In der momentan turbulenten Debatte über die Folgen des Verfassungsgericht-Urteils werden die folgenden beiden unbestreitbaren Grund-Annahmen zu selten beachtet: Die Schulden einer Privatperson oder eines Staates entsprechen immer einem Guthaben oder Vermögen bei einer anderen Person oder einem anderen Staat. Das ist ein systemischer Zusammenhang.
Die zweite Grund-Annahme: Die meisten Schulden und Vermögen, die es auf diesem Planeten gibt, sind aufgrund eines nicht-nachhaltigen Wirtschaftens entstanden. Sie beruhen ebenfalls systemisch auf der Ausbeutung von Menschen durch andere Menschen und auf der Ausbeutung der Öko-Sphäre durch Menschen; dies gilt vor allem für Schulden und Vermögen in den sogenannten entwickelten Industrieländern. Und es gilt zudem: Je größer die Vermögen sind, desto stärker ist ihr Anteil (ihre Mit-Schuld) an dem Funktionieren von nicht-nachhaltigem Leben und Wirtschaften; und je kleiner diese Vermögen, desto kleiner ist auch ihr Anteil, ihre Mit-Schuld und Mit-Verantwortung. So weit das systemische Fundament der aktuellen Debatte.
Und nun kommen die Vereinten Nationen ins Spiel. Im September 2015 haben alle Länder der Vereinten Nationen diese Resolution einstimmig beschlossen: Unter dem Titel „Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ verpflichten sich alle Länder dieser Welt — ohne Widerspruch, ohne Gegenstimme —, unseren Planeten von einem strukturell nicht-nachhaltigen System in ein nachhaltiges System zu transferieren; also die Ausbeutung von Menschen und die Zerstörung der Ökosphäre zu beenden.
Diese Festlegung hat konkrete Folgen: Zum einen kostet diese gewaltige Transformation sehr viel Geld. Und zum anderen müssen alle Schulden, Vermögen und damit der materielle Wohlstand dieser Welt nach und nach in diese planetare Zukunft so transferiert werden, dass dieses Geld künftig die Nachhaltigkeit (und nicht wie bisher das Gegenteil: „Klimaschädliche Subventionen kosten den Bund 23,5 Milliarden Euro pro Jahr„) fördert und sich nur noch auf Basis dieser Nachhaltigkeit auch erhält und vermehrt; platt gesagt, darf mit Kohle und Öl und Sklavenarbeit kein Geld mehr verdient werden.
Woher soll nun das viele Geld kommen, mit dem diese gewaltige Transformation finanziert wird? Es gilt das Verursacher-Prinzip. Konkret: Hohe Vermögen und hohe Schuldverpflichtungen werden zu einem hohen Prozentsatz zu dieser Finanzierung herangezogen, kleine Vermögen zu einem niedrigen Prozentsatz.
Dieser Grundsatz zieht wiederum folgende Konsequenzen und politische Leitlinien nach sich:
1. Eine starre Schuldenbremse, wie die heute in Deutschland gültige, ist so lange politischer Unfug, so lange sie kein politisches Ziel verfolgt. Ein Beispiel: Schulden sind nicht per se schlecht, es kommt vielmehr darauf an, was mit ihnen finanziert wird; beispielsweise Renovierung und Neubau von Schulen oder die Subventionierung von Kerosin. Eine Schuldenbremse kann also nur sinnvoll sein, wenn sie sich an den Erfordernissen der Nachhaltigkeit und damit der Generationengerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit ausrichtet.
2. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 15. November 2023 (über die Nichtigkeit des Zweites Nachtragshaushaltsgesetzes 2021 unter Berufung auf die grundgesetzlich verankerte „Schuldenbremse“) sollte der Bundestag jetzt, um diese politisch ziellose und deshalb unsinnige Schuldenbremse rückwirkend und für den aktuellen Haushalt auszusetzen, nicht nur eine Klima-Notlage beschließen, wie verschiedentlich vorgeschlagen und gefordert wird. Sondern er sollte viel weitergehend eine Nachhaltigkeits-Notlage bestätigen und beschließen. Denn die Klimakrise ist nur ein Teil der sehr viel umfassenderen Nachhaltigkeitskrise.
3. Für die Begründung dieser Nachhaltigkeits-Notlage kann jetzt auch auf die am 19. September 2023, also vor knapp zwei Monaten, erneut einstimmig von allen Ländern der Vereinten Nationen beschlossenen Resolution zur Halbzeit der Agenda 2030 Bezug genommen werden. In dieser Resolution, der nicht zuzustimmen sich kein Land traute, wurden die Agenda 2030 und ihre Ziele, die sogenannten SDGs (Sustainable Development Goals) vollumfänglich bestätigt. In dieser Resolution heißt es dabei an prominenter Stelle:
Die Erreichung der SDGs ist in Gefahr. Zur Halbzeit der Agenda 2030 sind wir alarmiert, dass die Fortschritte bei den meisten SDGs entweder viel zu langsam vorankommen oder hinter den Stand von 2015 zurückgefallen sind.
Unsere Welt steht derzeit vor zahlreiche Krisen. Jahrelange Errungenschaften der nachhaltigen Entwicklung werden rückgängig gemacht. Millionen von Menschen sind in Armut geraten, Hunger und Unterernährung nehmen zu, der Bedarf an humanitärer Hilfe steigt, und die Auswirkungen des Klimawandels werden immer deutlicher. Dies hat zu mehr Ungleichheit geführt, verschärft durch eine geschwächte internationale Solidarität und einen Mangel an Vertrauen in die gemeinsame Bewältigung dieser Krisen.
4. Eine solche Nachhaltigkeits-Notlage festzustellen, bedeutete natürlich das Eingeständnis der hiesigen Politik, dass es diese Notlage überhaupt gibt. Und vor allem: Es käme der Proklamation der offiziellen Politik gleich, dass eine Rückkehr zur heutigen Normalität endgültig versperrt ist.
So böte das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes der Politik die geradezu historische Chance, einen Sprung in eine bessere Zukunft zu wagen und alle ebenso hinderlichen wie trügerischen Hoffnungen auf eine Rückkehr zum Status Quo ante und gewohnten Normalitäten platzen zu lassen.