Mit einem Strandkorb wäre es Urlaub gewesen. Doch die Eltern bezeichneten die fünf Mark Mietgebühren, die der schon damals pro Tag kostete, als Geldverschwendung. Vor Wind schützten auch die Dünen, selten genug sei Strandwetter, und das Haus der Großeltern liege keine Viertelstunde Fußweg entfernt, nah genug, um dort Ruhe zu finden, wenn der Ostseestrand überfüllt sei. Argumente, die eine 12-Jährige schon 1978 nicht überzeugten. »Zu den Großeltern fahren« war eben nicht das Gleiche wie »verreisen«, auch wenn ihre da wohnten, wo andere Urlaub machten. Aber diese anderen logierten in Hotels, Pensionen oder wenigstens Ferienwohnungen, saßen ständig in Restaurants und mieteten eben auch Strandkörbe. Für die gesamten 14 Tage, weil es billiger war. Damit der Mensch nicht aus der Touristenrolle fällt, muss ihm alles zur Ware gemacht werden – und umgekehrt.
Noch nicht erfunden waren damals: Beach-Volleyball-Turniere, Kite-Surfing-Kurse, Yoga-Stunden, betreutes Atmen am Strand oder überdimensionale Bilderrahmen am Wegesrand, die den Blick auf die Landschaft lenken sollen – sogar gratis. Aber es gab bereits: Fernrohre an Aussichtspunkten, die gegen Einwurf von 50 Pfennig irgendetwas aus nächster Nähe zeigten. Es gab auch Kurkonzerte, ein Casino, geführte Bernstein-Suchen und nächtliche Fischkutter-Fahrten und damals wie heute wurden in Andenkenläden bemalte Steine und mit Muscheln beklebte Kästchen verkauft, die genauso aussahen wie das, was gelangweilte Kinder an Regentagen basteln.
Karl May statt Karl Marx
Der Fachbegriff für diese und ähnliche Vorgänge, die aus Ferien erst Tourismus machen, lautet »Kommodifizierung«, also »zur Ware machen«. Wovon die 12-Jährige auch zehn Jahre später noch nichts wissen konnte, weil sie gegen die Langeweile an verregneten Ferientagen viel zu lange Karl May gelesen hatte, statt Karl Marx. Ungefähr zu dieser Zeit, Mitte bis Ende der 1980er Jahre, war der Tourismus Forschungsgegenstand zahlreicher Disziplinen geworden. Fast alle bezogen sich auf eine Theorie, die der US-amerikanische Kulturwissenschaftler Dean MacCannell unter dem Titel »The Tourist. A New Theorie of the Leisure Class« 1976 veröffentlich hatte. Mittlerweile ein 10.000-fach zitierter Klassiker, der in immer neuen Auflagen zuletzt 2013 erschienen ist.
MacCannell entwickelt eine Kategorie der »inszenierten Authentizität«, durch die sich die touristische Erfahrung angeblich fundamental von anderen gesellschaftlichen Beziehungen, aber auch Formen des Konsums unterscheide. Daraus entstanden in der Folge zwei große Missverständnisse: Zum einen ging es in der kritischen Auseinandersetzung mit Tourismus zunehmend nur noch um »symbolische Werte« – also die Möglichkeit, mit dem Strandkorb, der Dauer des Urlaubs, der Entfernung des Urlaubsziels, der Größe des Pools oder womit auch immer anzugeben und sich irgendwie besser zu fühlen als andere. Was die realen Folgen für Land, Wasser, Luft und arbeitende Menschen am jeweiligen Ort waren, spielte und spielt in der Forschung dagegen eine untergeordnete Rolle. Aus dieser verengten Perspektive folgte dann das zweite Missverständnis: Diejenigen, die Tourismus als Wirtschaft untersuchten, arbeiten mit Begriffen von Ware und Konsum, Gebrauchs- und Tauschwert, die mindestens unscharf sind. Weswegen es ein kleines Binnenmeer an mehr oder weniger wissenschaftlichen Texten gibt, die versuchen, den wirtschaftlichen Wert des Tourismus aus seinem Gebrauchswert abzuleiten. Wobei sie selbstverständlich zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen und irgendwie zwischen gelungenen und weniger guten touristischen Erfahrungen unterscheiden. Ähnlich wie eine 12-Jährige am Ostseestrand eben Eis, Strandkorb und Barbie-Museum für die sinnvolle Investition des Ferienbudgets hält, während der Vater für Bier, Krabbenbrötchen und Dampfermuseum votiert.
Mit vielen dieser Unklarheiten räumt ein 2020 erschienener Aufsatz auf, in dem der Humangeograf Francis Markham und der Tourismusforscher Martin Young erklären, wie Orte durch Tourismus zur Ware verkommen. Die beiden australischen Forscher beziehen sich dabei ausdrücklich auf Karl Marx und dessen Begriffsapparat. Demnach lässt sich Tourismus, auch im Instagram-Zeitalter, noch als eindeutig ortsgebundene ökonomische Aktivität einordnen – wie Ölförderung oder Reisanbau. Doch während üblicherweise die aus der ökonomischen Aktivität entstehenden Waren zu den Konsument:innen transportiert werden, ist es im Tourismus umgekehrt: Menschen besuchen in ihrer Freizeit Orte an denen sie nicht zu Hause sind. Damit sie das tun, muss der Ort selbstverständlich irgendwas zu bieten haben. Entweder von Natur aus – Ostseestrand, Kilimandscharo, Niagarafälle – oder menschengemacht: Taj Mahal, Disneyland, Elbphilharmonie. In der touristischen Wirklichkeit dominiert die Mischform: Imbissbude, Klo, Shuttleservice – ganz ohne irgendwas Menschengemachtes lässt sich das Naturwunder nicht bestaunen und Las Vegas verbraucht selbstverständlich jede Menge »Gratisressourcen« aus der Natur.
Alltag und Anwohner:innen stören in jedem Fall
Selbst da, wo keine menschliche Tätigkeit einen Rohstoff veredelt, also kein Mehrwert im klassischen Sinne erzeugt wird, fallen Profite ab. Weswegen Martin Young und Francis Markham Tourismus in die Kategorie jener ökonomischen Aktivitäten einordnen, in denen die Profite in einer besonderen Mischung erwirtschaftet werden: Sie besteht aus Zugangsmonopolen, Ausbeutung von Arbeitskraft sowie einer möglichst umfassenden symbolischen Aufladung der den Konsumierenden ermöglichten Erfahrung. Auch Letzteres, von Karl Marx im »Kapital« als Warenfetisch bezeichnet, ist schon lange und zunehmend wichtiger Teil jedes Kommodifizierungsprozesses.
Im Tourismus muss dieser Teil besonders gut funktionieren, da die Konsument:innen ja nie lange vor Ort sind. Während ihrer knapp bemessen Zeit sollen sie möglichst nicht aus der Rolle fallen und auf dumme Gedanken kommen: Beispielsweise einfach nur irgendwo sitzen und Löcher in die Luft starren zu wollen. Selber irgendwelche Muscheln zu sammeln, Unterhosen im Waschbecken ohne Stöpsel zu waschen oder den mickrig kleinen Hotelpool mit dem Freibad in der Heimatstadt zu vergleichen. In derart ernüchternden Momenten, in denen sich die Touristin an ihr sonstiges Leben als Arbeitskraft erinnert oder auch an die Utopie der Freiheit, droht dem Tauschwert der touristischen Erfahrung ein Totalzusammenbruch. Was sich am besten vermeiden lässt, wenn vor Ort möglichst lückenlos nur noch Touristenerfahrungen möglich sind. All-inclusive oder all-exclusive ist dann eine Frage fürs Zielgruppenmarketing, aber Alltag und Anwohner:innen stören in jedem Fall.
Als die mittlerweile dann 13-Jährige im folgenden Jahr die Sommerferien wieder bei den Großeltern verbrachte, hatten die einen ausrangierten Strandkorb in ihren Garten gestellt. Heute würde sie das wirklich zu schätzen wissen.
Unter dem Titel „Alltag und Anwohner stören das Bild“ erschien der Beitrag zuerst auf Oxiblog.