Zwei Völker am Abgrund

Bild, AI generiert: purpleivy auf Pixabay

Sie schreiben unter dem Druck eines grauenhaften Massakers, eines militärischen Vernichtungsfeldzuges, eines drohenden Mehrfrontenkrieges und einer nationalen wie internationalen Politik ohne Plan: Mit Elias Sanbar (77), dem ehemaligen Botschafter Palästinas bei der Unesco, und Ron Leshem (48), einem ehemaligen Geheimdienstoffizier Israels, Kriegsberichterstatter und in den USA lebenden Schriftsteller, greifen zwei Autoren mit Analysen in den militanten Konflikt ein, die bisherige Gewissheiten, Erwartungen und Hoffnungen auf Lösungen erschüttern. Der Palästinenser und der Israeli beschreiben zwei Völker am Abgrund, Sanbar in: „La dernière guerre? Palestine, 7 octobre 2023 – 2 avril 2024“ und Leshem in: „Feuer. Israel und der 7. Oktober“. Beide stellen Fragen, die derzeit politisch öffentlich kaum bis überhaupt nicht gestellt werden. Die wichtigste ist: Gibt es nach diesem Ausbruch von Hass und Gewalt eine Chance für einen jüdischen und einen palästinensischen Staat auf dem Gebiet des ehemaligen britischen Mandatsgebiet Palästina, und wie sähen die Bedingungen aus?

Ron Leshem
Foto: © Rachel Tine, Rowohlt

Beide Autoren gehen weit zurück in die über hundertjährige Geschichte dieses Gebiets des einstigen Osmanischen Reiches, das sich die Engländer und Franzosen im und nach dem Ersten Weltkrieg aufteilten. Es ist auch die Geschichte ihrer Familien: Leshems säkulare, zionistische Ahnen kamen nach russischen und polnischen Pogromen in das „Land ihrer Väter“ und bilden die so genannten Aschkenasim, die Familie seines Lebensgefährten gehört zu den orientalischen Juden (Misrachim), die schon immer im arabischen Raum zwischen Jaffa, Gaza und Marokko gelebt haben und heute, nach massiven Vertreibungen aus den arabischen Ländern, in Israel die Mehrheitsgesellschaft sind, was bei den Protesten (vor allem in den Universitäten) gegen die „weißen, kolonialistischen Zionisten“ kaum zur Kenntnis genommen wird.

Elias Sanbar (Screenshot: arte)

Die Mutter Sanbars nahm ihren 14 Monate alten Sohn im April 1948 und floh mit ihm vor den bewaffneten jüdischen Untergrundbrigaden (gegründet gegen die Briten) aus ihrer Heimatstadt Haifa: Er gehört zu den 750 000 arabischen Einwohnern des Mandatsgebiets, die vor der Ausrufung des Staates Israel von jüdischen Milizen und Kampftruppen mit Gewalt verfolgt, getötet oder vertrieben worden sind (daraus entstand die Geschichte der „Katastrophe“, der Nakba). Bis heute gelten er und all die inzwischen über sechs Millionen Nachfahren nach UN-Resolutionen als Flüchtlinge mit einem vererbbaren Rückkehrrecht: Sie leben, meist als Staatenlose mit eingeschränkten Bürgerrechten und mehr schlecht als recht in 59 Lagern versorgt von der UN-Organisation UNRWA, in Jordanien, dem Libanon, Syrien, Ägypten, dem Gazastreifen und im seit 1967 von Israel besetzten Westjordanland, dort in Ramallah mit einer machtschwachen politischen Vertretung (PLO) und einer Partei Fatah, die seit Jahren Wahlen vermeidet, nachdem sie 2006 im Gazastreifen nach gewalttätigen, blutigen Auseinandersetzungen die Macht an die Hamas verloren hatte.

Grauen und maximales Leid

Wieso aber wird nun nach all den Kriegen zwischen Israel, den arabischen Nachbarstaaten und Iran, Besetzungen, Landnahmen, gescheiterten oder unterlaufenen Friedensverträgen für Elias Sanbar und Ron Leshem der 7. Oktober zum Schicksalstag für die beiden Völker, zu denen sie gehören und die sie beide seit diesem Datum am Abgrund sehen?

Ron Leshem, der ehemalige Geheimdienstoffizier, weist im Detail die israelischen Fehleinschätzungen der islamistischen Hamas und ihrer Führer nach. Nach den Informationen, die er in seinem Buch mit einem Recherche-Netzwerk zusammengetragen hat, ist der Angriff der Hamas am 7. Oktober kein Überraschungsangriff, sondern ein langfristig vorbereiteter Vernichtungsplan mit 35 000 von der Terrororganisation rekrutierten und von iranischen Militärs ausgebildeten wie bewaffneten Palästinensern. „Die Hamas richtete zudem einen komplexen Apparat ein, um Informationen über Israel zu sammeln, aber Israel, gewohnt, in der Hamas eine Organisation barfüßiger Fellachen zu sehen, die dilettantische Raketen in ihren Kellern zusammenschweißen, nahm das alles nicht ernst.“ (S.72)

Die Informationen, die Leshem (leider ohne jegliche Quellenangaben) ausbreitet, sind für den israelischen Geheimdienst und seine Spezialeinheiten, die Armee und die Regierung vernichtend. Nach Dokumenten, die jetzt erstmals auch im israelischen, staatlichen Sender KAN erwähnt worden sind, wusste der Chef des Militärnachrichtendienstes Aman seit August 2022, dass die Hamas mit 24 Kompanien „durch Dutzende von Breschen im Grenzzaun eindringen und mehr als fünfzehn Ziele angreifen würde(n)“ (S.64). Ein Jahr später hieß es in einem weiteren Bericht einer „erfahrenen Analystin beim israelischen Nachrichtendienst“ an Aman, „der religiöse Kontext, der mit den sich häufenden militärischen Übungen der Hamas einhergehe, habe sich verändert“. Der Inhalt der Unterweisungen und Predigten in den Moscheen im Gazastreifen bereite die Kämpfer der Organisation darauf vor, sich an den Bewohnern der grenznahen Kibbuzim zu vergehen, „um maximales Leid zu verursachen, Grauen zu verbreiten und die Moral der Juden zu brechen“. Das ist seit dem 7. Oktober geschehen.

Auch aus der israelischen Prestigeeinheit „Unit 8200“ zur elektronischen Aufklärung und Cyberkriegsführung hätten am Grenzzaun positionierte Soldatinnen immer wieder Warnungen an ihre Vorgesetzten geschickt, zuletzt im August 2023: „Der Angriff kann jeden Augenblick stattfinden“, zitiert Leshem aus einem Bericht. Die Vorgesetzten hätten abgewunken: „Die Informationen sind in sich absolut glaubhaft, aber das Ganze ist vollkommen irreal“.

Netanjahu hintertrieb und hintertreibt Verhandlungen

Wie erklärt Ron Leshem diese Blindheit der Armee, der Geheim- und Nachrichtendienste, der die Regierung von Benjamin Netanjahu ebenso blindlings gefolgt ist? Sie kreist, wie alle Berichte seit dem 7. Oktober über den Krieg, die Geiseln oder die Chancen für Waffenruhen wie sonstige Deals, um einen einzigen Mann: Jahja Sinwar, den militärischen Strategen und faktischen Regierungschef Gazas. Die Israelis glaubten ihn zu kennen, er aber kennt sie auch: Der 1962 in einem Flüchtlingslager im Norden Gazas geborene Sinwar, der mit seiner Brutalität als Hamas-Führer öffentlich geprahlt hat, saß 22 Jahre in israelischen Gefängnissen, lernte Hebräisch, setzte sich intensiv mit der Geschichte der Zionisten und Israels auseinander und wurde 2011 mit tausend anderen Palästinensern gegen den unter dem Kommando von Sinwars jüngerem Bruder entführten israelischen Soldaten Gilad Schalit ausgetauscht.

Mit diesem Mann machte Benjamin Netanjahu als israelischer Regierungschef Geschäfte, sorgte für einen ungehinderten Geldtransport von Katar über Tel Aviv nach Gaza. „Die zynische Auffassung, die Netanjahu über anderthalb Jahrzehnte pflegte, besagte, eine Herrschaft der Hamas sei besser für Israel als eine säkulare palästinensische Autonomiebehörde, die Teile der Westbank unter ihrer Kontrolle hat und internationale Anerkennung genießt“, schreibt Leshem und folgert daraus: „Denn Netanjahu spekulierte, und das lange erfolgreich, eine Terrororganisation in Gaza würde Israel von internationalem Druck befreien, in Verhandlungen mit der Autonomiebehörde über die Gründung eines souveränen palästinensischen Staates zu treten“. Diese Verhandlungen hintertrieb und hintertreibt die rechte bis rechtsextreme Regierung Netanjahus gezielt und mit unverminderter Härte, auch im Schatten des Gazakrieges, auch in der politischen Realität wachsender internationaler Isolierung und Israel verurteilenden UN-Resolutionen.

Ron Leshem beschreibt (wie in kleinen Beobachtungen auch Saul Friedländer (92) in seinem israelischen Tagebuch „Blick in den Abgrund“), wie die Nationalreligiösen und die Rechtsextremen nach und nach die israelische Gesellschaft im Kernland und mit den (seit 1967 illegalen) Siedlungen im Westjordanland „messianisch“ verändern, um „vom Meer bis zum Fluss“ einen jüdischen Staat zu errichten, möglichst ohne Palästinenser. Seine Heimat, so schreibt Leshem schließlich, „steuert in diesen schicksalhaften Tagen auf die Prüfung ihres Lebens zu. Sie droht, zu einer deutlich rassistischeren Gesellschaft zu werden, geprägt von institutionalisierter, behördlicher Diskriminierung von Minderheiten, kontrolliert von bewaffneten Milizen…“ (S.310). Wenn die „fundamentalistische-jüdische Welle“ weiter erstarke, „werden Israelis in den kommenden Jahren das Land in Scharen verlassen“. Dennoch könnte „die Gewalt der Erschütterung auch ein Weckruf sein, eine letzte Chance für Israel, sich neu zu erfinden“, hofft Leshem nicht wirklich überzeugend. Am 15. Juni berichtete die französische Tageszeitung Le Monde, dass die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem aus der Nähe beobachte, wie in diesen Wochen „ethnische Säuberungen“ vor allem unter den Beduinen in der Negev-Wüste und im Westjordanland stattfänden: Ohne viel Lärm und Schritt für Schritt.

Einen Weckruf und vielleicht eine letzte Chance für sein palästinensisches Volk sieht auch Elias Sanbar in seiner schmalen Schrift, die jetzt im französischen Verlag Gallimard in der Essay-Reihe „Tracts“ (Nr. 56) erschienen ist. Er gehört zu den wenigen palästinensischen Intellektuellen, die sich öffentlich und politisch äußern (oder überhaupt von Verlagen oder Medien gefragt werden sich zu äußern). Sanbar konzentriert seinen Blick auf die beiden Völker, die auf dem Gebiet des britischen Palästina-Mandats um ihre Existenz kämpfen. Für ihn zählen in diesem Existenzkampf nur zwei Kriege: Der, der vor der Staatsgründung Israels zur Vertreibung (Nakba) der Palästinenser geführt habe, und der am 7. Oktober durch die islamistische Hamas ausgelöste Krieg, der, das schreibt Sanbar sehr klar, die Vernichtung (oder Vertreibung) der Juden zum Ziel habe. Beide Völker begleite mit Blick auf die jeweilige Geschichte das Trauma der Vernichtung, der Auslöschung, der dauerhaften Vertreibung und Ghettoisierung in Lagern: Seit dem 7. Oktober seien bei Juden wie Palästinensern alle Bilder, alle Erzählungen, alle von Generation zu Generation weitergegebenen Erinnerungen wieder wach (bei den Palästinensern die Schlüssel ihrer Häuser in Jaffa oder Haifa. Bei den Juden das Überleben nach Auschwitz). Eigentlich, so Elias Sanbar, seien sich die beiden Völker ähnlicher, als sie zuzugeben bereit seien.

Mit der von Generation zu Generation weitergegebenen Erfahrung erklärt Sanbar, warum zum Erschrecken der Weltöffentlichkeit (und vermutlich auch des israelischen Militärs) die Millionen im Gazastreifen hin-und hergeschobenen Palästinenser, 75 Prozent davon mit Flüchtlingsstatus, trotz Bombenhagel und Hunger im Land geblieben und nicht über die Grenze nach Ägypten geflüchtet sind: Wer flieht, so beschreibt Sanbar das vererbte Wissen seines Volkes, gibt das Recht auf Rückkehr oder Heimat auf (dennoch sollen nach Medienberichten bis zu einer Million Menschen den Gazastreifen verlassen haben, nach Ägypten, Katar oder in die Türkei).

Unüberwindliche Schwierigkeiten

Doch welchen Weg weist der ehemalige Botschafter, der seit über vierzig Jahren die politischen Prozesse begleitet hat, mit denen (vergeblich) nach dauerhaften Lösungen gesucht wurde? Was macht einen Staat Palästina überhaupt aus? Wer ist das Volk, das auf welchem Gebiet mit welcher politischen Struktur sein Schicksal selbst bestimmen könnte? Für Sanbar kommt eine politische Neuordnung in den Grenzen von 1967 nur nach allgemeinen Wahlen im Westjordanland, im Gazastreifen und der Hauptstadt Ost-Jerusalem in Frage. Die jetzigen, trotz wachsender internationaler Anerkennung machtlosen Strukturen in der PLO und Autonomiebehörde in Ramallah will Sanbar durch eine Übergangsregierung von Technokraten ersetzen, die die Feindseligkeiten im Gazastreifen beenden (d.h. unausgesprochen die Hamas entmachten), für den Wiederaufbau sorgen und allgemeine Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vorbereiten sollten. Wo aber ist diese neue „Leadership“, an die Sanbar denkt, zu finden? In Ramallah nicht, aber in den israelischen Gefängnissen, sagte er in einem ganzseitigen Interview von Le Monde (vom 7. Mai): Mit Marwan Barghuti, dem zu lebenslanger Haft verurteilten Hoffnungsträger der Fatah, säßen viele weitere, hochqualifizierte Palästinenser in Haft, die seit Jahren an politischen Zukunftsplänen „von großer Qualität“ gearbeitet hätten. Sie müssten gegen die Geiseln ausgetauscht werden, fordert Sanbar.

Doch wer könnte diese für die gegenwärtige israelische Regierung undenkbare Forderung durchsetzen? Welche Rolle spielten die USA, die unter der Regierung Donald Trumps Jerusalem zur „ewigen Hauptstadt des Staates Israel“ gemacht hätten, wenn am politischen Verhandlungstisch die Hamas mitmischte? Und was geschähe mit der halben Million jüdischen Siedlern, die sich im Westjordanland immer mehr Land erobert haben? Wer übernähme die Verantwortung bei einer zwangsweisen Räumung und einem möglichen innerisraelischen Bürgerkrieg? Und schließlich die Frage aller Fragen: Was ist das „Recht auf Rückkehr“ wert für die Palästinenser in den Flüchtlingscamps von Beirut oder der Diaspora?

Wer sich dem Konflikt so nähert, wie es Elias Sanbar in seinem Essay gewagt hat, verzweifelt an den kaum überwindbar scheinenden Schwierigkeiten. Aber welche anderen Schritte weg vom Abgrund wären denkbar?

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Jutta Roitsch
Jutta Roitsch, Diplom-Politologin und freie Autorin, von 1968 bis 2002 leitende Redakteurin der Frankfurter Rundschau, verantwortlich für die Seiten »Aus Schule und Hochschule« und »Dokumentation«, seit 2002 als Bildungsexpertin tätig, Engagement in der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union, vereinigt mit der Gustav-Heinemann-Initiative (GHI), Autorin der "Blätter für deutsche und internationale Politik", der "Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik".

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