Die Erinnerung an Corona verblasst. Die Kriege in der Ukraine und in Gaza, die Migrationspolitik und der Höhenflug der AfD prägen die öffentlichen Debatten. Während die offizielle Aufarbeitung der Pandemie durch staatliche Stellen auf sich warten lässt, häufen sich die Publikationen einzelner Beteiligter. Den Anfang machte Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mit “Wir werden einander viel verzeihen müssen”. Der Buchtitel, einer Rede Spahns im Bundestag entnommen, ließ zumindest Anzeichen von Selbstkritik erkennen. Weniger Zweifel am eigenen Handeln offenbarten der Journalist Georg Mascolo und der Virologe Christian Drosten in “Alles überstanden?”. Die in Gesprächsform präsentierte, vorgeblich kritische Bilanz liest sich wie eine Rechtfertigungsschrift zweier Vertreter der gesellschaftlichen Elite. Nun hat Hendrik Streeck, Initiator der “Heinsberg-Studie” über den frühen Virusausbruch im rheinischen Gangelt und später wie Drosten Berater der Politik, seine Sicht der Dinge dargelegt.
“Nachbeben” kommt im Vergleich differenziert und abwägend daher, der Autor möchte “vermeintlich unversöhnliche Positionen wieder auf den Pfad einer offenen Diskussion führen”. Er übt Kritik an der Rolle der Wissenschaft, ohne dezidiert Namen zu nennen. Bewusst vermeidet er persönliche Angriffe, stellt aber klar: Politisches Handeln dürfe sich nicht allein auf “Expertenmeinungen der vermeintlichen Mehrheit” stützen, sondern müsse in einem “ständigen Austausch mit unterschiedlichen Positionen” stehen und bereit sein, “einmal gewonnene Erkenntnisse immer wieder zu hinterfragen”.
Streeck will nicht nur Vergangenes reflektieren, sondern einen “positiven und pragmatischen Ausblick in die Zukunft” bieten. Für ihn steht im Vordergrund, was “wir beim nächsten Mal besser machen sollten”. Dass es dieses nächste Mal geben wird, davon ist er überzeugt. “Die Teenager, die jetzt Teile ihrer Schulzeit im Lockdown verbracht haben, werden mindestens noch eine, wenn nicht zwei Pandemien erleben.” Die Wahrscheinlichkeit erneuter Ausbrüche sei hoch, das Risiko habe sich in den letzten Jahrzehnten mindestens verdreifacht. Durch die Globalisierung sieht er “die Zeitabstände ebenso wie die Wege zwischen Ländern und Menschen geschrumpft”, innerhalb weniger Tage könnten sich gefährliche Viren über den ganzen Erdball verbreiten.
Für eine scharfe Trennung zwischen Wissenschaft und Politik
Für umso wichtiger hält der Autor, die “größte Krise der Nachkriegszeit” gründlich aufzuarbeiten. Es sei “viel schiefgelaufen”, Behörden wie die Gesundheitsämter und erst recht das vorrangig zuständige Robert-Koch-Institut wirkten völlig überfordert. Notwendig sei nun eine ergebnisoffene, ehrliche und transparente Darstellung von Fehlern und Versäumnissen: “Was nicht geschehen darf, ist diese Zeit totzuschweigen oder zu versuchen, die Geschichte umzuschreiben”. Gemeinsam müsse man “eine Art Richtschnur für die Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft” entwickeln. Streecks Kernthese dazu: Um die eigene Glaubwürdigkeit zu stärken, sollten sich die Verantwortlichen nicht mehr (wie während der Pandemie geschehen) hinter dem Rat einiger ausgesuchter Fachleute verstecken; umgekehrt sollten Forscher nicht vorschnell politische Forderungen bedienen. Man brauche vielmehr eine “scharfe Trennung: Wissenschaftliche Experten beraten, Politiker treffen die Entscheidungen – auch wenn einige Experten dies anders sehen”.
Der zuletzt zitierte Halbsatz ist typisch für Streecks sprachlichen Duktus. Seine eigene Meinung versteckt er häufig hinter Formulierungen, die seine Differenzen zu den Ansichten von Kollegen nur andeuten. Das war schon während der Pandemie so: Der Bonner Virologe blieb in Talkshows und Interviews stets höflich und zurückhaltend, dramatisierte weit weniger als etwa der TV-Dauergast und heutige Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Streeck hat sich nie klar eingereiht in das selbstgefällig so genannte “Team Vorsicht“, in dem rotgrüne Parteigänger überdurchschnittlich vertreten waren. Nicht wenige Journalisten stilisierten ihn prompt zum Widerpart von Christian Drosten.
Kooperiert hat er vor allem mit dem früheren nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet. Kein Zufall, dass der Wissenschaftler 2025 für die CDU im Wahlkreis Bonn für den Bundestag kandidieren will, eingetreten ist er in die Partei allerdings schon vor der Pandemie. Laschet wie Streeck opponierten gegen die platte Devise “Alles dichtmachen”, die der Schauspieler Jan Josef Liefers und seine Kolleg:innen in ihren Videos im April 2021 aufs Korn nahmen. Der später (nicht an seinen Corona-Positionen) gescheiterte christdemokratische Kanzlerkandidat plädierte immer wieder für behutsame Lockerungen und einen weniger rigiden Kurs. Drastische Strategien wie “Zero-Covid” oder “No-Covid” lehnte er ab – ohne dabei die Gefährlichkeit des Virus zu leugnen.
Gräben nicht weiter vertiefen
Vor allem aber ließ sich Laschet von Anfang an interdisziplinär und nicht nur einseitig von Ärzten beraten. Durch die Expertise aus Ökonomie, Soziologie, Psychologie oder Pädagogik gerieten Themen wie die katastrophalen Auswirkungen der monatelangen Schulschließungen oder die Überlebenskämpfe von Künstlern, Gastwirten und anderen Selbstständigen überhaupt erst ins Blickfeld. “Eine Pandemie ist kein rein virologisches oder medizinisches Phänomen, sondern Gegenstand vieler Fachwissenschaften”, so sieht es auch Streeck. Er benennt damit einen Allgemeinplatz, den andere Akteure leider vernachlässigt haben.
Streecks Fazit: “Die Pandemie ist vorbei, ihre Nachbeben spüren wir bis heute.” Der Autor wirbt dafür, die bis in persönliche Beziehungen hinein reichenden Gräben nicht weiter zu vertiefen. Im Gegenteil sollte man “Brücken innerhalb der Wissenschaft und der Gesellschaft” bauen. Eine ergebnisoffene Aufarbeitung könne helfen, “Wunden aus dieser Zeit zu heilen” und “die Herausforderungen zukünftiger Krisen besser gewappnet meistern zu können”.
Hendrik Streeck: Nachbeben. Die Pandemie, ihre Folgen und was wir daraus lernen können. Piper Verlag, München 2024. 316 Seiten, 22 Euro.
Unter der Überschrift „‚Nachbeben‘ von Hendrik Streeck zur Corona-Pandemie: Wir müssen daraus lernen“ erschien die Rezension zuerst in der Freitag.
Herr Prof. Dr. Streek ist nicht Teil der Elite? Entschuldigung, natürlich ist er das.
Herrn Streeks Problem sprechen Sie ja an: Er sagt nichts konkretes. Er schlägt nichts vor.