Beschämend die Debatte um Entschädigung, erbärmlich die Höhe der Zahlungen

Bundesarchiv Bild 183-77013-0002, Pressburg, Frick und Globke
Der Ausschuss für Deutsche Einheit dokumentierte am 14.10.1960 auf einer Pressekonferenz in Berlin, dass die Praktiker und Theoretiker des brutalen Kriegs“rechts“ der Nazis, die Herausgeber und Artikelverfasser der faschistischen „Zeitschrift für Wehrrecht“ heute wieder in gleicher oder ähnlicher Funktion für Adenauer und Strauss tätig sind. Frick und Globke waren 1941 in Pressburg [Bratislava], um die faschistischen Judengesetze in der Slowakei einzuführen.

„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Mit diesen Sätzen seiner Rede vom 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag ordnet der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Kapitulation von Wehrmacht und Staat der Nazis, 40 Jahre danach, endlich richtig ein. Diese Worte wirkten auch befreiend für mich und viele meiner Generation. Das Staatsoberhaupt sprach aus, was für viele von uns selbstverständlich war, aber doch nicht öffentlich von staatlicher Stelle gesagt wurde. Denn trotz der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, der Entnazifizierungsprogramme durch die Alliierten, oft halbherzig und inkonsequent, war 1945 keineswegs ein vollständiger Neubeginn.

Nationalsozialistisches Gedankengut lebte in allen Bereichen der Gesellschaft fort, alte Nazis sind, zum Teil an vorderster Stelle, an der Errichtung des neuen Staates beteiligt, in der Bundesrepublik Deutschland und auch in der DDR kaum weniger. Die fehlende Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit durch die eigene Elterngeneration war ein Thema der 1968er-Protestbewegung. Das Ausmaß der personellen Verstrickung und gedanklichen Kontinuität wurde aber damals nicht aufgedeckt. Erst in den 1980er Jahren ändert sich das schrittweise. Es ist an einem 8. Mai dringend notwendig, bewusst zu machen, wie breit gestreut die Kontinuität zur Nazi-Zeit ist und wie spät Aufklärung und Auseinandersetzung damit beginnt:

> Bis 1998 sind über 200 ehemalige Mitglieder der NSDAP, der SA und der SS in als Abgeordnete im Bundestag und den Landtagen, als Minister in Bund und Ländern, als Bürgermeister und Landräte, als leitende Verbandsfunktionäre tätig. Auch in der DDR sind etwa hundert ehemalige NSDAP-Mitglieder als Abgeordnete in der Volkskammer, Mitglieder der DDR-Regierung, Vorsitzende oder Mitglieder der Bezirksräte oder der SED-Bezirksleitungen, als Botschafter oder herausragende Publizisten tätig.

> Die Nazi-Vergangenheit von Wilhelm Globke, Chef des Bundeskanzleramtes 1953 bis 1963, engster Vertrauter von Konrad Adenauer, wird erst spät öffentlich bekannt. Er ist federführend, schon in der Weimarer Republik und befördert durch die Nazis, an antisemitischen Namens-Rechts- und Rassengesetzen beteiligt.

> Der Bundesnachrichtendienstes in Pullach wirbt nachweislich in den 1950er und 1960er Jahren gezielt Nazi-Verbrecher an, verantwortlich für Tötungsdelikte, und setzt sie auch ein. Gedeckt von W. Globke, der im Bundeskanzleramt dafür für die Aufsicht über den BND zuständig ist.

> Mit am schlimmsten: Juristen mit NAZI-Vergangenheit bereiten im Bundesministerium der Justiz die Gesetze mit vor, die die Verfolgung der Nazi-Verbrechen erschwert und die Verjährung erleichtert. Es ist bis heute ein Skandal, dass in den 60er und 70er Jahren kaum Täter verfolgt und bestraft wurden. Die Tätigkeit von Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt in Hessen bis 1968, ist eine rühmliche Ausnahme. Erst 2016 wird Die „Akte Rosenburg“ über die Verstrickungen des Bundesministeriums der Justiz in die NS-Vergangenheit veröffentlicht. 2022 wird auf der offiziellen Internet-Seite des BMJ eine Kurzfassung zur Kenntnis gegeben. Bundesminister Marco Buschmann in seinem Vorwort: „Die Ergebnisse sind bestürzend: von den 170 Juristen, die von 1949 bis 1973 in Leitungspositionen des Ministeriums tätig waren, hatten 90 der NSDAP und 34 der SA angehört. Mehr als 15% waren vor 1945 im nationalsozialistischen Reichsjustizministerium selbst tätig.“

> Schon einige Jahre zuvor, aber doch erst am Beginn des 21. Jahrhunderts, hat der damalige Bundesminister des Auswärtigen, Joschka Fischer, eine Unabhängige Historikerkommission mit der Untersuchung der Nazi-Vergangenheit des Auswärtigen Amtes und des Auswärtigen Dienstes beauftragt. Ergebnis der Untersuchung ist, dass diese Institutionen auch Wegbereiter zur „Endlösung der Judenfrage“ waren und die Deportation von Juden und den Holocaust unterstützen. Auch hier ist die personelle Kontinuität von ehemaligen NS-Beamten und -Diplomaten in den Diensten des AA in die Zeit nach 1945 äußerst hoch ist.

> Erst die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“, bewundernswert 1995 von Hannes Heer auf den Weg gebracht, zerstört die Legende von der „sauberen Wehrmacht“, wird aber auch von heftigen Protesten und Anfeindungen begleitet. Aber insgesamt ist Wanderausstellung, von 1995 bis 1998 in 32 Städten von fast einer Million Menschen besucht, ein Meilenstein in der „Erinnerungskultur“.

Neonazi-Aufmarsch der „Bürgerbewegung gegen die Wehrmachtsausstellung“ (BWG) in München anlaesslich der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 – 1944“.
(Foto: Andreas Bohnenstengel auf wikimedia commons)

> Nicht zu vergessen ist schließlich die vom nationalsozialistischen Regime selbst so genannte „Gottbegnadeten-Liste“, von Hitler und Goebbels im August 1944 in Auftrag gegeben. Sie zeigt in einem kaum vorstellbaren Ausmaß, wie die „Gottbegnadeten“ des Nazi-Regimes Kunst und Kultur der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 beeinflussen und bestimmen. Erst durch die Ausstellung im Deutschen Historischen Museum 2021 wird diese Liste einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Nicht nur der Berlinale-Gründungsdirektor (Alfred Bauer) und der documenta-Wegbereiter Werner Haftmann sind alte Nazis. Die Liste benennt insgesamt 378 Künstler*innen aus, die von Front- und Arbeitseinsatz im Krieg verschont blieben, weil sie sich in den Dienst der Nazi-Diktatur gestellt hatten, „die al Handlanger eines verbrecherischen Regimes dessen menschenverachtende Ideologie ästhetisch untermalten und untermauerten“ (M. Grütters) „Die Ausstellung zur ‚Liste der Gottbegnadeten‘ liefert eine Erkenntnis, die noch verstörender ist, als der Nationalsozialistische Propagandabegriff im Ausstellungstitel: Sie offenbart, dass viele von den Nazis hofierten Künstlerinnen und Künstler ihre Karriere nach 1945 einfach fortsetzen konnten und mit ihren Werken vielfach nach wie vor im öffentlichen Raum präsent sind.“ So Monika Grütters, damals Staatsministerin für Kultur, zur Eröffnung der Ausstellung am 26. August 2021.

Screenshot Youtube; Pressekonferenz zur Ausstellung „Die Liste der ‚Gottbegnadeten‘. Künstler des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin am 25. August 2021

Erst in den 1990er Jahren beginnt die Aufklärung über den Umfang der allgegenwärtigen und alltäglichen Zwangsarbeit in der Nazi-Zeit. 13 Millionen Menschen in Zwangsarbeit in allen Bereichen der Wirtschaft, nicht nur in Rüstungsbetrieben, in Handwerkbereichen, in der Landwirtschaft und in privaten Haushalten. Millionen davon sterben aufgrund der unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen. Unternehmen und Staat wehren sich lang gegen die Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels der Nazi-Zeit. Die Debatte über die Entschädigung ist erbärmlich, die Höhe der Zahlungen beschämend. Erst auf Druck, insbesondere durch Sammelklagen in den USA, werden Entschädigungen gezahlt und schließlich im Jahr 2000 die Bundesstiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ errichtet. Viele werden von Entschädigungszahlungen ausgeschlossen und die gezahlten Beträge sind alles in allem lächerlich angesichts dessen, was Zwangsarbeiter:innen wirtschaftlich geleistet haben und was ihnen angetan wurde.

Erinnerungskultur statt Versöhnungstheater

Die Dimension der Verflechtung und Verquickung, der Konformität und Kontinuität zur Nazi-Zeit machen deutlich, welche Herkulesaufgabe „Erinnerungskultur“ heute und in Zukunft hat. Seit den 1980er Jahren ist ohne Zweifel viel geschehen. Es kommt zum Wechsel von der „Vergangenheitsbewältigung“ und der Schlussstrichmentalität, selbst wenn sie bis heute nicht verschwunden ist. Sie blitzt, durchaus gewollt, z.B. in Martin Walsers Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 mit dem Bild der „Auschwitzkeule“ auf.

Für Erinnerungskultur ist wichtig, nicht nur an den bundesweit bekannten Orten des Terrors wie Konzentrations- und Vernichtungslagern, Folter- und Hinrichtungsorten präsent zu sein. Sondern auch an lokalen Anlässen zur Erinnerung, wie Arbeits- und Erziehungslagern, oder auch an den alltäglichen Lebensorten der von den Nazis verfolgten und ermordeten Menschen, wie es z.B. durch die Stolpersteine geschieht.

Erinnerungskultur beinhaltet sicher, die historische Wahrheit zu benennen, die Schuld einzugestehen und die Grundlagen dafür zu schaffen, dass diese Geschichte, die Dokumente ihrer Zeugen und Zeugnisse so gut wie möglich bewahrt und zugänglich gemacht werden.

Selbst die beste Erinnerungskultur über die Verbrechen des Nationalsozialismus vermindert die Schuld nicht und schafft keinen Anspruch auf Versöhnung. Das macht Max Czollek in seinen Reden und Schriften zum Stichwort „Versöhnungstheater“ zu Recht immer wieder deutlich. Er verweist auch auf das Missverhältnis zwischen dem Ausmaß der Naziverbrechen und dem Minimalismus der Aufklärung und Auseinandersetzung bis heute. Er benennt zurecht, dass die beste Erinnerungskultur keinen Anspruch auf Versöhnung schafft, keineswegs gleichbedeutend mit „Versöhnung“ sein kann.

Versöhnung kann man nicht von Seiten der Täter erwerben, sondern nur von Seiten der Opfer geschenkt bekommen. Natürlich kann gute Erinnerungskultur helfen, dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Aber wir müssen auch für die Unversöhnlichkeit der Opfer Verständnis haben.

Die Aufgabe der Erinnerungskultur ist die Vergegenwärtigung der Geschichte. In der Gegenwart Tendenzen und Entwicklungen aufzuspüren und plausibel zu machen, die zur Wiederholung oder Verhinderung geschehenen Unheils führen können. Darum ist und bleibt Erinnerungskultur wesentlicher Teil und Grundlage der aktuellen Auseinandersetzung mit Rassismus und Antisemitismus.

Der 8. Mai ist Anlass sich die Vergangenheit bewusst zu machen, nicht nur die Nazi-Zeit mit ihren Gräueln, sondern auch die Nachkriegszeit mit ihren Defiziten in der Aufarbeitung und Auseinandersetzung damit. Wenn wir sehen, wie Rassismus und Antisemitismus wieder zunehmen, wird klar, dass „Erinnerungskultur“ lebendig zu machen, eine Daueraufgabe bleibt. Und wir müssen alles daransetzen, auch in Zeiten von Klimakatastrophe, künstlicher Intelligenz und Krieg in Europa vor allem junge Menschen dafür zu gewinnen, sich „Erinnerungskultur“ anzueignen.

Klaus Lang
Dr. Klaus Lang studierte Katholische Theologie, Psychologie und Politik. Er war zunächst Pressesprecher des Vorstandes der IG Metall, 1981 wurde er Leiter der Abteilung Tarifpolitik, später leitete er die Abteilung des 1. Vorsitzenden und war Geschäftsführer der Otto-Brenner-Stiftung, 2003 wurde er Arbeitsdirektor der Georgsmarienhütte Holding GmbH. Er ist Mitglied im Rat der Stiftung Menschenrechte, der Förderstiftung von Amnesty International und im Sozialethischen Arbeitskreis Kirchen und Gewerkschaften.

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