Politiker von SPD, Grünen und CDU/CSU können der IG Metall, dem Betriebsrat und den Beschäftigten bei VW dankbar sein, dass dieser Abschluss am Beginn des Bundestagswahlkampfes erreicht worden ist und drohende Standortschließungen und Massenentlassungen im Wahlkampf nicht für populistische Mobilisierung genutzt werden können.
Noch wenige Wochen zuvor, als VW-Konzernchef Oliver Blume Ende Oktober den Abbau von 30.000 Beschäftigten mit betriebsbedingten Kündigungen, die Schließung mehrerer Standorte in Deutschland und eine Senkung der Tarifeinkommen um circa zehn Prozent für unabdingbar hielt, war das eine Riesenwelle in einer Flut von Verlagerungs-, Schließungs- und Entlassungsankündigungen, womit für viele schon das Totenglöckchen für den Industriestandort Deutschland erklang. Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Gesamtlage wäre ein so radikaler Schnitt bei VW Ermunterung für andere Unternehmen und willkommene Wahlkampfmunition für die populistischen Parteien gewesen.
Die roten Linien sind gehalten
Kluges Dosieren von Konfliktfähigkeit und Kompromissbereitschaft der IG Metall, gestützt auf den Betriebsrat und die Belegschaften, haben das verhindert. Voraussetzungen dafür sind der hohe Organisationsgrad und ein Zusammenspiel zwischen Betriebsrat und Gewerkschaft, wie sie bei VW gegeben sind. Die IG Metall hat von Anfang an rote Linien markiert – keine betriebsbedingten Kündigungen, keine Standortschließungen, keine Minderung der monatlichen Entgelte. Auf dieser Grundlage wurde für Warnstreiks mobilisiert, entschlossen notfalls auch weitere Schritte zu gehen. Dabei war auch der Arbeitnehmerseite klar, dass VW aufgrund der Exporteinbruchs in China und des äußerst steinigen Wegs zur Elektromobilität in Deutschland in einer schwierigen Lage ist. Von den Fehlern der Vergangenheit, 30 Milliarden in den Sand gesetzt mit Straf- und Entschädigungszahlungen plus Anwaltskosten aufgrund des Dieselskandals sowie einer missglückten, weil nicht konsequenten E-Auto und Batterie-Strategie ganz zu schweigen.
Die IG Metall hat einen Kompromiss erreicht, der auch schmerzliche Einschnitte für die Belegschaft und manche Standorte enthält. Aber die roten Linien sind gehalten: Die Einkommensminderung geht zu Lasten jahresbezogener Zahlungen, verringert nicht die Monatsentgelte. Alle Standorte sind momentan gesichert, für zwei muss innerhalb der beiden kommenden Jahre noch eine längerfristig tragfähige Lösung gefunden werden. Der Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen ist in einem neuen Vertrag festgeschrieben, der bis Ende 2030 nicht kündbar ist. Die jetzt fälligen Entgelterhöhungen, vergleichbar dem Tarifabschluss der Metall- und Elektroindustrie, werden in einen Solidaritäts- und Zukunftspakt gegeben, der z.B. beim Lohnausgleich bei Arbeitszeitverkürzungen und dem sozialverträglichen Beschäftigungsabbau helfen soll. Das Ergebnis lässt dem Konzern Zeit für den nötigen Umbau, um weiterhin ein weltweit führender Automobil-Konzern zu bleiben. Alles in allem trägt der Abschluss Merkmale, die auch auf politischer Ebene öfter zu wünschen wären. Er zeigt, dass bei gravierenden Fragen nach heftigem Streit tragfähige Kompromisse gefunden werden können, die der Solidarität und dem Allgemeinwohl verpflichtet sind.
Verheerende Ostvergessenheit
Das Ergebnis wirft aber auch Fragen auf und verweist auf Probleme, die weit über VW hinausgehen. Sie müssten in der nächsten Legislaturperiode des Bundestages eine Rolle spielen und auch schon im Wahlkampf auf der Tagesordnung stehen. Dazu ein Blick in die Wahlprogramme der Parteien.
Ein Manko des Kompromisses ist, dass die VW-Standorte im Osten einen großen Teil der Last zu tragen haben. Der Kompromiss ordnet sich damit in die verheerende Ostvergessenheit der gesamten Politik ein. Seit fast einem Jahrzehnt ist sichtbar, dass die deutsche Einheit alles andere als vollendet ist, materielle, soziale und kulturelle Differenzen wieder aufbrechen. Die Politik hat darauf nicht reagiert. Rechter Populismus ist seit Mitte der 2010-Jahre überall in Deutschland stärker geworden. Aber sein besonderes Gewicht in den ostdeutschen Bundesländern hat spezifische Ursachen, die auch mit der „Ostvergessenheit“ in Politik und Wirtschaft, Kultur und Medien zu tun haben.
Der jüngste Bericht und Interviews des Ostbeauftragten der Bundesregierung Carsten Schneider weisen auf das fehlende „Wir-Gefühl“, die deutliche Unterrepräsentanz der Ostdeutschen in den Führungsetagen der Wirtschaft, der Verwaltung und der Medien sowie auf die Vernachlässigung des Problems einer großen Zahl gewaltbereiter Rechtsradikaler in Ostdeutschland in den 1990er Jahren hin. Die Programme von CDU/CSU, von SPD und Grünen SPD waren schon in der Vergangenheit von „Ostvergessenheit“ gekennzeichnet. In den aktuellen Wahlprogrammen reagieren die Parteien sehr unterschiedlich auf die Einheits-Defizite: Für die Programme von AfD und BSW, beide im Osten besonders erfolgreich, ist das interessanterweise überhaupt kein Thema.
Im Programm der Union kommt Ostdeutschland nur in der Präambel in Verbindung mit „Wiedervereinigung, Aufbauleistung der Ostdeutschen, Wohlstand“ vor, als Errungenschaften, auf die man stolz sein kann. Im Programm der Grünen sind das höhere Durchschnittsalter und die nachteiligen Auswirkungen geringer und mittlerer Renten in Ostdeutschland ebenso wie die „ostdeutschen Großschutzgebiete“ als Teil des gelungenen Naturschutzprogramms erwähnenswert. Die SPD verweist in ihrem Programm zumindest darauf, dass der Mindestlohn und eine stärkere Tarifbindung in Ostdeutschland besonders wichtig, der hohe Eigenanteil bei der Pflege stärker belastend und die wirtschaftliche Regionalförderung in den strukturschwachen Gebieten Ostdeutschlands wichtig sind. Außerdem wird der engagierte Kampf der Zivilgesellschaft in Ostdeutschland für Demokratie als herausragend hervorgehoben. Nur das Programm der Partei Die Linke enthält ein eigenes Kapitel „Gerechtigkeit für Ostdeutschland“ mit zahlreichen ostspezifischen Forderungen. Das ist für die Parteien, die Regierungsverantwortung anstreben, eine beschämende Bilanz. Denn wenn die gravierenden Einheitsdefizite nicht benannt werden, sind auch keine gezielten Programme zu ihrer Verringerung zu erwarten. Die Spaltung wird fortgeschrieben und verfestigt sich generationenübergreifend und damit auch eine Ursache für die Wahlerfolge der AfD.
Funktionierende Tarifpolitik – unersetzbar
Im Umfeld des Tarifabschlusses bei VW soll jetzt wieder die Elektromobilität mit Kaufprämien und stärkerer Verpflichtung für den Ausbau von Ladestationen angeschoben werden. Ein Masterplan zur Elektromobilität, den schon die gescheiterte Ampel nicht vorgelegt hat, fehlt auch in den Programmen zur Bundestagswahl 2025. Der Schlingerkurs der letzten Jahre wird wohl fortgesetzt. Nur die Grünen sind in ihrem Wahlprogramm konsequent auf dem Weg zur Elektromobilität. AfD, BSW und FDP wollen eine totale Kehrtwende, die Unionsparteien wollen das beschlossen Verbrenner-Aus für 2035 aufheben ebenso wie die Strafzahlungen für Automobilkonzerne, die die für 2025 vereinbarten Flottengrenzwerte beim CO²-Ausstoß pro Kilometer bei Neuwagen überschreiten. Die SPD stimmt bei der letztgenannten Forderung mit der Union überein, eine Zustimmung zur Aufhebung des Verbrenner-Aus ist nicht ausgeschlossen. Würde es tatsächlich aufgehoben, bliebe der Absatz von E-Autos trotz Kaufprämien weiter schwach. Und die Strafzahlungen für das Überschreiten des Flottenverbrauchs zu beseitigen, wird Konzernbilanzen verbessern, Dividendenausschüttungen erhöhen, aber keineswegs zwingend zu mehr Investitionen für die Zukunftssicherung der Unternehmen führen.
Die IG Metall hat im Rahmen der Tarifautonomie mit dem Ergebnis bei VW zu sozialem Frieden und gesellschaftlichem Zusammenhalt beigetragen. Tarifautonomie funktioniert auf die Dauer nur mit starken Gewerkschaften und hoher Tarifbindung. So wichtig der Mindestlohn geworden ist, er kann funktionierende Tarifpolitik in der Fläche nicht ersetzen. Deswegen bedarf die Ausweitung der Tarifbindung auf rund 80 Prozent der Wirtschaft, wie es die Mindestlohnrichtlinie der EU allen Mitgliedstaaten als Ziel vorgibt, der politischen Unterstützung.
Die Rolle der Gewerkschaften für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands sowie die Bedeutung einer umfassenden Tarifbindung spielt in den Wahlprogrammen der Parteien eine unterschiedliche Rolle. Die Programme der AfD, des BSW, der FDP kennen die Stichworte „Gewerkschaften“, „Tarifverträge“ oder „Tarifbindung“ nicht. Die Programme der Unionsparteien sehen Gewerkschaften als Tarifpartner. Die Tarifbindung soll erhöht, aber der Weg zu betriebliche Tariföffnungsklauseln erleichtert werden. Im Wahlprogramm der Grünen werden Gewerkschaften und starke Tarifbindung einmal erwähnt. Nur das SPD-Wahlprogramm verweist mehrfach auf die Gewerkschaften als wichtige Akteure im sozialen und ökologischen Wandel und benennt konkrete politische Maßnahmen zur Erhöhung der Tarifbindung, fordert ein Verbandsklagerecht für Gewerkschaften und signalisiert Unterstützung für weitere Arbeitszeitverkürzung. Eine sehr große Rolle spielen die Gewerkschaften im Programm der Linken. Sie werden an vielen Stellen als Akteure bei der Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft genannt. Außerdem fordert das Programm, dass es eine Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden „ohne Tarif“ nicht geben soll.
Keine Spur von großer Transformation
Der Tarifabschluss bei VW ist ein solider Kompromiss, ehrlich und alarmierend zugleich. Mit dem Tarifabschluss ist Zeit gekauft worden für sozialverträgliche Lösungen bei Beschäftigungsabbau und Investitionsmöglichkeiten zum Umbau für das Unternehmen. Klar ist: Die 35.000 Arbeitsplätze werden nicht wieder entstehen, weder bei VW noch bei anderen Automobilunternehmen in Deutschland. Für die Stahlindustrie, die Metall- und Elektroindustrie, die chemische Industrie und viele anderen industrielle Bereiche gilt ähnliches.
Wir befinden uns schon mitten in der „Zeitenwende“ des industriellen Umbruchs. In den Wahlprogrammen der Parteien ist davon aber wenig zu spüren. Sie sind eher davon bestimmt, wie mit unterschiedlichen angebots- oder nachfrageorientierten Konzepten und zum Teil mit anderer ökologischer Ausrichtung die Wachstumsraten und Beschäftigungsniveaus der Vergangenheit in den heutigen industriellen Sektoren vielleicht wieder hergestellt werden könnten: Von einer grundlegenden Transformation in der Produktions-, Arbeits- und Lebensweise keine Spur, nicht einmal bei den Grünen. Aber diese Transformation zu gestalten, wird das zentrale Thema während der nächsten Legislaturperiode sein. Vielleicht sind solche Zumutungen in Wahlprogrammen und Wahlkämpfen nicht möglich. Aber in den kommenden Jahren wird entschieden, ob die industrielle Zeitenwende disruptiv erfolgt oder die rechts- und sozialstaatliche Demokratie die Oberhand behält.
Lieber Klaus, du bringst es auf den Punkt. Sauber analysiert.
Nach der Diagnose kommt die Therapie. Wie kommen wir raus aus dem Schlammassel?
Ich denke auch, dass wir in so einer Situation mit hohen Anforderungen ebenfalls groß denken müssen. Utopie – Vision – Konzept – Ziele – Massnahmen – Instrumente. Wo setzen wir an? Wer beginnt?