Von der Wachstums-Zwangswirtschaft befreien

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Um den Wachstumsimperativ zu beseitigen, müsste nach den Worten Christoph Deutschmanns das kapitalistische Eigentumsarrangement, das heißt, die Zuweisung des Eigentums über die Produktionsmittel an eine separate Klasse von Eigentümern neben den Arbeitenden, aufgehoben werden. „Wären die Arbeitenden die alleinigen Eigentümer über die Produktion, müsste die Produktion nur noch die Kosten, einschließlich der Einkommen der Arbeitenden, decken. Aber sie müsste keinen Gewinn mehr erbringen, und auch in ‚schlechten‘ Jahren mit sinkenden Umsätzen ginge die Welt nicht unter“, sagt der Tübinger Wirtschaftssoziologe im Interview mit Wolfgang Storz.

Wolfgang Storz: Wissenschaftler und Klima-Aktivisten sagen, die mit fossilen Energien angefeuerte kapitalistische Wachstumswirtschaft sei die wesentliche Ursache der drohenden Klimakatastrophe. Deshalb plädieren sie für eine Politik des Degrowth; das heißt, das ökonomische System wird so umgebaut, dass es nicht mehr wächst oder gar schrumpft. Sie, Herr Deutschmann, halten dieses Konzept aus zwei Gründen für untauglich. Erstens: Dafür müssten die Eigentumsverhältnisse umgestürzt werden. Ihr zweiter Grund: Degrowth sei bereits Wirklichkeit. Zunächst zu Ihrem ersten Grund: Warum muss „unser“ Kapitalismus wegen seiner heutigen Eigentumsverhältnisse wachsen und ist deshalb dazu verdammt, Natur und Klima zu ruinieren?

Christoph Deutschmann: Vielleicht wären zunächst einige begriffliche Klärungen sinnvoll. Was ist „degrowth“? Wörtlich übersetzt bedeutet der Begriff eine Verringerung des wirtschaftlichen Wachstums. Die Wirtschaft wiederum „wächst“, wenn das in Geld gemessene Bruttosozialprodukt einer Gesellschaft von einer Referenzperiode, beispielsweise Monate oder Jahre, zur nächsten zunimmt. Den prozentualen Ausdruck dieser Zunahme bezeichnet man als Wachstumsrate. Wenn beispielsweise das Bruttosozialprodukt Deutschlands im Jahr 2022 sich auf vier Billionen Euro beläuft, im Jahr 2023 dagegen auf 4,2 Billionen, dann beträgt die jährliche Wachstumsrate 5 Prozent. Mit dem Begriff „degrowth“ ist gemeint, dass die Wachstumsrate sinkt. Auch hier ein Beispiel: In einem Jahr beträgt die Wachstumsrate fünf Prozent, im nächsten Jahr nur noch vier, dann noch drei, und so weiter.

Das heißt, Degrowth ist also nicht Nullwachstum.

Christoph Deutschmann: Richtig. Degrowth bedeutet nicht die Abwesenheit von Wachstum, sondern einen tendenziellen Rückgang der Wachstumsrate. Erst wenn dieser Rückgang anhält, kommt es logischerweise irgendwann zum Nullwachstum. Oder noch mehr: Das Bruttosozialprodukt schrumpft, die Wachstumsrate wird negativ. Werfen wir einen Blick auf die heutigen Daten, stellen wir fest: So weit sind die heutigen industriellen Volkswirtschaften noch lange nicht. In den Schwellenländern, beispielsweise Indien, finden wir noch hohe Wachstumsraten, teilweise über fünf Prozent. China liegt momentan zwischen vier bis fünf Prozent. Und die USA, als hochentwickelte westliche Volkswirtschaft, liegen lediglich bei zwei bis drei Prozent, in Europa wächst die Wirtschaft noch schwächer, ihre Rate liegt zwischen ein und zwei Prozent. Zum Vergleich: Weltweit liegt die erwartete reale Wachstumsrate für 2024 bei rund drei Prozent.

IWF Prognose: Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) in den wichtigsten Industrie- und Schwellenländern in den Jahren 2023 bis 2025 (gegenüber dem Vorjahr)

Quelle: Statista

Kehren wir noch einmal zurück zur Ausgangsfrage: Warum muss der Kapitalismus wachsen?

Christoph Deutschmann: Natürlich spielen dabei auch Ideologien oder ideologische Dogmen eine Rolle. Das ist aber nicht die eigentliche Ursache des Wachstumszwangs — diese ist nicht ideologischer, sie ist institutioneller Art. Lassen Sie mich kurz erklären, was Institutionen sind und wie sie wirken. Institutionen sind sozial gültige Regelsysteme, die das gesellschaftliche Zusammenleben vermitteln und die Freiheit des Einzelnen mit der aller anderen vereinbar machen. Dazu zählen der Staat oder das Rechtssystem. Mit Ideologien ist es so: Sie können diese für wahr halten oder auch nicht, also an sie glauben oder es lassen. Ganz anders ist es bei Regeln, die von Institutionen aufgestellt werden: Die müssen von allen eingehalten werden, sonst fällt die Gesellschaft auseinander. Und bei unserem Thema, dem Zwang zum Wachstum, geht es um die Institution des Privateigentums: Für den Zwang zum Wachstum ist diese Institution ausschlaggebend und sie formt das Handeln von hunderten Millionen Menschen.

Aber warum löst das Privateigentum diesen Wachstumsimperativ aus? Warum soll es Wachstum sogar erzwingen? Es gab und gibt Privateigentum, Tausch und Märkte bereits seit Jahrtausenden, ohne dass diese früheren Wirtschaften einem Wachstumszwang unterlagen.

Christoph Deutschmann: Diesen entscheidenden Unterschied habe ich in einem Artikel für Soziopolis, „Degrowth: Der Weg zur Bewältigung der Klimakrise?“, ausführlich herausgearbeitet. Es ist nicht das Privateigentum als solches, das den Wachstumsimperativ auslöst. Es ist vielmehr das spezifisch kapitalistische Arrangement privater Eigentumsrechte.

Eine Klasse von Eigentümern, die die Hand aufhält

Und was macht dieses besondere Arrangement aus?

Christoph Deutschmann: Es gibt sachliche und menschliche Produktionsbedingungen. Die bilden in den realen Arbeitsprozessen immer eine Einheit. Die Frage ist: Wer kontrolliert die? Im Kapitalismus ist diese Kontrolle immer auf zwei Arten von Eigentümern aufgeteilt: Einerseits das Kapital, das sind die Eigentümer der sachlichen Produktionsmittel, andererseits gibt es die Eigentümer der Arbeitskraft, also diejenigen, welche die Arbeit leisten. Jedoch: Die Entscheidungsgewalt über den gesamten Produktionsprozess liegt allein bei den Eigentümern der Produktionsmittel, die aus ihrem Eigentum einen Anspruch auf Rendite ableiten. Für sie „lohnt“ sich die Produktion nur, wenn sie einen Gewinn einbringt, das heißt, wenn die Einnahmen aus dem Verkauf der Produktion am Ende höher sind als die vorherigen Kostenzahlungen für Löhne, Vorprodukte, Rohmaterial, Anlagen und so weiter. Und das ist der entscheidende Unterschied: Es gibt neben den Arbeitenden, die zurecht ihren Lohn verlangen, noch eine weitere Klasse von Eigentümern, die die Hand aufhält. Daraus ergibt sich das Wachstum der Wirtschaft als Ganzes: weil die Kapitaleigentümer aus ihrem separaten Eigentumsrecht ihr Recht ableiten, dass die Produktion ständig Gewinn für sie abwirft. Und diesen ständigen Gewinn gibt es nur über das ebenso ständige Wachstum.

Dr. Christoph Deutschmann ist Professor (seit 2010 i.R.) am Institut für Soziologie der Universität Tübingen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Wirtschaftssoziologie, Industrielle Beziehungen und Soziologische Theorie. Vor seiner Berufung nach Tübingen im Jahr 1989 arbeitete er am Institut für Sozialforschung in Frankfurt/M (1976–1984), an der Tohoku-Universität in Sendai/Japan (1984–1986), sowie am Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (1986-1989). Neuere Veröffentlichungen: Disembedded Markets. Economic Theology and Global Capitalism, 2019, Routledge; Kapitalistische Dynamik. Eine gesellschaftstheoretische Perspektive, 2. Aufl., 2019, Springer VS; Trügerische Verheißungen: Markterzählungen und ihre ungeplanten Folgen, 2020, Springer VS

Wenn wir uns in die Perspektive der Wachstumskritiker hineinversetzen: Wie soll denn ein solch` anonymer Prozess in einer demokratischen Öffentlichkeit wirksam kritisiert werden?

Christoph Deutschmann: Das frage ich mich auch. Denn dieses oben skizzierte Wachstum entsteht über Millionen von einzelnen Entscheidungen, unabhängig voneinander gefällt von Unternehmen, Beschäftigten, Haushalten und Konsumenten. Die wollen aber nicht unmittelbar das Wachstum, sondern haben alle erst einmal ihre mehr oder weniger einleuchtenden privaten Gründe. Da muss doch die eigentlich gut gemeinte Wachstumskritik von Grünen und Umweltverbänden zum größten Teil ins Leere laufen. Denn es fehlt ihr schlicht der Adressat. Es gibt keinen großen Zampano im Hintergrund, der an den Wachstumsraten dreht und dem man zurufen könnte: Mach‘ jetzt Schluss!

Wie gelingt es den Unternehmen im Prinzip, für sich immer wieder ausreichend Gewinne zu erwirtschaften und die gesamte Wirtschaft am Wachsen zu halten?

Christoph Deutschmann: Dazu nur so viel: Die Schlüsselbegriffe dazu lauten Unternehmertum und Innovation. Und in der bisherigen Geschichte des Kapitalismus stützten sich wichtige Innovationen vor allem auf die Ausbeutung fossiler Energien. Insoweit ist auch die oben von Ihnen angesprochene These richtig, dass der Kapitalismus die heutige Klimakrise verursacht hat. Aber der Kapitalismus ist keineswegs seiner Natur nach auf fossile Energien festgelegt. Er wird beispielsweise auch mit erneuerbaren Energiequellen gute Geschäfte machen.

Konzeptionen eines Marktsozialismus

Wie müsste eine Eigentumsordnung aussehen, die einen Kapitalismus ohne Wachsen möglich machte?

Christoph Deutschmann: Ein Kapitalismus ohne Wachstum wäre, wie gerade ausgeführt, ein Selbstwiderspruch. Das Problem liegt ja eben in dem beschriebenen kapitalistischen Arrangement der Eigentumsrechte. Um den Wachstumsimperativ zu beseitigen, müsste dieses Arrangement, das heißt die Zuweisung des Eigentums über die Produktionsmittel an eine separate Klasse von Eigentümern, aufgehoben werden. Wären die Arbeitenden die alleinigen Eigentümer über die Produktion, müsste die Produktion nur noch die Kosten, einschließlich der Einkommen der Arbeitenden, decken. Aber sie müsste keinen Gewinn mehr erbringen. Und dann ginge auch in schlechten Jahren, wenn die Umsätze sinken würden, die Welt nicht unter.

Gibt es solche Verhältnisse — ohne Kapitaleigentümer, nur mit Arbeitenden — heute schon?

Christoph Deutschmann: Natürlich. Denken Sie an die vielen kleinen Selbständigen oder an die vielen Genossenschaften. Es gibt Konzeptionen eines Marktsozialismus, beispielsweise von Bruno Jossa, die auf dem Gedanken beruhen, diese Konstellation auf die ganze Wirtschaft zu übertragen. In einer solchen Ordnung würde die Wirtschaft unverändert nach den Prinzipien des Marktes reguliert werden. Grundlage des Markttauschs wäre aber nicht länger das kapitalistische Eigentum an den Produktionsmitteln, sondern das alleinige Eigentum der Arbeitenden über die Produktionsbedingungen — sicher in Verbindung mit einem mehr oder weniger ausgedehnten öffentlichen Sektor. Und das wäre der entscheidende Unterschied zu den traditionellen, aus der marxistischen Tradition stammenden Sozialismus-Konzeptionen. Die wollten nicht nur das Privateigentum an Produktionsmitteln abschaffen, sondern auch die Märkte und letztere mit einem System staatlicher Wirtschaftsplanung ersetzen. Die Erfahrungen mit dem sogenannten realen Sozialismus sowjetischer Prägung haben gezeigt, das funktioniert nicht.

Wie realistisch ist es heute, diesen Umsturz hin zu einem Marktsozialismus zu bewerkstelligen?

Christoph Deutschmann: Den Marktsozialismus via Umsturz einführen zu wollen, wäre schlichter Unsinn. Wer soll den Umsturz tragen? Wie sollen die erforderlichen demokratischen Mehrheiten zustande kommen?

Wäre denn wenigstens ein solcher Umsturz wünschenswert?

Christoph Deutschmann: Der ist weder möglich noch wünschenswert. Denn es wäre naiv zu glauben, dass die Durchsetzung einer klimaneutralen Produktionsweise sich mit einem bloßen Verzicht auf Wachstum erreichen ließe. Der Übergang zur Klimaneutralität erfordert vielmehr einen Umbau der gesamten materiellen Reproduktionsbasis der Gesellschaft von der Energieerzeugung, der industriellen Produktion, dem Verkehr bis hin zum Gebäudemanagement. Dieser wiederum verlangt nach Investitionen und technischen Umwälzungen in heute noch kaum abschätzbaren Größenordnungen. Mithin verlangt dieser Umbau nach Wachstum. Die dafür erforderlichen innovativen Fähigkeiten hat aber allein der moderne Kapitalismus hervorgebracht. Ein marktsozialistisches oder genossenschaftliches System wäre dazu nicht in der Lage. Die heute überall kursierenden Visionen einer sogenannten grünen Produktionsweise, ob es um E-Autos, Wärmepumpen oder um Windräder geht, zeigen, dass auch kapitalistische Unternehmen die Chance sehen, von einer klimaneutralen Zukunft zu profitieren. Immerhin stehen Sonne und Wind als Energiequellen ja kostenlos zur Verfügung und müssen nicht erst aufwendig aus der Erde gefördert werden. Die grünen Visionen bieten paradoxerweise die Chance, das schwächelnde kapitalistische Wachstum bei uns noch einmal, eventuell ein letztes Mal zu revitalisieren.

Ganz ohne Umsturz

Warum beschäftigen wir uns dann mit solchen marktsozialistischen Konzepten? Wenn sie weder machbar noch wünschenswert sind? Rausgeworfene Zeit.

Christoph Deutschmann: Nicht so schnell. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das marktsozialistische Modell in einer ferneren Zukunft dennoch auf die politische Agenda geraten könnte. Nicht als Weg, um den Übergang zur Klimaneutralität durchzusetzen, sondern beispielsweise um bereits erreichte Erfolge bei der Reduktion von CO2-Emissionen zu stabilisieren und Rebound-Effekte zu vermeiden. Und ich erinnere daran: Die Bedingungen, die kapitalistisches Wachstum erst ermöglichen, erodieren. Die Einkommens- und Vermögensverteilung wird immer ungleicher, geradezu in einem exzessiven Ausmaß. Das verhindert auch unternehmerische Aufstiege. Und: In unseren Gesellschaften kommt es zu einem Rückgang der Bevölkerung, der auch mit Immigration nicht mehr kompensierbar ist. Diese Entwicklungen könnten, nicht heute, aber in einer ferneren Zukunft, zu einer Situation führen, in der der kapitalistische Gewinnimperativ sich faktisch nicht mehr einlösen lässt und die kapitalistische Konfiguration der Eigentumsrechte damit ihre Legitimität und soziale Attraktivität verliert. Dann muss diese Gesellschaft überlegen: Wie kann die Produktion von Gütern und das Angebot von Dienstleistungen auch dann gewährleistet werden, wenn sie keine Gewinne mehr abwerfen? Marktsozialistische oder genossenschaftliche Wirtschaftsmodelle könnten in einer solchen Situation durchaus eine Chance bekommen – übrigens ganz ohne „Umsturz“.

Nehmen wir spielerisch an: Die Eigentumsverhältnisse sind grundlegend verändert, es gibt eine Wirtschaft, die ohne Zwang zum Wachstum wirtschaftet. Was wäre dann besser? Wenigstens anders?

Christoph Deutschmann: Wie gesagt: Eine Wirtschaft, in der das Eigentum über die Produktionsmittel — neben einem öffentlichen Sektor — sich allein in den Händen der Arbeitenden befände, müsste keine Gewinne mehr erwirtschaften. Es müssten nur noch die Kosten einschließlich der Abschreibungen gedeckt werden. Es läge in der Hand der Eigentümer der Unternehmen, das wären Genossenschaftler, Privatleute oder die öffentliche Hände, beziehungsweise deren Manager, zu entscheiden, was mit möglichen Überschüssen oder Defiziten geschieht. Das würde bedeuten, dass die Wirtschaft stark an Dynamik verlieren würde. Neue oder veränderte Produkte kämen viel seltener auf den Markt. Weil der Markt erhalten bliebe, wären die Unternehmen zwar in der Lage, sich an externe Veränderungen anzupassen und auf Veränderungen bei Angebot und Nachfrage zu reagieren.
Die aus der Wirtschaft selbst heraus generierte innovative Dynamik jedoch ließe stark nach. Die gegebene Struktur von Branchen, Unternehmen, Produkten und Arbeitsplätzen bliebe weitgehend konstant oder würde sich nur langsam verändern. Die von den Arbeitenden geführten Unternehmen müssten nicht beständig neuen Zukunftsvisionen nachlaufen, und der heutige Dauerstress in den individuellen Leben würde — für Männer wie Frauen — entschärft. Die erwerbstätigen BürgerInnen könnten sich auf die Bewältigung ihres Alltags konzentrieren und dabei auch den Auswirkungen der Arbeit und der Produktion auf die Natur mehr Aufmerksamkeit widmen. An die Stelle der Verheißungen künftigen Reichtums könnte ein maßvoller, sozial nur mäßig sich unterscheidender, aber weitgehend stationärer Reichtum für Alle treten. Individuelle Berufskarrieren wären durchaus noch möglich, aber die Gesellschaft als Ganzes würde nicht mehr unablässig nach neuen Ufern streben. Last, but not least hätte der Wegfall der Kapitaleinkommen einen zusätzlichen positiven ökologischen Effekt, indem er dem bekanntlich besonders klimaschädlichen Konsumverhalten der Superreichen mit ihren Yachten und Privatflugzeugen ein Ende bereiten würde.

Warum soll das ein Nachteil sein?

Ein solches Wirtschaftssystem kann positiv beschrieben werden, wie Sie das jetzt tun. Aber es mutet erst einmal lethargisch an, scheint zu besonderen herausragenden Leistungen nicht fähig, und es regt die Arbeitenden auch nicht zu besonderen Leistungen an. Ist das wirklich so erstrebenswert?

Christoph Deutschmann: Richtig, ein solches System würde aus heutiger Sicht ziemlich langweilig und ereignislos anmuten. Aber warum soll das ein Nachteil sein — die Leben vieler Menschen sind turbulent genug, warum soll das Arbeits- und Wirtschaftszentrum einer Gesellschaft nicht gerade deshalb ein stabiler leistungsfähiger und eher ruhender Pfeiler sein? Was richtig ist: Ein solches System hätte einen gravierenden Nachteil. Es wäre zweifellos nicht in der Lage, so fundamentale Transformationen in so kurzer Zeit zu bewerkstelligen, wie sie die Bekämpfung der heutigen Klimakrise erfordert. Der Schluss daraus, der nur auf den ersten Blick widersprüchlich klingt: Der eventuell künftige Ökosozialismus und Marktsozialismus taugt gut, um eine künftige klimaneutrale Wirtschaftsordnung zu organisieren und zu gestalten. Aber dieses Modell taugt nicht für den Weg dahin. Dafür benötigen wir, wie oben beschrieben, den heutigen Kapitalismus, der sich ja in einem Prozess eines ständig sich verringernden Wachstums bereits befindet.

Sie sagen: Degrowth ist schon Wirklichkeit. Sie verweisen auf Studien, die belegen: Die Wachstumsraten weisen in den Industrie- und auch in den Schwellenländern einen langfristigen Trend nach unten auf. Das sei ein dauerhafter Prozess. Was ist der Grund dafür?

Christoph Deutschmann: Dazu muss ich erst einmal auf die oben schon angesprochene Frage eingehen: Wie schaffen es kapitalistische Unternehmen, Gewinne zu erwirtschaften? Bei Karl Marx gab es darauf eine einfache Antwort: Die Gewinne entstehen aus dem Mehrwert, das heißt, der Mehrarbeit, welche die Beschäftigten über die Reproduktion ihrer Lohnkosten hinaus leisten müssen. Und weil im Zuge der kapitalistischen Entwicklung lebendige Arbeit immer mehr von Maschinen — Marx nannte das: „konstantes Kapital“ — ersetzt wird und Maschinen im Gegensatz zur Arbeit keinen Mehrwert schaffen, kommt es zu einem langfristigen Fall der Profitrate und zu einem Erlahmen der kapitalistischen Dynamik. Dieser Ansatz war noch im 20. Jahrhundert recht einflussreich. Aber aus heutiger Sicht macht Marx es sich zu einfach.

Inwieweit muss die Mehrwert-Lehre von Marx korrigiert werden?

Christoph Deutschmann: Wichtig ist vor allem, dass es im Kapitalismus nicht einfach auf die von den Arbeitern geleistete Mehrarbeit ankommt. Es kommt vor allem darauf an — das hat bereits Joseph Schumpeter über Marx hinaus betont —, dass diese Arbeit in einer kreativen Weise verausgabt wird. Unternehmen machen nicht einfach dadurch Gewinn, dass sie ihre Arbeiter noch mehr ausbeuten. Vielmehr müssen sie versuchen, sich mit innovativen Produkten, Techniken oder Dienstleistungen eine Nische im Markt zu schaffen und diese so weit wie möglich in Richtung einer wenigstens temporären Monopolposition auszubauen. Dazu braucht es einen bestimmten Menschentyp: den Unternehmer beziehungsweise die Unternehmerin. Das müssen keineswegs nur die Gründer neuer Unternehmen sein — auch für Manager und Vorstände etablierter Unternehmen ist Innovation ein Imperativ. Vor allem aber gibt es Unternehmertum auch unter den abhängig Beschäftigten. Das sind die vielzitierten „Unternehmer im Unternehmen“, ohne deren viele „kleine“ Ideen und ohne deren Erfahrungen und Fachkenntnisse die praktische Einführung neuer Techniken oder Produkte scheitern würde.

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Dann sind die Kompetenzen und Kreativitäten der Belegschaft unentbehrlich für die Erwirtschaftung der Unternehmensgewinne.

Christoph Deutschmann: Ich formuliere es so: Es ist mitnichten eine irgendwie technisch definierte „Produktivität“, die die Gewinne der Unternehmen hervorbringt, sondern es sind allein neue Produkte, Techniken, auch neue Organisationsmodelle. Und nur Menschen, nicht Maschinen, auch nicht die gegenwärtig angepriesene KI, können diese Innovationen hervorbringen und am Markt durchsetzen. Für diese „unternehmerische“ Funktion braucht es erst einmal eine starke persönliche Motivation. Und man muss nicht nur von seiner Idee überzeugt sein, sondern auch den Willen zum Erfolg am Markt beziehungsweise zum Aufstieg im Unternehmen mitbringen.

Sie sehen diese unternehmerische Funktion, diese Befähigungen bedroht. Von was, von wem?

Christoph Deutschmann: Solchen Ehrgeiz, wie den eben erwähnten, entwickelt man nicht erst mit 50 oder 60 Jahren. Es sind — wie viele empirische Untersuchungen gezeigt haben — vor allem Jüngere in den Altersgruppen von 20 bis 40 Jahren, die unternehmerische Aspirationen entwickeln. Die Dynamik der Unternehmen und der Wirtschaft lebt also davon, dass möglichst viele solcher Aspiranten sich auf den Märkten drängen — und nicht nur Männer, sondern auch und gerade Frauen! Richtig ist zwar, dass die kapitalistische Dynamik auf dem sozialen Unterschied von Kapital und Arbeit basiert — ohne diese soziale Dichotomie, ohne diese Zweiteilung gäbe es keine Innovation und kein Wachstum. Genau so wichtig ist aber auch, dass die Dichotomie nicht hermetisch geschlossen sein darf. Es müssen zudem soziale Aufstiege über die Klassengrenzen hinweg ermutigt und bis zu einem gewissen Grade auch ermöglicht werden. Die Voraussetzungen für einen florierenden Kapitalismus sind somit zweierlei: Zum einen eine moderate und sozial durchlässige Ungleichheit in der Vermögens- und Einkommensverteilung, die Chancen für individuelle Aufstiege bietet. Und zum anderen bedarf er einer jugendlichen, wachsenden, zugleich aber auch armen und deshalb nach Markterfolg und sozialem Aufstieg strebenden Bevölkerung.

Dann ist ja unter anderem unsere Alterspyramide der Tod eines florierenden Kapitalismus?

Christoph Deutschmann: Genau diese hier eben nur knapp skizzierten sozialstrukturellen und demographischen Voraussetzungen für kapitalistisches Wachstum — das wäre meine Antwort auf Ihre Frage — werden durch die heute absehbaren Entwicklungen progressiv unterminiert. Die seit Jahrzehnten anhaltende Akkumulation von Finanzvermögen in den Händen von immer weniger Unternehmen oder Privatpersonen verschärft die Ungleichheiten der Einkommens- und Vermögensverteilung, nicht nur in Europa und den USA, sondern auch in den Schwellenländern. Diese wachsende Vermögensungleichheit führt, wie viele Untersuchungen gezeigt haben, zu einer Verriegelung der unternehmerischen Aufstiegskanäle. Für unternehmerische Aufsteiger und Aufsteigerinnen wird es immer schwieriger, fördernde Netzwerke zu finden und sich in sie einzuklinken. Mögliche Ansprechpartner sind häufig längst in einer anderen Liga unterwegs, vor allem an den Finanzmärkten, wo höhere Profite winken. Ein Indiz dafür ist der sinkende Trend der Unternehmensgründungen. Vor allem aber schrumpft die Bevölkerung und mit ihr der Umfang an jugendlichen Kohorten, aus denen sich der unternehmerische Nachwuchs rekrutieren könnte. Darüber hinaus mangelt es zunehmend auch an Arbeitskräften mit einfachen Fertigkeiten; um sie anzulocken, muss man immer höhere Löhne zahlen, was auf Kosten der Profite geht.

Produktionsfaktoren – ein Wieselwort

Dem Mangel an Arbeitskräften, vor allem an jungen, wird mit Einwanderungs-Politiken entgegengewirkt. Das machen doch alle Industriestaaten.

Christoph Deutschmann: Vorläufig, jedoch nur vorläufig sind die entwickelten kapitalistischen Länder in Europa und in Amerika noch in der Lage, das Schrumpfen ihrer Bevölkerungen mit Immigration zu kompensieren. Aber auch in China geht die Bevölkerung zurück, und in vielen Schwellenländern verlangsamt sich bereits das bisher teilweise noch hohe Bevölkerungswachstum. Dramatisch für den Kapitalismus verspricht die Lage zu werden, wenn es weltweit zu einem Rückgang der Bevölkerung kommt. Nach aktuellen Expertenschätzungen könnte das bereits in den 2060er Jahren der Fall sein.

 Ist das nicht nur vor allem ein Thema der bereits entwickelten Industriestaaten“?

Christoph Deutschmann: Es stimmt, meine Ausführungen beziehen sich vor allem auf die Lage in den entwickelten Industrieländern. In den Schwellenländern ist die Lage in vieler Hinsicht anders. Vor allem schrumpft die Bevölkerung dort nicht, sondern wächst noch, wie beispielsweise in Indien. Und auch die Wachstumsraten der Wirtschaft sind dort noch höher. Aber man sollte die Unterschiede auch nicht überbetonen. In vielen Schwellenländern, auch in Afrika, hat die Kurve des Bevölkerungswachstums bereits begonnen, sich abzuflachen. Es ist nun einmal so, dass die Frauen überall in der Welt nach Bildung und Gleichberechtigung streben und dann auch weniger Kinder bekommen. Und die Vermögensungleichheit und ihre blockierenden Wirkungen auf die Aufstiegsmobilität ist in vielen Schwellenländern noch krasser als in den entwickelten Industrieländern. Teilweise gibt es dort kleine Cliquen, die fast alles an Vermögen an sich gerissen haben und im Ausland, in Londoner Immobilien oder anderswo investiert haben (siehe dazu die Daten von Thomas Pikettys World Inequality Database: http://WID.world). Dazu kommen die Blockade der Gesellschaften durch autoritäre beziehungsweise diktatorische Regierungen und die allgegenwärtige Korruption. Vor diesem Hintergrund erscheinen die noch immer hohen Wachstumsraten dieser Länder fast wie ein Wunder. Fazit: Die Unterschiede sind da, aber vieles spricht dafür, dass sie tendenziell abnehmen werden.

Und warum führen die vielen neuen und geradezu umwälzenden digitalen Techniken, zuletzt die Möglichkeiten der KI, nicht geradezu zu Sprüngen der Produktivität?

Christoph Deutschmann: Ich empfehle, mit gängigen Worthülsen wie der der „Produktivität“ kritischer umzugehen. So weit der Begriff rein technisch gemeint ist, ist zwar nichts gegen ihn einzuwenden. Dann bezieht er sich aber nur auf eine ganz bestimmte Anlage und ihren messbaren Ausstoß eines ganz spezifischen Produkts; beispielsweise die Zahl der Flaschen, die eine Abfüllanlage in einer Stunde liefern kann. Ökonomen dagegen reden von „Produktivität“ in der Regel im Sinne von finanzieller Produktivität, das heißt dem finanziellen Ertrag in Relation zum Einsatz verschiedener „Produktionsfaktoren“. Das aber ist ein Wieselwort, dem man nichts Genaues nicht entnehmen kann. Vor allem muss man sich davor hüten, in die finanzielle Produktivität eine irgendwie geartete „technische“ Produktivität hineinzulesen. Es gibt zwar durchaus Fälle, in denen eine höhere technische Produktivität auch eine höhere finanzielle Produktivität zur Folge hat. Es kann aber auch sein, dass eine höhere technische Produktivität mitnichten zu höherer finanzieller Produktivität führt. Das ist dann der Fall, und das ist gar nicht so selten, wenn die am Markt erzielbaren Preise der effizienter hergestellten Produkte so stark sinken, dass der Gewinn aufgezehrt wird. Und es gibt auch Fälle, in denen höhere finanzielle Produktivität nicht das Geringste mit technischer Produktivität zu tun hat. Denken Sie an Beispiele wie dieses: Accessoires-Produzenten schaffen es, mit einem gekonnten und kultigen Design für ihre Ziegenleder-Handtaschen am Markt astronomische Preise zu erzielen. Es kommt eben — um es noch einmal zu wiederholen — im Kern nicht auf „Produktivität“ an, sondern auf Kreativität.

Innovative Potentiale nutzen

Und vor dem Hintergrund dieser Erläuterungen: Warum führen nun die zahllosen digitalen Techniken nicht zu Sprüngen der Produktivität? Schließlich hält die Digitalisierung bereits seit Jahrzehnten an.

Christoph Deutschmann: Dafür gibt es mehrere Gründe. Vielfach sind diese Systeme gar nicht so viel produktiver als versprochen. Oft haben diese Systeme die Kunden mit ihrer Komplexität überfordert. Nicht selten konnten mit diesen Produkten an den Märkten die geforderten Preise nicht erzielt werden. Oder die Kunden tricksten die Systeme aus, indem sie sich die neuen Produkte kostenlos herunterluden. Alles ist möglich, wie Sie in der nahezu endlosen Debatte über das sogenannte „Produktivitätsparadoxon“ nachlesen können. Und es ist wohl wenig riskant vorauszusagen, dass es mit der heute mit so großen Vorschusslorbeeren bedachten KI ähnlich laufen wird. Die Finanzmärkte jedenfalls haben ihre hoch gespannten Erwartungen schon einmal korrigiert, wie die Krise vor kurzem gezeigt hat.

Was bedeutet Ihr Befund des immer weniger wachsenden Kapitalismus denn nun konkret? Vorschlag: Wir müssen für den Schutz des Klimas gar nicht mehr viel unternehmen, denn der Kapitalismus geht sowieso bald an seinem inhärenten Mangel an Wachstum zugrunde und rettet mit seinem baldigen Untergang unfreiwillig auch noch die Natur. Korrekt?

Als Hintergrundtexte und Ergänzungen zum Interview kann bruchstuecke mit freundlicher Genehmigung von Springer VS aus diesem Buch zwei Aufsätze zur Verfügung stellen: „Der Geist des Kapitalismus – Szenarien zwischen Fortschrittsglauben und Wachstumszwang“ sowie „Moderne Ökonomie ohne Wachstumszwang: ein Wunschtraum?

Christoph Deutschmann: Mit Ihrer Deutung haben Sie meine Position gründlich missverstanden. Was ich sage, läuft auf das genaue Gegenteil hinaus. Ich setze nicht auf die Rettung der Natur durch den sowieso zu erwartenden Untergang des Kapitalismus, sondern argumentiere im Gegenteil: Solange der Kapitalismus überhaupt noch wächst, müssen wir seine innovativen Potentiale nutzen, um ihn — unterstützt von und mit intelligenter politischer Steuerung — die Umweltzerstörungen reparieren zu lassen, die er selbst angerichtet hat.

Wenn die jetzige Gesellschaftsordnung, parlamentarisch-demokratisch und fossil-kapitalistisch verfasst, in einer existentiellen Krise steckt — was könnte danach kommen? Ist von dem Neuen schon etwas zu erkennen?“

Christoph Deutschmann: Ich bin kein Geschichtsphilosoph und kann deshalb Ihre Frage nicht beantworten. Meine Aussage war allein: Wenn man den Wachstumszwang abschaffen will, dann reicht bloße Wachstumskritik nicht aus. Man muss vielmehr die Eigentumsrechte über die Produktion in der oben beschriebenen Weise umbauen. Ob und wann das geschehen wird, darüber will ich nicht spekulieren.

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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