Joseph Croitoru erhellt die islamistische Geschichte der Hamas

Flyer der Tagung (Screenshot: Heinrich Böll Stiftung Hessen)

Mit einem brutalen Überfall auf rund ein Dutzend israelische Militärbasen, fast dreißig (Dorf) Gemeinden und ein Rockfestival mit über viertausend Besuchern in der Wüste Negev hat die Hamas am 7.Oktober 2023 die Schlagzeilen der Welt erobert. Über 2500 schwer bewaffnete Terroristen durchbrachen an einem jüdischen Feiertag den vermeintlich unüberwindbaren Grenzzaun zwischen Israel und dem Gazastreifen, töteten oder verbrannten über tausend Menschen und entführten über zweihundert Frauen, Kinder, Männer. Die Hamas übernahm für diese in der Geschichte Israels beispiellose Gewalttat ihrer Qassam-Brigaden die Verantwortung. Sie löste einen militärischen Gegenschlag Israels aus, der ebenso beispiellos ist. Wer aber ist die Hamas, der Israel als Vergeltung für das Massaker den Krieg bis zur Vernichtung erklärt hat?

Joseph Croitoru, der 1960 in Haifa geborene deutsch-israelische Historiker und Journalist, erforscht die Geschichte und Entwicklung dieser Bewegung seit Jahrzehnten. Seine Bücher über die Hamas aus den Jahren 2007 und 2010 hat er jetzt aktualisiert: „Die Hamas. Herrschaft über Gaza, Krieg gegen Israel“ gibt einen Einblick in einen seit über dreißig Jahren tobenden blutigen Machtkampf innerhalb der Palästinenser: Gegen die 1959 in Kuwait gegründete säkulare Fatah und die von ihr seit 1969 immer noch beherrschte Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) strebt die Islamistische Widerstandsbewegung, so die Übersetzung von „Harakat al-Muqawama al-Islamiya“ (Hamas), seit 1988 mit aller Gewalt die Vorherrschaft in einem Palästina „from the river to the sea“ an und lehnt eine Anerkennung des jüdischen Staates Israel ab: Und damit auch jedwede Friedensverhandlung über eine Zweistaaten-Lösung, auf die sich die Fatah vor über vierzig Jahren eingelassen hatte, bisher ohne Erfolg.

Croitorus Blick ist nüchtern. Er kennt sich aus und korrigiert die gängigen Muster über die Terror- oder Widerstandsbewegungen im Nahostkonflikt, erhellt er doch, wie und an wem in den letzten Jahrzehnten alle Bemühungen um einen Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern gescheitert sind. Beteiligt an diesem Prozess der Gewalttaten, Blockaden, systematischen Hintertreibungen und immer wieder massenhaften Verhaftungswellen sind die Hamas, die Fatah und immer weiter nach rechts rutschende israelische Regierungen, die einen palästinensischen Staat mit allen Mitteln und mit einer massiven Besiedelung des besetzten (Westjordan-)Landes verhindern wollen: Für alle drei, so liest es sich bei Croitoru von Kapitel zu Kapitel, gibt es in diesem schmalen Landstrich zwischen Gaza, Haifa und Ramallah nur Feinde, die zu ermorden, in die Luft zu sprengen oder zu verhaften sind.

Hemmungslose Brutalität

Es ist eine blutige Geschichte, die der Autor auf rund 200 Seiten erzählt. Sie prägt seit 1988, dem offiziellen Gründungsjahr der Hamas, einen Machtkampf unter palästinensischen Männern, deren Familien zu jenen 850.000 Menschen gehörten, die 1948 nach der Gründung Israels als jüdischem Staat aus dem ehemaligen britischen Mandatsgebiet Palästina vertrieben oder zur Flucht gezwungen wurden: Rund 200.000 flohen in den bis zum Juni-Krieg von 1967 von Ägypten kontrollieren Gazastreifen und ballten sich in acht Flüchtlingslagern, die bis heute von der UN-Organisation für die Palästinenser (UNRWA) versorgt werden. Die Bevölkerung im Gazastreifen ist inzwischen durch eine extrem hohe Geburtenquote explodiert und liegt bei weit über zwei Millionen.

Die Rivalität zwischen den säkularen palästinensischen Führern von Jassir Arafat bis Mahmud Abbas und den islamistischen, von den Muslimbruderschaften unterstützten und finanzierten Führern von Ahmad Jassin bis Ismail Hanijeh oder Yahya Sinwar ist in den letzten Jahrzehnten mit brutaler Hemmungslosigkeit gegenüber israelischen Zivilisten, aber ebenso palästinensischen Kadern, Politikern oder angeblichen „Kollaborateuren“ mit Israel ausgetragen worden. Croitoru belegt diese Geschichte der Gewalt in allen grausigen Einzelheiten. Er weiß, worüber er in der vergleichsweise kurzen Form schreibt: In seiner Doktorarbeit (1992) beschäftigte er sich mit Selbstmordattentätern in der Geschichte und der Gegenwart, in der die Hamas sich im Kampf gegen jüdische Frauen, Männer, Kinder vor allem junger Islamisten aus den Flüchtlingslagern bedient, sie in den Tod schickt und ihre Familien für die „Heldentat“ bezahlt.

Diesem blutigen Machtkampf haben die arabischen Nachbarstaaten, die angeblichen Bruderstaaten von Iran bis Katar zugesehen –ihn vielleicht sogar mit Geld und Waffen geschürt? Diese Frage liegt ebenso nahe wie die Frage nach den Motiven der Ägypter, der Saudis, der Russen oder der US-Amerikaner. Croitoru streift diese internationale Dimension viel zu kurz, schließlich eröffnete die Hamas Mitte der 1990er Jahre nach einer israelischen Verhaftungswelle ihrer islamistischen Führungsspitze außerhalb des Gazastreifen Politbüros in der jordanischen Hauptstadt Amman (nach dem dortigen Rauswurf heute in Katar), zeitweise in London und in Springfield im US-Bundesstaat Virginia. Es ist kaum anzunehmen, dass die Funktionäre und die Arbeit dieser Politbüros unbeobachtet geblieben sind.

Hat niemand die Aufrüstung mitbekommen?

In Croitorus Buch erfährt man darüber wenig. Ihn interessiert vor allem die islamistische und militärische Aufrüstung im Gazastreifen, die Führungsmänner wie Ahmad Jassin oder Yahya Sinwar vorangetrieben haben. Beide saßen jahrelang in israelischen Gefängnissen, kamen bei einem Gefangenenaustausch wieder frei. Sinwar gilt als Chef des militärischen Arms der Hamas, der Qassam-Brigaden, und als Organisator des Überfalls am 7.Oktober. Hat niemand in Israel, das offiziell nach 37 Jahren (2005) zwar die Besatzung und Besiedelung des Gazastreifens beendete, den Landstrich aber abriegelte und weiter kontrollierte, die militärisch-islamistische Aufrüstung im selbsternannten und seit den Wahlen im Jahr 2007 beherrschten Stammland der Hamas mitbekommen?

Eingehend beschreibt Croitoru die Bemühungen der Hamas, in den Flüchtlingslagern den Moscheebau voranzutreiben, die Medien und den Kulturbereich „einzugemeinden“, islamistische Oberschulen für Jungen zu gründen, Ferienlager und Jugendcamps mit vormilitärischer Ausbildung anzubieten, die Scharia im Gerichtswesen einzuführen, Kleidervorschriften vor allem für Mädchen und junge Frauen zu erlassen. Er erwähnt die neuen Schulbücher für die islamistischen Jungenschulen, die eine Geschichtsdeutung im Sinne der Hamas enthielten. Einigen Fußnoten ist zu entnehmen, dass die Islamisierung im Gazastreifen auf Widerstände gestoßen ist: Christliche Schulen weigerten sich, Jungen und Mädchen im Unterricht zu trennen. Im Gerichtswesen wurde die Scharia nicht durchgesetzt. Das Erziehungs- und Gesundheitswesen aber kontrolliert die Hamas. Die Informationen über eine islamistische Gleichschaltung der Medien und des Kulturbereichs bleiben bei Croitoru eher vage.

Ein völlig blinder Fleck ist bei dem Autor die UN-Organisation UNRWA, immerhin der größte Arbeitgeber im Landstrich und Trägerin von Schulen, Krankenhäusern, Sozialstationen zur Verteilung der Lebensmittel. Der Kampf zwischen der Fatah und der Hamas um die Vorherrschaft in Gaza wurde in aller Öffentlichkeit und mit Brutalität ausgetragen. Welche Rolle spielte da die UN-Organisation eigentlich? Und warum nahm sie widerspruchslos hin, dass die sprudelnden Geldspenden für die Hamas (vor allem aus der muslimischen Welt von Iran bis Malaysia) nicht in die Auflösung der Flüchtlingscamps und die Wirtschaftsentwicklung geflossen sind, sondern in die Anhäufung von Waffen in unterirdischen Tunnelsystemen und Bezahlung der Brigaden? Warum hat der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu 2015 entschieden, die finanzielle Unterstützung der Hamas durch Katar offiziell zuzulassen? Nach Recherchen Udi Levis, des ehemaligen Mitarbeiters einer Spezialeinheit zur Terrorfinanzierung im israelischen Geheimdienst Mossad, verfügt die Hamas in Gaza derzeit über „wohl 2,5 Milliarden Dollar“ (Süddeutsche Zeitung vom 15. Januar 2024). „Die Menschen in Gaza sind arm, aber die Hamas ist reich“, sagt er.

Im Dezember 2012 feierte die Hamas ihr 25jähriges Bestehen
(Foto: Hadi Mohammad auf wikimedia commons)

„Die Hamas wird nicht verschwinden“

Alle diese Fragen werden gestellt werden, nach einem Ende dieses Krieges, das sieben Monate nach dem 7. Oktober nicht absehbar ist. „Trotz Tod und Zerstörung sehen sich die Radikalen auf beiden Seiten jedoch bestärkt“, schreibt Croitoru in seinem „Ausblick“. Den innerpalästinensischen Machtkampf dürfte die Hamas zunächst für sich politisch entschieden haben, auch wenn über diese für die säkulare PLO und Fatah bittere Folge offiziell kaum geredet wird, weder in Ramallah noch auf der internationalen Bühne: Bei welcher Lösung auch immer mischt diese „Islamistische Widerstandsbewegung“ künftig mit. Im Februar machte die Fatah mit ihrem Spitzenfunktionär Jibril Rajoub (Generalsekretär des Zentralkomitees) einen ersten Schritt auf Ismail Hanijeh zu, traf ihn in Doha, der Hauptstadt Katars, um auszuloten, welchen politischen Preis die Hamas von der PLO verlangt. „Die Hamas wird nicht verschwinden. Sie ist Teil des palästinensischen Volkes“, zitiert die französische Tageszeitung Le Monde (am 20. Februar) Jibril Rajoub. Was aber bedeutet diese Annäherung für den Krieg in Gaza und einen künftigen Staat der Palästinenser?

Für Croitoru stellt sich diese Frage zur Zeit nicht. Der Hamas, „so viel scheint jedenfalls festzustehen, wird Israel das Gebiet nie wieder überlassen“. Die ehemaligen Siedler träumen von einer Rückkehr, die englischsprachige „Jerusalem Post“ veröffentlichte Ende März einen ganzseitigen anonymen Aufruf zur Vernichtung und Vertreibung der Palästinenser. Die Überschrift übersetzte Tomas Avenarius in der Süddeutschen Zeitung (vom 11. April): „Nur Israel zählt! Lieber eine hässliche Wahrheit als eine erträgliche Lüge“.

Der blutige Machtkampf in und um Gaza geht weiter. In eine ungewisse Zukunft: Wenn, so sagte es jetzt im Zeitmagazin (vom 18.April) der 89jährige US-Philosoph Michael Walzer, “die Hamas den Krieg übersteht, werden sich die Palästinenser radikalisieren und mit ihnen die Israelis.“ Diese Wirkung habe der Krieg auf Menschen, „wenn er nicht eindeutig ausgeht.“

Jutta Roitsch
Jutta Roitsch, Diplom-Politologin und freie Autorin, von 1968 bis 2002 leitende Redakteurin der Frankfurter Rundschau, verantwortlich für die Seiten »Aus Schule und Hochschule« und »Dokumentation«, seit 2002 als Bildungsexpertin tätig, Engagement in der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union, vereinigt mit der Gustav-Heinemann-Initiative (GHI), Autorin der "Blätter für deutsche und internationale Politik", der "Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik".

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