben, der Braindrain oder zukünftige Investoren würden der Zerstörung der Demokratie schon Einhalt gebieten, oder die ihre Hoffnungen auf den Internationalen Währungsfonds oder in den Fall des Schekels setzen – die leiden unter Wahnvorstellungen. Der Faschismus arbeitet entgegen aller Nützlichkeits- und Selbsterhaltungserwägungen.

Es ist immer die Gewalt

Ein Beispiel aus der Geschichte: Im Jahre 1933 waren im Deutschen Reich noch 5500 jüdische Ärzte registriert. 1939 lebten bereits weniger als 300 jüdische Ärzte in Hitlerdeutschland. Zwei Jahre vor Beginn der sogenannten Endlösung gab Deutschland 95% seiner jüdischen Ärzte auf, ebenso wie tausende Psychologen jüdischer Herkunft, zudem Akademiker und Chemiker, Industrielle und Bankiers. Mit der Abwanderung dieser Intellektuellen, Wissenschaftler und Berufstätigen verschwanden ganze Fach- und Wissensgebiete. Zugleich ist der Faschismus seinem Wesen nach weniger eine ideologische oder pragmatische, als vielmehr eine Erlebnisgemeinschaft, die das Auflösen des Einzelnen im Staat und seinem Gesetz als euphorisches Einheitserlebnis inszeniert. Dabei will der Faschismus zum Schweigen bringen und wirkt zersetzend, er ist weder an kritischer Prüfung noch an kreativer Schöpfung interessiert. Im Faschismus ist es immer die Gewalt, die dem Gespräch oder Gedanken vorausgeht.

Möglich, dass es uns an unseren Arbeitsplätzen demnächst etwas unheimlich zumute wird – im Krankenhaus oder öffentlichen Dienst, an der Uni. Denn in einer Autokratie fühlt sich jeder heimgesucht; niemand kann sich noch irgendwo heimisch fühlen, nicht einmal bei sich zu Hause. Der Faschismus ist ein Geistesflackern, das, durch Urängste befeuert, von ideologischer Verfolgung wie gedanklicher Zensur durchzuckt, jede Unterscheidung zwischen Wort und Tat unmöglich macht. Diese mentale Infiltration setzt sich fort, selbst wenn man an einer Universität studiert, vor dem eigenen Computer Software entwickelt oder bei sich zu Hause versucht, in Ruhe ein Buch zu lesen.

Sobald diese Mentalität gesellschaftliche Konvention wird, wirkt sie auch dort, wo die Wähler jüdischer Faschisten wie der Regierungsminister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich keine Mehrheit bilden. Beispielsweise eskalierte diese Woche in der Schule meiner Töchter vor aller Augen ein lautstarker Streit zwischen zwei Lehrern. Wir, die Psychotherapeuten, beobachten dies auch in unseren Kliniken: Menschen werden ausfällig, die Gesellschaft bricht auseinander. Der Faschismus verändert die Beziehung zwischen Mensch und Mitmensch, zwischen Ärzten und Personal, zwischen Ehepartnern und sogar zwischen Kindern auf dem Spielplatz. Zur gleichen Zeit in der die Knesset ein Gesetz verabschiedet, das es dem Ministerpräsidenten erlaubt, Bestechungsgelder von Unternehmern anzunehmen, muss sich ebenjener für vier Korruptionsfälle vor Gericht verantworten. Zur gleichen Zeit verhalten sich die Autofahrer immer rücksichtsloser auf den Straßen, missachten Postbeamte ihre älteren Kunden, greifen Kinder Schwächere an und misshandeln Tiere.

Eine ermutigende und aufregende Überraschung

Der Faschismus verbreitet sich immer schneller als man denkt. Und er hat immer irgendein Problem mit dem geltenden Gesetz. Faschisten machen immer das Gesetz dafür verantwortlich, dass sie unzufrieden sind und dass ihre Vorschläge für endgültige Lösungen hochkomplexer sozialer und wirtschaftlicher Probleme nicht verwirklicht werden können. Die Wirklichkeit wird dabei geflissentlich außer Acht gelassen; geschweige denn das Gewissen berücksichtigt.

Demonstration in Kfar Saba, 11. 3.2023 (Foto: Omer Toledano auf wikimedia commons)

Hingegen ist die Bereitschaft Hunderttausender Israelis, für Gerechtigkeit und Wahrheit zu kämpfen, eine ermutigende und aufregende Überraschung. Doch weil der Staatsstreich derart grob und stur umgesetzt wird, gibt es noch immer solche, die darin irgendeinen authentischen Ausdruck zu sehen vermeinen. Zweifelsohne spielt sich derzeit in jedem uns ein gewaltiges Drama widersprüchlicher Identifikationen ab, das erkannt werden muss und nach Formen des Ausdrucks sucht. Um unseren Widerstand aufrechtzuerhalten und ihm Erfolg zu verleihen, müssen wir daher nicht nur an die Gerechtigkeit unserer Sache glauben, sondern dürfen auch die widersprüchlichen Kräfte nicht aus dem Blick verlieren, die in jedem von uns wirken.

Es wäre abwegig, uns mit einem der gängigen Ausgrenzungs-, Projektions- oder Polarisierungsprozesse zu identifizieren. Ich wiederhole mich: Wir dürfen der irreführenden Identitätspolitik, hinter der wir uns zu verstecken gewohnt sind, nicht erlauben, uns von innen zu zersetzen. Wir Israelis müssen uns freimachen von unserem Narzissmus der kleinen Differenzen. Das bedeutet auch diejenigen nicht zu beschimpfen, die mit palästinensischen Fahnen demonstrieren. Solange aber diese Art der Hetze und derartige Angriffe auf die Wahrheit andauern, werden wir noch vielen Feiglingen, Verleumdern, Vandalen und Heuchlern begegnen. Wir werden sie sowohl in unserem unmittelbaren sozialen Umfeld konfrontieren als auch in uns selbst.

Mir scheint, in den letzten Wochen versuchen die Israelis nicht nur zu verhindern, dass sich das Land in eine Diktatur verwandelt, sondern auch die Maske der Lügen und ideologischen Verblendung ihrer Regierungsvertreter von den eigenen Gesichtern zu reissen – Juden wie Araber, Links wie Rechts. Das ist keine leichte Aufgabe, denn sie konfrontiert uns mit dem Unbekannten.

Wir Psychotherapeuten können und müssen den Menschen verstehen helfen, dass es ohne Demokratie kein geistiges oder kulturelles Leben mehr gibt, das noch als lebendig oder lebenswert bezeichnet werden könnte. Auf dieses Thema bin ich bereits ausführlich in meinem letzten Zeitungsartikel eingegangen (FaustKultur). Die innere, seelische Wirklichkeit ist derzeit zuäußerst gekehrt. Sie spielt sich auf der Straße ab und nicht in den Kulturwerkstätten oder Behandlungsräumen. Wer sich selbst erkennen und seine Seele erforschen will, wer herausfinden will, was er oder sie wirklich fühlt und denkt, findet Antworten auf diese Fragen nicht im Rückzug von der soziopolitischen Wirklichkeit – im „inneren Exil“ –, sondern mit Eintritt in die politische Sphäre. Nichts stärkt die Individualität und den Lebensdrang des Ich gerade mehr als die Teilnahme an Demonstrationen.

So, wie ich die Widerstandsbewegung gegen den Regierungsputsch sehe und erfahre, ist sie noch weit davon entfernt, das Bewusstsein ihrer Unterstützer parteipolitisch zu polarisieren. Deshalb dringt sie nicht darauf, sich der Führung bekannter Politiker oder charismatischer Persönlichkeiten anzuvertrauen. Sie schöpft ihre Kraft nicht nur aus der moralischen Gültigkeit ihrer Forderungen, sondern auch aus dem mentalen Prozess, den jeder, der sich ihr anschließt, durchläuft; aus der demokratischen Erfahrung, die der Kampf gegen den Faschismus ermöglicht.

Eine Art zerbrochener Spiegel der israelischen Demokratie

Wenn ich mich frage, was mich dazu bewegt, jeden Samstagabend auf der Kaplanstraße in Tel Aviv zu demonstrieren, komme ich zu dem Schluss, dass mir die Proteste zu einer Quelle der Befriedigung und Hoffnung geworden sind, weil sie angemessen und gerecht sind, und obwohl sie nicht mein ideales Selbstbild als Linker exakt widerspiegeln. Die Opposition gegen den Regime-Putsch ist eine Art zerbrochener Spiegel der israelischen Demokratie, die mir jedes Mal einen anderen Teil meines Selbst näher bringt, als Mensch und als Bürger.

Die Erfahrung einer Massenkundgebung ist beeindruckend und neu, insbesondere für junge Menschen. Teil dieses historischen Moments zu sein bedeutet, emotionale Umwälzungen zu erleben, die die eigene Identität grundsätzlich erschüttern. Es fängt mit der eigenen Identifizierung mit Vertrautem und Gemeinsamem an, wie der Nationalflagge, der Nationalhymne oder einem Lied aus der Armee. Doch von den Demonstrationen kehrt niemand in sein oder ihr trautes Heim zurück, so wie es verlassen wurde. Etwas fühlt sich nun anders an beim nächsten Anziehen der Uniform, beim nächsten Panoramablick über den See Genezareth oder beim nächsten Pessachfest, wenn wir beim Verlesen der Haggada dem Auszug aus der Sklaverei gedenken. Sogar die hebräische Sprache hat sich durch die Ereignisse der letzten Wochen verändert. Sie wurde zur Komplizin bei der „Störung“ der „Reform“, ohne sich vom faschistischen Angriff auf die Wahrheit vereinnahmen zu lassen.

Nie etwas tun oder sagen, was feig und niedrig ist

Wir befinden uns derzeit mitten in einem kollektiven Trauma – das aber positives Potenzial birgt. Was die Krise oder das furchtbare Ereignis von einem fruchtbaren Trauma unterscheidet, ist der Grad der Bewusstheit, der subjektiven Verlassenheit und gefühlten Kontrolllosigkeit, die das Trauma begleiten. Unser jetziges Trauma – nicht unähnlich dem des Unabhängigkeitskriegs, der nach Ausrufung des Staates ausbrach – dröselt nicht nur ab-genutzte Identifikationsmuster auf. Dieses traumatische Ereignis hat die Macht, uns zu stärken und wachsen zu lassen, uns in eine wagemutigere Nation und in bessere Menschen zu verwandeln.

In den letzten Wochen haben die Israelis gemeinsam den ersten Leitfaden zum Widerstand gegen den Faschismus israelischer Fassung geschrieben. Vorausgesetzt dass sie ihren Kampf nicht aufgeben, ersparen sie es sich, auch noch den ersten Ratgeber zum Leben in einem jüdischen Gottesstaat zu verfassen. Indes, die Grundprinzipien des Widerstands gegen den Faschismus hatte Sigmund Freud bereits 1935 in einem Brief an Thomas Mann formuliert: „Etwas … kann ich mir aber gestatten: Im Namen von Ungezählten Ihrer Zeitgenossen darf ich unserer Zuversicht Ausdruck geben, Sie würden nie etwas tun oder sagen – die Worte des Dichters sind ja Taten –, was feig und niedrig ist, Sie werden auch in Zeiten und Lagen, die das Urteil verwirren, den rechten Weg gehen und ihn anderen weisen.“ (6. Juni 1935)

Damals wie heute beeinträchtigt der Angriff auf die Demokratie gleichermaßen das Urteilsvermögen der Politiker und Bürger. Wir aber, die wir auf die Straße gegangen sind, werden nicht abwarten, bis die Arbeitervereinigung, die Ärztegewerkschaft oder der Lehrerverband zur Vernunft gekommen sind und sich unserem Kampf anschließen. Wir werden aufrecht unseren geraden Weg vorangehen und ihn unseren Kindern, Studenten und Patienten weisen, sowie allen, die den Ernst des Augenblicks noch nicht begriffen haben, aber bereit sind, zuzuhören.

Aus dem Hebräischen von Jan Kühne

Unter dem Titel „Wer hat Angst vorm zerbrochenen Spiegel?“ erschien der Beitrag zuerst auf FaustKultur

Eran Rolnik
Dr. Eran Rolnik ist ein israelischer Psychoanalytiker, Psychiater und Historiker. Sein Buch „Freud auf Hebräisch – Geschichte der Psychoanalyse im Jüdischen Palästina“ erschien 2013 bei Vandenhoek & Ruprecht, sein neuestes Buch „Redekur-Psychoanalyse verstehen“ im Februar 2023 im Brandes & Apsel Verlag.

2 Kommentare

  1. Hallo werte bruchstuecke-Redaktion,
    zu diesem enorm wichtigen und erhellenden Text von Eran Rolnik habe ich nur eine sachliche Frage: Da ist ein Bild mit rot gewandeten Menschen vorhanden – leider ohne jede Erklärung dazu. Ich finde es wichtig, „Fotos“ immer mit Kontext zu versehen, um so ein Verstehen zu ermöglichen. Wäre es möglich, das Foto entsprechend mit einer etwas längeren Bildunterschrift zu versehen?
    Viele Grüße, Uwe Peschka

  2. Frauen in langen roten Mänteln und mit weißen Hauben, die mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen auftreten, sind ein häufiges Erscheinungsbild der Demonstrationen in Israel gegen die geplante Justizreform. Sie „zitieren“ Figuren aus der Serie „The Handmaid’s Tale“, die auf dem Buch „Der Report der Magd“ von Margaret Atwood fußt. Ausführlicheres z. B. hier https://orf.at/stories/3309236/

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