„In Sachen Pflege sind wir die gamechanger“

„Wir sind Buurtzog München“ (Screenshot: Website Buurtzog-Deutschland)

Pflege kann auch anders sein, viel besser – sowohl für die Pflegenden als auch für die Zupflegenden, sagt Gunnar Sander im Interview mit Wolfgang Storz und beschreibt, auf welche Weise und unter welchen Voraussetzungen. Wirtschaftlich komme es auf den Unterschied zwischen kostendeckend und gewinnfixiert an, sachlich-konzeptionell gehe es um Menschlichkeit statt Bürokratie. „In Sachen Pflege sind wir die game-changer.“ „Wir“ heißt Buurtzorg (niederländisch für Nachbarschaftshilfe) und ist in den Niederlanden als Stiftung organisiert, „Buurtzorg Deutschland Nachbarschaftspflege“ ist eine gemeinnützige GmbH.

Wolfgang Storz: Buurtzorg ist ein Unternehmen, das vor allem in den Niederlanden ambulante Pflege anbietet. Der Ableger hier heißt: Buurtzorg Deutschland Nachbarschaftspflege. Ein erster Hinweis, dass Sie ganz anders als privatwirtschaftliche und auch wohlfahrtsverbandliche Anbieter in Deutschland arbeiten wollen. Verglichen mit den meisten Pflegeorganisationen in Deutschland: Haben Sie ein grundsätzlich anderes Verständnis von Pflege?

Gunnar Sander: Buurtzorg ist aufgrund eines grundsätzlich anderen Pflegebildes entstanden. Während sich in Deutschland und auch in vielen anderen Ländern die Pflege eher tayloristisch, industriell, nach klassischen ablauf-orientierten Prozessen entwickelt hat, wirft Buurtzorg bei jedem Patienten zuerst einen holistischen, also einen ganzheitlichen Blick auf die Pflegesituation. Daraus ergeben sich hoch individuelle Bedarfe, die häufig von den klassischen Leistungsangeboten der Pflegedienste gar nicht abgedeckt werden können. Des Weiteren deutet der Name „Nachbarschaftspflege“ schon darauf hin, dass es uns natürlich auch um eine viel tiefer gehende Zusammenarbeit mit dem sozialen Umfeld, mit Nachbarn, Freunden, Verwandten, Sozialarbeitern, Ärzten und weiteren Hilfsangeboten geht. Also auch in diesem Sinne ein etwas anderer Blick auf die Pflege.

Gunnar Sander ist Diplom-Kaufmann, er hat viele Jahre als Manager in der Pflegebranche gearbeitet. 2003 gründete er die Sander Pflege GmbH, heute ein Unternehmen mit einem breiten Pflegedienst-Angebot und aktuell mehr als 2.000 Beschäftigten. In 2018 gründete er Buurtzorg Deutschland Nachbarschaftspflege, eine gemeinnützige GmbH.

In Kürze: Pflegeunternehmen Buurtzog
Die Pflegekräfte von Buurtzzorg versuchen, rund um ihre Klienten ein möglichst breites Unterstützungsnetzwerk aufzubauen; unter Einbeziehung von Familie, Freunden und Nachbarn, vor allem aber auch von weiteren Beratungsstellen, Sozialarbeitern und Ärzten. Dabei haben Präventionsarbeit, die Förderung der Selbstpflege, Erhalt und Förderung der Potentiale des Zupflegenden für das Unternehmen einen hohen Stellenwert.
Die Pflegeteams vor Ort, vier bis 12 Personen, sind (bei flacher Hierarchie und geringer bürokratischer Arbeit) weitgehend autonom organisiert und entscheiden eigenständig über Arbeitszeiten und Arbeitsinhalte. Die Pflegekräfte sind gleichberechtigt. Vorgesetzte gibt es nicht. Jedes autonome Team kümmert sich um maximal 40 bis 50 Menschen. Und organisieren dabei alles in Eigenregie: Pflege und Betreuung, Kundenakquise und Personalgewinnung, Dienstplanerstellung, Tourenplanung, Arztkontakte und Medikamentenbestellung, Weiterbildung und Finanzen.
In den Niederlanden rechnen Buurtzorg-Pflegekräfte ihre Leistungen unkompliziert nach erbrachten Stunden ab. Einzelleistungen, der Unterschied zwischen Pflege, hauswirtschaftlichen Tätigkeiten und Betreuung sowie die Pflegestufe (wie in Deutschland) spielen dabei keine Rolle. Der Stundensatz bleibt gleich. Alle Teammitglieder haben Einblick in die erwirtschafteten Einnahmen und Ausgaben. In den Niederlanden dauerte es in der Regel drei Jahre, bis die Teams kostendeckend arbeiteten.
In Deutschland ist der Alltag in der Pflege geprägt von Personalknappheit und Stress für alle Beteiligten. Spezifische Leistungen (wie Waschen, Ankleiden) werden im Minutentakt erbracht, dokumentiert und abgerechnet. Für den pflegebedürftigen Menschen selbst bleibt kaum Zeit. Dazu kommen häufig starre Hierarchien, wenig Mitspracherechte und ein Wust an Bürokratie bei vergleichsweise geringer Digitalisierung.
Der Krankenpfleger Jos de Blok gründete den Pflegedienst Buurtzorg im Jahr 2007 im niederländischen Almelo. Nach seinem Vorbild arbeiten inzwischen ambulante Pflegedienste in 24 Ländern. Er gilt in den Niederlanden, auch aufgrund seiner inzwischen erreichten Größe, als „gamechanger“ im Pflegebereich, so unser Interviewpartner Gunnar Sander. In Deutschland wurde das Konzept erstmals 2018 in einem Pilotprojekt mit Unterstützung der Krankenkassen Nordrhein-Westfalens ausprobiert. (sto)

Ihr Anspruch: Sie wollen effektiv und menschlich arbeiten? Ist effektiv arbeiten, also wirtschaftlich arbeiten, nicht ein Widerspruch zu menschlich arbeiten?

Gunnar Sander: Nein, grundsätzlich sehe ich das nicht so. Auch in den klassischen Modellen, die wir bei uns kennen, gibt es sehr menschliche Pflege unter wirtschaftlichen Bedingungen. Es geht aber besser! Und dieses Besser muss nicht auf dem Rücken der Pflegekräfte ausgetragen werden, wie es dann meist bei uns der Fall ist. Viele Pflegemitarbeiter:innen opfern sich für eine gute Pflege auf. Sie können daher oft ihren Beruf nicht so lange ausüben, wie sie vielleicht wollen würden. Dazu kommt, dass das Interesse an diesen anstrengenden Berufsbildern generell abnimmt. Insoweit wird es dringend Zeit, die Struktur der Pflege an die Bedürfnisse von Pflegenden und den Zupflegenden anzupassen.
Auch Buurtzorg versucht, möglichst sparsam mit den Ressourcen auszukommen. Mit Erfolg: In den Niederlanden spart das Unternehmen der Gesellschaft mit seinen Angeboten im Vergleich zu klassischen Anbietern rund 30 Prozent der Kosten. Buurtzorg arbeitet also sehr wirtschaftlich. Und erzeugt im Ergebnis aber trotzdem höchste Zufriedenheit bei Beschäftigten und den Zupflegenden und beste Qualität. Dieses Besser, von dem ich eben sprach, das muss nicht auf die Knochen der Beschäftigten gehen — dieses Besser geht auch anders.

Ziel: Potentiale aktivieren

Erwirtschaftet Buurtzorg Niederlande als Unternehmen Gewinn? Oder ist Geldverdienen gar nicht das Ziel?

Gunnar Sander: Buurtzorg in den Niederlanden ist eine Stiftung, die Überschüsse erzielt und diese entsprechend des Stiftungszweckes für die Weiterentwicklung der Pflege einsetzen kann. Wirtschaftlich zu arbeiten, das steht bei den kleinen Pflegeteams vor Ort als ein Ziel, neben anderen, im Fokus. Das heißt aber nicht, dass gewinnorientiert gearbeitet wird, sondern es wird mit dem Ziel der Kostendeckung gearbeitet. Das ist ein großer Unterschied. Die Teams sollen etwa zwei Prozent vom Umsatz als Überschuss erzielen, damit die Stiftung Rücklagen bilden, neue IT finanzieren und allgemeine Unternehmensrisiken, wie beispielsweise zu Corona-Zeiten, abfedern kann. Das gleiche Prinzip gilt auch für Deutschland. In Deutschland ist Buurtzorg als eine gemeinnützige GmbH organisiert.

Wenn bei Ihnen jemand anfrägt, der Pflegehilfe zuhause benötigt, wie gehen Sie vor: wie analysieren Sie den Bedarf und wie legen Sie konkret Umfang und Art der Hilfe fest?

Gunnar Sander: Es erfolgt wie üblich ein Erstbesuch vor Ort, bei dem in ein bis zwei Stunden die Situation analysiert wird. Dabei wird auch mit Familienmitgliedern, Nachbarn, dem sozialen Umfeld gesprochen. Als System wird hierzu das OMAHA-Modell verwendet, in dem nach verschiedenen Kriterien eine Bewertung des Zustands erfolgt. Daraus ergeben sich Maßnahmen, Arbeitsaufgaben für das Buurtzorg-Team, aber auch für das formale Netzwerk des Patienten, also für seinen Partner oder Partnerin, für Verwandte, auch enge Freunde. Entsprechend des Aufgabenkataloges werden dann Partner in der Versorgung gesucht und das Betreuungsprogramm festgelegt. Da Buurtzorg keine Leistungsbausteine anbietet, sondern jeder Einsatz nur nach Zeit abgerechnet wird, sind die Pflegekräfte in der Lage, ein sehr individuelles Pflegeangebot zu bauen. Dabei steht vor allem das Ziel im Vordergrund, die Potentiale des Zupflegenden und auch seines Umfeldes zu aktivieren. Es wird versucht, so bald und so gut es geht, den Patienten wieder unabhängig von der Pflege zu machen.

Dazu die Frage: Es heißt, bei Ihnen gehe es vor allem um aktivierende Pflege. Was ist das?

Gunnar Sander: In erster Linie soll der Patient seine Kompetenzen wieder stärken, zumindest erhalten. Der heutige Zeitdruck sorgt häufig dafür, dass die Pflege schnell gehen muss und wenig Zeit für das langsame eigenständige Betreuen der Patienten bleibt. Das ist keine menschenwürdige Pflege. Es soll vielmehr angeleitet, gezeigt, geübt werden, damit der Mensch aktiv bleibt und ihm nicht alles abgenommen wird.

Erfolgsgeschichte in den Niederlanden

Wie bezeichnen Sie dann das, was in Deutschland vorwiegend angeboten wird: ist das passive Pflege?

Gunnar Sander: Im Grundsatz sieht unser System in Deutschland auch eine aktivierende Pflege vor. Jedoch fehlt dafür die Zeit und in Teilen die Kenntnis. Wenn eine Pflegekraft schnell und pünktlich die Versorgung erledigt hat, wird das von zu vielen Verantwortlichen und Geschäftsführungen als gute Leistung angesehen. Der enorme Zeitdruck lässt da leider wenig Spielraum. Daher dürfen und müssen die Pflegekräfte bei Buurtzorg einen passenden Zeitraum für die Versorgung eines Patienten festlegen. Damit die Pflege für den Zupflegenden bestmöglich ist, damit aber auch der Pfleger, die Pflegerin ausreichend Zeit hat, sich zu kümmern, ohne hetzen zu müssen.

Sie sind in den Niederlanden sehr erfolgreich. Beschreiben Sie bitte kurz, worin besteht dieser Erfolg?

Gunnar Sander: Das Unternehmen wurde vor etwa 13 Jahren gegründet. Mittlerweile arbeiten in den Niederlanden über 15.000 Pflegekräfte in über 1.000 Teams für mehr als 100.000 Patienten, das ist schon ein großer Erfolg.

Wo liegen die Gründe Ihrer Erfolgsgeschichte in den Niederlanden? Gibt es in den Niederlanden, etwa kulturell oder politisch und rechtlich, Bedingungen, die Ihre Art der Pflegearbeit begünstigen?

Gunnar Sander: Vor der Zeit von Buurtzorg war das Modell ähnlich wie in Deutschland. Mit der Einführung und vor allem dem Erfolg des Buurtzorg-Modells haben Politik und Gesellschaft erkannt, dass das Pflege-System nennenswert geändert werden muss. Ich nenne hier nur einige Stichworte, nach denen das niederländische System in den letzten Jahren auf andere Beine gestellt worden ist: ein Minimum an Bürokratie, einfache Abläufe, ganz schlanke Abrechnung der Leistung; Entscheidungs-Freiraum für die Pflegekräfte vor Ort, wie sie konkret arbeiten; weitgehende Abschaffung von Leitungskräften, weitgehend ohne Prüfinstanzen auskommen; komplette digitale Erfassung von allen Vorgängen, Dokumentation der Zusammenarbeit mit Ärzten und Apotheken, Datenauswertungen, um Medizin und Pflege weiter verbessern zu können.

Zusätzlich muss aber auch festgehalten werden: Die Kolleginnen in den Niederlanden sind nach meinen Erfahrungen und meinem Wissen insgesamt motivierter, sie arbeiten gerne eigenverantwortlich, sind erfinderisch beim Erarbeiten von guten praktischen Lösungen vor Ort und beachten selbst das Ziel, kostendeckend zu arbeiten.

In Deutschland haben Pflege-Unternehmen große Probleme, qualifiziertes und motiviertes Pflegepersonal zu finden. Gibt es diese Probleme in den Niederlanden auch?

Gunnar Sander: In den klassischen Diensten gibt es diese Probleme, ja. Sie müssen jedoch berücksichtigen, dass beinahe 90 Prozent aller anderen Anbieter in den Niederlanden die Prinzipien des Buurtzorg-Modells übernommen haben. Somit kann Buurtzorg zurecht von sich behaupten: Wir sind die game-changer. Noch ein Beispiel: Buurtzorg muss keine Anzeigen schalten, um Personal für sich zu gewinnen. Und bekommt über die Jahre unverändert tausende Initiativ-Bewerbungen.

In Deutschland heißt es allgemein, viele der Pflegekräfte werden schlecht bezahlt, seien überlastet und deshalb nicht motiviert und deshalb gelinge es wiederum kaum, qualifizierte Kräfte zu gewinnen. Offensichtlich ein Teufelskreis. Wie geht es Ihren MitarbeiterInnen?

Gunnar Sander: Mit der Einführung der Tarifpflicht für alle Pflegeanbieter wurde auch in Deutschland ein großer Schritt in die richtige Richtung vollzogen. Daher werden Pflegekräfte inzwischen in der Regel auch gut bezahlt. Aber der Leistungsdruck ist dadurch nicht gesunken. Die wesentliche Folge: Es fehlt weiterhin an Mitarbeitern. Denn dieser Druck verschreckt sicher auch junge Menschen, in diesen Beruf einzusteigen. Daher liegt Buurtzorg Deutschland auch eine sehr hohe Mitarbeiterzufriedenheit am Herzen. Wie wird das erreicht? Ein Beispiel: Dienstpläne und Patientenaufnahmen werden mit der gesamten Gruppe vor Ort besprochen und festgelegt, damit weitgehend alle zufrieden sind, mit dem Arbeitsaufkommen, mit ihren Schichten und Arbeitszeiten.

Im ersten Anlauf nicht geschafft

Nach Ihren Schilderungen ist Ihre Art der Pflegearbeit sehr anspruchsvoll: Ihre MitarbeiterInnen müssen selbstständig arbeiten, organisieren und improvisieren können, über eine hohe Eigenmotivation verfügen. Das ist nicht Sache von jeder Pflegerin und jedem Pfleger. Gibt es solche Leute überhaupt in genügender Zahl auf dem Arbeitsmarkt?

Gunnar Sander: Ich vermute ja, die gibt es. In den Niederlanden auf jedem Fall. Es ist uns, bei unseren Versuchen in Deutschland Fuß zu fassen, aber bisher noch nicht hinreichend gelungen, diese auch anzusprechen oder zu finden. Alle Arbeitsanalysen bestätigen, die Beschäftigten insgesamt haben grundsätzlich das Interesse, eigenständig zu arbeiten und sich an der Gestaltung von Arbeitsinhalten und Arbeitszeiten zu beteiligen. In anderen Branchen ist jedoch dieses Interesse deutlich stärker ausgeprägt. Die Pflegebranche hinkt da meines Erachtens etwas hinterher.

Alten- und Pflegeheim in Eisenach
(Foto, 2015: NoRud auf wikimedia commons)

In Deutschland ist die Pflegearbeit in Minutenarbeiten aufgedröselt, wird so geleistet und auch abgerechnet und bezahlt. Ist das bei Ihnen in den Niederlanden ähnlich?

Gunnar Sander: Ja, das ist im Prinzip auch so. Aber es gibt mehr zeitlichen Spielraum, der Druck ist nicht vergleichbar.

Wie sehen und sahen Ihre Anstrengungen aus, um auf dem deutschen Pflegemarkt Fuß zu fassen?

Gunnar Sander: Es gab während der Corona-Zeit von uns 13 Pflegeteams in fünf Bundesländern. Jedoch: Buurtzorg Deutschland hat es im ersten Anlauf noch nicht geschafft, das Unternehmen musste leider 2022 ein Insolvenzverfahren durchlaufen. Aktuell arbeitet nur noch ein Pflegeteam in München.

Was ist Ihre unternehmerische Konsequenz?

Gunnar Sander: Buurtzorg Deutschland steht jetzt vor der Entscheidung, nochmals auf Erweiterungskurs zu gehen. Dazu müssen aber auch die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen passen.

Was behindert Sie vor allem bei dem Versuch, in Deutschland erneut unternehmerisch Fuß zu fassen?

Gunnar Sander: Die Zulassung auf Basis eines gesonderten Genehmigungsverfahrens obliegt den Pflegekassen. Das System in Deutschland ist föderal geprägt. Zum Vergleich: Ist in den Niederlanden ein Pflegedienst zugelassen, dann kann er überall arbeiten. In Deutschland brauchen wir für jeden Standort eine gesonderte Vereinbarung und Zulassung. Das ist aufwändig und schwierig, wenn ein Unternehmen mit vielen kleinen neuen Teams starten möchte.

Die Pflegesituation in Deutschland gilt allgemein als desaströs: zu wenig qualifiziertes Personal, unpersönliche Pflege im Minutentakt, wuchernde Bürokratie, zu teuer. Bei soviel Unzufriedenheit und so großen Defizite, da müsste Ihnen in Deutschland doch der rote Teppich ausgerollt werden — oder nicht?

Gunnar Sander: Je nach Region gibt es tatsächlich auch interessierte Beteiligte bei Kassen und in der Politik, die das Modell sehr positiv sehen, die uns begleiten möchten und die uns in den vergangenen Jahren auch sehr gut unterstützt haben. Das ist aber nicht überall so. Schließlich sind wir natürlich auch eine Konkurrenz für hiesige Unternehmen. Des Weiteren ist es in Deutschland einfach schwierig, mit Innovationen etwas zu verändern — unter den gegebenen rechtlichen Gesetzen und bei diesem Verordnungswesen. Und um wiederum an der bürokratischen rechtlichen Situation etwas zu verändern — das dauert in Deutschland dann doch sehr lange.

Noch einmal: Warum ist es Ihnen bei einem solch` überzeugenden Konzept und der Erfolgsgeschichte in den Niederlanden immer noch nicht gelungen, diese Erfolgsgeschichte in Deutschland oder in einem anderen Land zu wiederholen?

Gunnar Sander: Ich habe es eben erläutert: Die Rahmenbedingungen müssen stimmen, das tun sie noch nicht. Und: Die Menschen in der Pflege müssen umdenken wollen, Neues lernen, auch Freude daran haben und mutig sein, etwas auszuprobieren. Dafür bedarf es manchmal mehr als nur ein paar Jahre.

Lässt sich denn Ihr Pflegekonzept auch auf Pflege- und Alten-Heime übertragen? Oder kann das nur ambulant praktiziert werden?

Gunnar Sander: Grundsätzlich ist das übertragbar, ja. Es gibt in den Niederlanden bereits stationäre Einrichtungen, die das Modell umgesetzt haben und damit auch sehr erfolgreich sind.


Bruchstuecke-Autor Klaus Vater im Tagesspiegel über die Pflegesituation in Deutschland
Im sozialen Teilsystem Pflege stecken Millionen guter Leute, die oft bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit arbeiten und so die Pflege am Laufen halten. Manches ist aber nun ins Rutschen geraten. Es fehlen bereits Hunderttausende angelernte und versierte Pflegerinnen und Pfleger. Es fehlen spezialisierte Mediziner. Statt mehr Neubauten gibt’s mehr und mehr Insolvenzen im Pflegebereich – allein in Nordrhein-Westfalen im vergangenen Jahr 130 wegen gestiegener Sach- und Personalausgaben.
Rundum Mangel. Parlamente und Regierungen wissen, was es geschlagen hat. Man spricht davon, dass eine humanitäre Katastrophe heraufziehe – Krankenkassen befürchten das, die Diakonie, die Caritas. Auch in Berlin ist das so.
Humanitäre Katastrophe würde heißen: Pflegebedürftige Menschen bekämen nicht mehr, was sie benötigen. Statt Hilfe und Zuwendung mehr Einsamkeit, Alleinsein, Sterben ohne Begleitung, zuvor Schmerzen, unzureichende Therapie und das Wissen, gegen Ende des Lebens verlassen zu sein. All das tausendfach. Was hier droht, das ist Resultat eines Jahrzehnts der Vernachlässigung der Pflegeversicherung durch Legislative und Exekutive.

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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