Wird das „Bürgerrecht auf Bildung“ vom Kopf auf die Füße gestellt?

Demo in Hamburg: (Foto: Hana Gaon auf wikimedia commons)

Die Freiheit der Berufswahl nach Artikel 12 des Grundgesetzes bedeutet nicht, dass mittellose Studentinnen oder Studenten einen Rechtsanspruch haben, dass der Staat für ihr Hochschulstudium die Kosten zum Lebensunterhalt und zur Ausbildung vollständig übernimmt. Der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts setzte in einer kürzlich veröffentlichten Entscheidung (1 BvL 9/21 vom 23. September 2024) zu der Ausbildungsförderung des Bundes (Bafög) andere Prioritäten. Und zum ersten Mal wägt das Gericht in dem Urteil ab, ob es „unverzichtbar“ ist, ein Studium durch eine staatliche Förderung zu ermöglichen im Vergleich „zu anderen Sozialbedarfen“, zum Beispiel „etwa der frühkindlichen Bildung“. Es ist verzichtbar, sagen die Richterinnen und Richter im 1. Senat und werfen einen überraschend neuen Blick auf die „sozialstaatliche Aufgabe, ein durchlässiges Bildungssystem zu verwirklichen“ (S.18).

Es lohnt sich, dieses Urteil genauer anzusehen, auch wenn der Fall selbst schon zehn Jahre alt und von Verwaltungsgericht zu Verwaltungsgericht gegangen ist, bis das Bundesverwaltungsgericht eine grundsätzliche Klärung durch das Verfassungsgericht verlangte. Es geht um den Grundbetrag im Bundesausbildungsförderungsgesetz (Bafög), der die „menschenwürdige Existenz derjenigen, die hierzu selbst nicht in der Lage sind“ (Zitat aus dem 1. Leitsatz), sichern soll. Er „ist auf die unbedingt notwendigen Mittel beschränkt“: Vor zehn Jahren lag dieser Grundbetrag beim Bafög bei 373 Euro.

So ähnlich liest sich das auch in den Gesetzen zum Bürgergeld, in denen gleichzeitig die Eigenverantwortung betont wird, selbst für einen auskömmlichen Lebensunterhalt zu sorgen, um aus der Bedürftigkeit herauszufinden. Diesen Gedanken formuliert nun auch das Bundesverfassungsgericht für Studentinnen und Studenten. Der Anspruch auf einen Grundbetrag „besteht nicht, wenn diese Bedürftigkeit etwa durch Aufnahme einer existenzsichernden Erwerbstätigkeit beendet oder vermieden werden kann, auch wenn dann die Ausübung bestimmter grundrechtlicher Freiheiten wie die nach Artikel 12 Absatz 1 Grundgesetz geschützte Durchführung eines Hochschulstudium nicht möglich sein sollte.“

Im zweiten Leitsatz werden die Richterinnen und Richter noch deutlicher: Mittellosen jungen Menschen, die ein Abiturzeugnis in der Tasche und damit eine Hochschulzugangsberechtigung haben, muss nicht unbedingt durch staatliche Förderung ein Studium ermöglicht werden. Zeugnis und Berechtigung würden „kein Recht auf staatliche Leistungen zur Beseitigung von den gesellschaftlichen Verhältnissen geschuldeten Hindernissen für den Zugang zum Studium“ umfassen. Und im Verlauf des Urteils heißt es dann ausführlicher: „Es berührt nicht die Menschenwürde, wenn eine Hochschulausbildung wegen fehlender Mittel nicht möglich ist und zur Vermeidung von Bedürftigkeit einer existenzsichernden Ausbildung oder beruflichen Tätigkeit nachgegangen werden muss“ (S.14).

Fragen über Fragen

Wo ist das „Bildungsrecht auf Bildung“ (Ralf Dahrendorf) geblieben, dass einst zum Bafög führte? Die uneingelöste Chancengleichheit, die nach wie vor hohe soziale Selektion im deutschen Bildungssystem, die krassen Unterschiede bei der gesellschaftlichen Teilhabe: Spielen die „von den gesellschaftlichen Verhältnissen geschuldeten Hindernisse“ in diesem Urteil des 1. Senats, der für die Wahrung der Grundrechte zuständig ist, keine Rolle mehr? Korrigiert der Senat die bemerkenswert lange Tradition, Hochschulen und Universitäten für den akademischen Nachwuchs in diesem Land zu öffnen und jungen Menschen aus bildungsfernen Schichten ein Studium zu ermöglichen? Oder hält er das seit 1971 geltende (und immer wieder geänderte) Bafög nicht mehr vordringlich, weil das gesellschaftliche Interesse an einer Studienförderung erlahmt ist und ohnehin nur noch jeder fünfte oder sechste Studierende gefördert wird (es waren einmal über 40 Prozent)? Macht der Senat Abstriche an dem wegweisenden Urteil (1972) zu den damals drastischen Zulassungsbeschränkungen (numerus clausus) im Fach Medizin, die „am Rande des verfassungsmäßig Hinnehmbaren“ seien (nachlesbar im 33. Band des Gerichts)? Verpflichtet er den Staat nicht mehr, tatsächlich eine Teilhabe am staatlichen Studienangebot für diejenigen zu gewährleisten, die die Berechtigung haben?

Das Urteil der acht Richterinnen und Richter durchzieht ein auffallend, konsequenter Blickwechsel. Eingeräumt wird, dass der Sozialstaat begrenzte finanzielle Mittel hat, aber „vielfältige Aufgaben“, die eine „Priorisierung“ notwendig machten. Betont wird zwar weiterhin (und im Rahmen der bisherigen Rechtsprechung) der „spezielle Auftrag an den Staat, für gleiche Bildungs-und Ausbildungschancen zu sorgen“. Die Durchlässigkeit müsse faktisch gewährleistet sein: „Die Förderung einer gerechten, nicht von der sozialen Herkunft abhängigen, sondern an der Leistungsfähigkeit ausgerichteten Verteilung von Lebenschancen liegt zugleich im grundlegenden Gemeinwohlinteresse. Die Verwirklichung des sozialstaatlichen Versprechens ‚Aufstieg durch Bildung’ kann den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken“, heißt es in dem Urteil, das auch an die Vorteile für den Wirtschafts-und Wissensstandort erinnert, „wenn vorhandene Bildungspotenziale gehoben werden“ (S.16).

Das Aber folgt und lenkt den Blick auf die „verschiedenen Lebensstationen zur Verbesserung gleicher Chancen“. Und hier nennt der 1. Senat neben der Förderung der Hochschulausbildung „auch die Förderung der beruflichen Ausbildung und der frühkindlichen Bildung“. Diese Verschiebung vom „akademischen Königsweg“ zum dualen System der Lehrlingsausbildung und vor allem zur mehrfachen Erwähnung der frühkindlichen Bildung ist bemerkenswert. Dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber räumen die Richterinnen und Richter einen breiten Spielraum ein, bei der „Verwendung der knappen finanziellen Mittel“ andere Akzente zu setzen. Im Verhältnis zu anderen Sozialbedarfen sei eine gesetzliche Festlegung, unbemittelten junge Menschen ein Hochschulstudium zu ermöglichen und durch höhere Grundbeträge nicht nur die Lebenshaltungskosten, sondern auch die Kosten der Ausbildung zu finanzieren, verzichtbar.

Kita – „Kinderstube der Demokratie“

Das ist eine klare Aussage. Wieso aber taucht in diesem Urteil, in dem es um den Grundbetrag, das „menschenwürdige Existenzminimum“ beim Bafög ging, die frühkindliche Bildung auf, die es im Rahmen der „Priorisierung“ des Sozialstaatsgebots zu fördern gelte? Sind die alarmierenden wissenschaftlichen Untersuchungen zum Zustand und zu der krassen sozialen Selektion in den Kindertagesstätten bei den Wahrern der Grundrechte in Karlsruhe angekommen? Sollte die Förderung des „Bürgerrechts auf Bildung“ vom Kopf auf die Füße gestellt werden?

Vor einem Jahr wies die Bertelsmann Stiftung in zwei umfangreichen Berichten nach, dass bundesweit 430.000 Kita-Plätze und 111.200 Fachkräfte fehlen, obwohl die Drei-bis Sechsjährigen seit 1996 und die unter Dreijährigen seit zehn Jahren einen Rechtsanspruch auf Bildung, Betreuung und Erziehung in einer Kita haben. Die „gesellschaftlichen Verhältnissen geschuldeten Hindernisse“ aber belegte noch eindringlicher Katharina Spieß, die Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, in ihrer Studie „Frühe Ungleichheiten“ für die Friedrich Ebert Stiftung. Keinen Kita-Platz bekommen hierzulande: Jede dritte armutsgefährdete Familie, 39 Prozent der Familien, in denen zu Hause kein Deutsch gesprochen wird, jede 4. Familie ohne akademischen Hintergrund und mehr als jede 4. Familie mit alleinerziehendem Elternteil.

Die Kinder aus diesen Familien bleiben vor der Tür der Kita, die eigentlich einen Beitrag leisten soll, frühe Ungleichheiten abzubauen und die Chancengleichheit zu verbessern. Sie gilt inzwischen gesellschaftlich als „Kinderstube der Demokratie“ (Rüdiger Hansen, 2005). Sind die wiederholten Hinweise in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts auf die zu fördernde frühkindliche Bildung so zu verstehen, dass heute das Fundament für ein „Bürgerrecht auf Bildung“ in dieser „Kinderstube“ gelegt wird? Das wäre ein wichtiges Signal aus dem Senat, der über Lebenschancen und Grundrechte entscheidet. Aber er hat es mächtig umständlich verpackt.

Jutta Roitsch
Jutta Roitsch, Diplom-Politologin und freie Autorin, von 1968 bis 2002 leitende Redakteurin der Frankfurter Rundschau, verantwortlich für die Seiten »Aus Schule und Hochschule« und »Dokumentation«, seit 2002 als Bildungsexpertin tätig, Engagement in der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union, vereinigt mit der Gustav-Heinemann-Initiative (GHI), Autorin der "Blätter für deutsche und internationale Politik", der "Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik".

2 Kommentare

  1. Auch das ein interessanter Beitrag über ein wichtiges Urteil, dass wegen der aktuellen Entwicklungen wenig Beachtung fand, liebe Jutta. Das Recht auf Bildung auf die frühkindlichen Füße zu stellen angesichts begrenzter staatlicher Mittel, halte ich für richtig. Ebenso, dass das Bundesverfassungsgericht sich in Fragen, die politisch, nicht juristisch entschieden werden müssen, zurückhält. Tun die obersten Richter in anderen Fragen leider immer öfter nicht.

  2. Ich halte diese indirekte Aufwertung beruflicher und und frühkindlicher Bildung für dringend geboten. Die eigentliche Bildungskatastrophe liegt seit mindestens einem Jahrzehnt in dem Bereich der frühkindlichen Bildung sowie der mangelnden Attraktivität und Ausstattung der beruflichen Bildung, z.B. der Berufsschulen.

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