Terrorismus oder Befreiung? Kolonisierung oder Verteidigung?

Der Krieg zwischen Israel und der Hamas wirft zwei fundamentale Fragen auf, denen man nicht ausweichen kann:
1. Ist das Vorgehen der Hamas Terrorismus und somit die Hamas eine terroristische Organisation oder ist sie Teil eines Befreiungskampfes des unterdrückten palästinensischen Volkes?
2. Ist das Vorgehen des israelischen Militärs im Gaza-Streifen Mittel und Ausdruck einer kolonialistischen Eroberung oder einer Verteidigung des eigenen Staats und der eigenen Bevölkerung gegen die Bedrohung seiner Existenz?
Für die Beantwortung kommt man ohne eine Kontextualisierung nicht aus, aber sie darf einige Schlüsselereignisse des Konflikts nicht unterschlagen.

Nein, so haben wir uns Dekolonisierung nicht vorgestellt
(Foto: Spokesperson unit of ZAKA photographer auf wikimedia commons)

Hamas: Terrorismus oder Befreiung?

Zum Überfall der Hamas am 7. Oktober haben uns zahlreiche Informationen erreicht. Sie alle beschreiben extreme Grausamkeiten, die von den Angreifern verübt wurden. Dazu schrieb eine Twitter-Nutzerin noch am Tag des Geschehens: „Was habt ihr denn gedacht, was Dekolonisierung bedeutet?“

Nun ist es manchmal so, dass sich ein oder zwei Bilder unabhängig von der Absicht, in der sie gezeigt wurden, in das Gedächtnis der Menschheit einprägen. Beim Vietnamkrieg gab es beispielsweise solche Fotos. Sie besiegelten das vernichtende Urteil der internationalen Öffentlichkeit über den Kriegseinsatz der USA in Indochina.

Ein Bild von noch unübersehbarer Bedeutung gibt es auch vom 7. Oktober. Es zeigt den fast nackten Körper einer sterbenden oder schon toten Frau auf der Ladefläche eines Pickups, umringt von triumphierenden Männern mit den Abzeichen der Hamas, die sie verhöhnen und bespucken. Wahrscheinlich handelt es sich um die Deutsch-Israelin Shani Louk, die mit hunderten anderen Teilnehmern ein Festival in der Nähe von Re’im im Gaza-Umland besucht hatte und dort ermordet wurde. Ein Musikfestival, ein Ereignis von Kultur, Lebensfreude, Frieden.
Wie anders sollen wir das bezeichnen, wenn nicht als Terrorismus, verübt von terroristischen Organisationen? Noch so viele Definitionskünste und offene Briefe von Definitionskünstlern ändern nichts daran, dass sich dieses Bild, stellvertretend für hunderte von Untaten an jenem Tag, als Dokument des Terrorismus der Hamas weltweit einprägen wird.

Um auf den oben zitierten Tweet zurückzukommen: Nein, so haben wir uns eine Dekolonisierung nicht vorgestellt. So etwas hatten sich auch die nationalen Befreiungsbewegungen des vergangenen Jahrhunderts nicht vorgestellt: der Vietcong alias NFLi, die algerische FLNii, die kubanischeniii und mosambikanischeniv Revolutionäre, der ANCv in Südafrika, die Sandinistenvi in Nicaragua. In Kambodscha allerdings wurden solche Verbrechen massenhaft verübt. Sie richteten sich, was nicht überrascht, gegen das eigene Volk. Damit katapultierten sich die Roten Khmer und ihre Unterstützer unweigerlich aus allen linken Zusammenhängen, auch wenn manche lange brauchten, um das einzusehen. Für sie gab es keine internationale Solidarität.

Terrorismus greift nach der Führungsrolle

Es gab Gewalttaten von Befreiungsbewegungen, die nach heutigem Sprachgebrauch als terroristisch bezeichnet werden würden, weil aus dem Hinterhalt geschossen oder versteckte Sprengsätze gezündet wurden. Diese Gewalt zielte gegen bedeutende Repräsentanten oder militärische und polizeiliche Einrichtungen, von denen die Unterdrückung ausging. Häufig wird deshalb von individuellem Terror gesprochen. Die wahllose Hinrichtung möglichst vieler Zivilisten, darunter Frauen, Kinder, Alte, gehörte weder zum Programm noch zur Praxis jener Bewegungenvii. Das war ein wesentlicher Faktor für die weltweiten Sympathiebekundungen vornehmlich linker Unterstützer. Insbesondere Marxistinnen und Marxisten versuchten das Geschehen in den globalen Klassenkampf der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter zu integrieren.

Bereits die Anschläge von 9/11 lassen sich nicht mehr in dieses Schema einordnen. Sie töteten dreitausend Sachbearbeiter:innen, mittlere Angestellte, Dienstleister – Menschen in alltäglichen Jobs. An 9/11 war keine palästinensische Organisation beteiligt, es wurde aber von vielen mit Fahnenschwenken, Verteilung von Süßigkeiten, Tee und Straßenpartys gefeiert. Doch was war mit den Flugzeugentführungen der siebziger und achtziger Jahre? Was mit dem Attentat auf die israelische Olympia-Mannschaft 1972 in München? Dem Bombenanschlag 1994 auf ein jüdisches Kulturzentrum in Buenos Aires? Das waren keine unkontrollierten oder unvermeidlichen Gewaltausbrüche. Vielmehr hat der Terrorismus eine lange Tradition in Teilen der palästinensischen Politik und jetzt greift er nach der Führungsrolle.

Zusammenfassend: Der Vietcong hat nicht daran gedacht, ein Woodstock Festival anzugreifen, nicht einmal in den wüstesten Phantasien seiner Kämpfer.

Es ist nicht Israel, es ist die Regierung Netanyahu

Kommen wir zu der zweiten anfangs gestellten Frage. Israel verweigert den Palästinensern einen eigenen Staat, zwingt sie unter unwürdigen Bedingungen zu leben, weitet sein Territorium durch immer neue Siedlungen aus und schlägt mit überlegenem Militär zurück, wenn es angegriffen wird. Dies scheint evident zu sein, ist aber in einem entscheidenden Punkt falsch.

Denn es ist nicht Israel, das diese Unterdrückung praktiziert, es ist die Regierung Netanyahu und die sie tragende gesellschaftliche Mehrheit. Gegen diese Politik gibt es eine starke Opposition, besonders deutlich zu sehen in der Auseinandersetzung um Netanyahus Justizreform. Ironischerweise steht die heutige oppositionelle Minderheit in der Tradition des ursprünglichen Zionismus und der Gründergeneration Israels, Ben Gurion, Golda Meir, Moshe Dayan. Hingegen stehen die Netanyahus, so der Titel eines lesenswerten Buchs über die Familie des Premierministers, in der Tradition der revisionistischen Bewegung von Wladimir Zeev Jabotinsky.viii

Wie konnte die Umkehrung der ursprünglichen Mehrheitsverhältnisse in Israel geschehen? Dazu muss man 30 Jahre zurückgehen und die Schlüsselereignisse rund um die Abkommen von Oslo betrachten. Damals war Yitzhak Rabin Premierminister (1992 – 1995, nachdem er das Amt bereits 1974 – 1977 inngehabt hatte) und Schimon Peres sein Außenminister. Sie verfolgten die Vision einer israelisch-palästinensischen Versöhnung und betrachteten den PLO-Vorsitzenden Yassir Arafat als Partner, mit dem man diese Reise unternehmen könne. Gegen das Friedensprojekt organisierte die israelische Rechte 1995 Hassmärsche, bei denen vor allem Rabin als Landesverräter gebrandmarkt wurde. Benjamin Netanyahu, Likud-Vorsitzender und Oppositionsführer, trat als prominentester Redner auf.

Am 4. November 1995 wurde Rabin von einem extremistischen Fanatiker erschossen, als er gerade eine große, bewegende Kundgebung in Tel Aviv verließ. Dort hatte er gesagt:

Ich möchte gerne jedem Einzelnen von euch danken, der heute hierher gekommen ist, um für Frieden zu demonstrieren und gegen Gewalt. Diese Regierung, der ich gemeinsam mit meinem Freund Schimon Peres das Privileg habe vorzustehen, hat sich entschieden, dem Frieden eine Chance zu geben – einem Frieden, der die meisten Probleme Israels lösen wird. […] Der Weg des Friedens ist dem Weg des Krieges vorzuziehen. Ich sage euch dies als jemand, der 27 Jahre lang ein Mann des Militärs war.

Der Mord hat Israel schockiert und entsetzt. Die Rechten waren in der Defensive. Schimon Peres übernahm das Amt des Premierministers und hätte, ganz gleich wie umstritten er war, die nächste Wahl gewonnen, weil viele Wähler:innen dachten, ihre Stimme nochmal Rabin zu geben, auch solche, die vorher an ihm gezweifelt hatten.

Kundgebung am 20. Jahrestag der Ermordung von Yitzhak Rabin, Tel Aviv-Yaffo, 2015
(Foto: Talmoryair auf wikimedia commons)

Hier hätte die palästinensisch-arabische Seite einfach die Hände in die Hosentaschen stecken und abwarten können: In sechs Monaten hätte Peres die Wahl gewonnen und der Oslo-Prozess wäre ohne Rabin fortgesetzt worden. Aber die Extremisten unter ihnen wollten das verhindern. Deshalb haben sie solange Selbstmordattentäter in israelische Autobusse geschickt, bis Netanyahu mit 50,5 % knapp als Sieger feststand. Sie haben sich in die Wahl eingemischt, Panik verbreitet und Mehrheitsverhältnisse herbeigeführt, die bis heute anhalten.

Daran stimmt etwas nicht

Deswegen halte ich eine Kontextualisierung für falsch, wonach die jahrzehntelange Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung Widerstand, Terror und eben auch barbarische Aktionen hervorbringt. Daran stimmt etwas nicht, weil sich der Terror ausgerechnet gegen diejenigen richtete, die in der Lage gewesen wären, eine Wende zum Besseren herbeizuführen.

Und nun also dieses Massaker. Den Drahtziehern der Hamas muss von Anfang an klar gewesen sein, dass eine solche Aktion schwere Nachteile für sie selbst und schreckliche Folgen für die Bewohner des Gazastreifens zeitigen würde. Das haben sie in Kauf genommen, aber nicht um etwas für die Bevölkerung zu erreichen, die sie angeblich vertreten. Sondern um die Abraham-Abkommen zu zerreißen, die Israel mit einigen arabischen Ländern abgeschlossen hat. Sie handeln als Agenten des Irans und erbringen ihre Gegenleistung für die Finanzierung durch Teheran.

Der 7. Oktober zeigt, dass sich das nationale Anliegen – palästinensische Nation auf dem heiligen Boden „from the river to the sea“ – vollständig von dem sozialen Anliegen – menschenwürdiges Leben für die Palästinenserinnen und Palästinenser – abgetrennt hat. Der Marxismus ist jedoch keine Theorie der nationalen Revolution, sondern eine Theorie der sozialen Revolution. Er sieht den Nationalstaat als Voraussetzung für die Entwicklung des Kapitalismus an und als lästiges Hindernis auf dem Weg in eine sozialistische und kommunistische Zukunft. Dann nährte insbesondere die chinesische Revolution Vorstellungen, ein nationaler Befreiungskampf unter linker Führung werde in eine sozialistische Revolution übergehen. Diese Vorstellungen haben sich nicht erfüllt. Auch ein neuer Begriff – Dekolonisierung – ändert daran nichts.


i   Vietnamkrieg 1955 – 1975
ii   Algerienkrieg 1954 – 1962; dort gab es allerdings das Massaker von Philippeville 1955, bei dem Anhänger der FNL französische Zivilisten überfielen
iii   Bewegung des 26. Juli (1953 – 1959)
iv   FRELIMO (1962 – 1975)
v   African National Congress (gegründet 1912, bewaffneter Widerstand 1960 – 1990)
vi   FSLN (1961 – 1979)
vii   Die algerische FNL war in dieser Hinsicht ambivalent. Eine interne Devise lautete bspw: „Eine Bombe, die zehn Menschen tötet und fünfzig verwundet, ist auf psychologischer Ebene gleichbedeutend mit dem Verlust eines französischen Bataillons.“
viii   Joshua Cohen, Die Netanyahus, dtsch. Ausg. Schöffling & Co, 2023

Der Beitrag ist ein überarbeiteter Vortrag, den der Autor auf einer studentischen Veranstaltung in Frankfurt a.M. am 30.11.2023 zum Thema „Nation und die Linke“ gehalten hat.

Detlef zum Winkel
Detlef zum Winkel, ursprünglich Physiker. Lebt in Frankfurt am Main und schreibt vornehmlich für die Berliner Wochenzeitung Jungle World. Betreut dort u.a. die Themen Atomenergie und Proliferation, aber leider auch Faschismus, weil es immer noch ein Thema ist.

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