Seltsame politische Blüten entfalten sich da

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Da haben die Parteien dem Wahlvolk aber was eingebrockt! Es soll nämlich nach einer kurzen, winterlichen Wahl-Auseinandersetzung über außerordentlich schwierige, kontrovers diskutierte Fragen abstimmen. Über die Frage beispielsweise, wie ein teilweises Absterben des industriellen Sektors des Landes verhindert werden könnte; wie der schnelle Ausstieg aus der Kohlenstoffdioxid-Nutzung bewerkstelligt werden könnte; wie Krieg in Europa beendet und eine neue Friedensordnung verabredet werden könnten. All das wurde in eine Handvoll Wahlkampf-Wochen gepackt. Das ist eine hochgradig gewagte Angelegenheit. Seltsame politische „Blüten“ entfalten sich gleichzeitig.

So hat die FDP vor, das heutige Umweltbundesamt schlicht abzuschaffen. An einem Tag konnte man in der FAZ dazu aus der Feder der Ressortleitung Wissenschaft von Joachim Müller-Jung lesen, dass das völlig daneben sei („FDP mit der Abrissbirne auf Abschiedstour„), eigentlich, in meinen rheinisch gefärbten Worten gesagt: bekloppt. Tags darauf widersprach ein Wirtschaftsredakteur der Zeitung, wenn man so anfange, könne man es mit der Verschlankung des Staatsapparats gleich sein lassen, man müsse mit irgendwas ja anfangen. Ausgerechnet mit dem Umweltbundesamt: Von Hans-Dietrich Genscher (FDP) seinerzeit gegründet, von „Enkel“ Lindner in den Müll gesteckt.

Nach Auffassung der Bundesregierung hilft keine Kosmetik am Umweltproblem, d. h. ein Kurieren an Symptomen. Notwendig ist es, die drohende Umweltkrise an der Wurzel zu packen. Das ist nur durch ein neues Umweltrecht möglich, das Schutz und Entwicklung der Naturgrundlagen, auf denen unser aller Leben und Überleben beruht, zu den vorrangigsten Aufgaben staatlicher Zukunftssicherung und Vorsorge macht. Die Bedrohung der Umwelt ist keine vorübergehende Erscheinung. Sie ist das Grundproblem unserer Industriekultur.
(Hans-Dietrich Genscher am 3. Dezember 1971 im Bundestag)

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Ein Amt wegwerfen, das mit Blick auf den Klimawandel, Wetterwandel, auf den Verlust von Artenreichtum, Bodenerosion und vieles andere mehr unverzichtbar ist? Was kommt da noch? Das BSW möchte statt der durch Parteien und Fraktionen gebildeten Bundesregierung eine „Expertenregierung“, wie das Bündnis sagt, „ins Amt bringen“. Was meint das BSW mit „ins Amt bringen“? Man kann das ironisieren: Sahra und Oskar beugen sich über Papier, schreiben darauf Nachnamen und diskutieren: „Was meinst Du, den auch?“ – „Ne, um Gottes Willen, den nicht!“ Die so gefundenen würden dem Bundespräsidenten übermittelt werden, damit der die zu Ministern und Ministerinnen ernennt.

Ressentiments gegen Demokratie

Ist die Basis des angesteuerten Expertenwissens, die Wissenschaftlichkeit, immer eindeutig? Wie kommt´s, dass die eine Seite der Wissenschaft die zivile Nutzung von Kernenergie für vertretbar hält, die andere nicht? Wie sah das in der Vergangenheit aus? Eine Seite der Wissenschaft war für Zwangssterilisierung, die andere, Gott lob, dagegen. Experten halten ein durch KI angereichertes Zusammenleben für segensreich, andere für den Beginn des Unterganges unserer Spezies. Das Bündnis fordert dazu lediglich, dass ihre Experten „integer, fachkundig und unbestechlich“ sein sollen. Wer prüft das? Wird der Ernennung eine Art „Wahrheitsrat“ vorgeschaltet? Muss ein Kandidat aus einer Exzellenz-Uni kommen? Die BSW/Wagenknecht-Forderung ist ein ernstzunehmender Vorgang. Denn es werden Vorbehalte, Ressentiments gegen die heutige Regierungsbildung über Wahlen und Mehrheiten so richtig angeheizt.

Siehe die Rezension auf Bruchstücke

Der frühere Vorsitzende des Wissenschaftsrates, der Literaturwissenschaftler Peter Strohschneider, hat zum Thema jüngst ein spannendes Buch vorgelegt: „Wahrheiten und Mehrheiten. Kritik des autoritären Szientismus.“ Sein Rat: Finger weg! Im Kern gehe es darum, Kompetenzen zu übertragen, die heute in den Händen der demokratischen Institutionen lägen. Die so benannten Experten hätten keine Legitimation, wie sie in der parlamentarischen Demokratie gefordert sei.

Lese ich Wahlprogramme durch, stelle ich fest: Gesetzgeber und Regierungen sollen die deutsche Wirtschaft wieder flott machen. Und was und wie auch immer die Wählerinnen und Wähler entscheiden werden: Nach der Wahl muss das klappen. Viel mehr Zeit, einer herrschenden Krise Herr zu werden, kriegen Land und Leute nicht. Denn die Aufgaben, die sich aufgebaut haben, sind weder auf der Zeitschiene verschiebbar noch lassen sie sich auf „kleinere Stücke portionieren“.

Warum das so ist? Einer Umfrage aus dem November 2024 des durchaus renommierten, freilich konservativen Münchner ifo-Institutes (Institut für Information und Forschung) zu folge beklagen 41,5 Prozent. der Betriebe Auftragsmangel. In der Industrie sind es 47,5 Prozent. Den negativen Spitzenwert weisen Metallerzeugung und Verarbeitung mit fast 70 Prozent. auf. Wie lange der Zustand noch andauern könnte, weiß niemand. Der Mangel steigt übrigens: Im Sommer 24 waren es noch etwa 39 v.H.

VW: Da muss man erst mal schlucken

Trifft es beschäftigungsstarke, umsatzstarke, börsennotierte Unternehmen, werden geldgebende Banken, werden Kommunen, Land und Bund, werden Gewerkschaften unruhig. Es wird nach staatlichem Handeln gerufen. Die Krise hat ihre Ursachen auch im Zustand des Produktivvermögens, in fehlenden Ideen für Konkurrenzfähiges, in den heutigen Zinsen auf Kredite und nicht zuletzt im Zustand dessen, was stets Basis jeden Schaffens ist, der Infrastrukturausstattung. Das ist seltsam. Statt die Wege zur Herstellung konkurrenzfähiger Güter und Dienstleistungen frei zu halten, sie auszubauen, haben wir alle zugelassen, dass eine Art Hindernisrennen Realität geworden ist.

Trifft es kleinere und kleine Betriebe, dann verschwinden die sang- und klanglos. Das geschieht heute in hunderten einzelnen Fällen. Die Auftragsbücher bleiben halbleer. Die Gewinne schrumpfen. Es werden Löhne und Gehälter reduziert und Investitionen aufgeschoben, später abgesagt, Beschäftigte verlieren die Arbeitsplätze. Am Ende sind Rücklagen aufgebraucht, Reserven aufgelöst, das Anlagevermögen wird nicht erneuert, es muss verkauft, manchmal verramscht werden.

Beginnen die Kapitalstöcke der Großen an Wert zu verlieren, zu schrumpfen, wird der Staat aufmerksam. Gleichwohl erfüllen die kleineren und kleinen Unternehmen enorm wichtige, unverzichtbare Aufgaben als Zulieferer, dann auf der ganzen Palette der handwerklichen Leistungen sowie beim Erhalt der Infrastruktur und zur Erledigung öffentlicher Aufträge in Städten und Kommunen. Knapp die Hälfte. aller öffentlichen Aufträge, die Infrastruktur erhalten oder verbessern, entfallen auf die Kommunen.

Bisher erschienen:
(1) Gute Zeichen, schlechte Zeichen: Das Tarifergebnis bei VW, der Wahlkampf und die Parteiprogramme

Wie ernst die Situation insgesamt ist, das zeigt die Verständigung zwischen Belegschaftsvertretung, Gewerkschaft und Unternehmensvorstand für VW vor wenigen Tagen: Verzichte auf Lohnerhöhungen über ein halbes Jahrzehnt lang, Abbau von Lohn- und Gehaltsboni, damit die Arbeitsplätze nicht verschwinden beziehungsweise abwandern. 35 000 sollen sozialverträglich wegfallen im Laufe der Jahre. Darin steckt auch, dass die Arbeitskosten insgesamt gegenwärtig in diesem Bereich zu hoch sind. Großen Beifall und Jubelgeschrei gab es nicht. Es ist, als müsse man erst Mal schlucken. Denn der Spar- und Schrumpfkurs wird sich in Hunderten Zulieferern fortsetzen. Schlucken müssen auch die in den sozialen Sicherungssystemen Verantwortlichen. Die Süddeutsche Zeitung berichtete über Lohn- und Gehaltsausfälle in der Folge der Verständigung bei VW von über neun Milliarden Euro. Legt man eine Quote von 40 v.H. für den Gesamtaufwand an Sozialbeiträgen an, fehlen über 3,5 Milliarden in Renten-, Gesundheits-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung. Es kann, es sollte uns allen angst und bange werden, wenn VW in der Breite Schule macht. Gleichzeitig wachsen die Ausgaben in Sozialsystemen in der Folge der demografischen Entwicklung. 

Überschuss des einen, Arbeitslosigkeit der anderen

Was da läuft, das geht in globalen Zahlen noch unter: 2023 exportierte die deutsche Wirtschaft Güter und Dienstleistungen im Wert von 1,575 Billionen Euro. Importiert wurde im Wert von 1,356 Billionen. 60 v.H. der Exporte gingen in europäische Staaten. Mit 272,6 Milliarden Euro und einem Anteil von 17,3 v.H. sind komplette Kraftfahrzeuge und KfZ-Teile der wichtigste Exportbereich. 

Das heißt: Die Bundesrepublik erzielt immer noch einen hohen Außenhandelsüberschuss. Gesamtwirtschaftlich gesehen geht es derzeit immer noch darum, einen Überschuss – ob man will oder nicht – auf Kosten anderer Volkswirtschaften – zu halten. Es ist immer noch so: Der Überschuss des einen ist die Arbeitslosigkeit des anderen.

Der Überschuss macht die Bundesrepublik mit ihren hohen Versorgungsniveaus gleichzeitig verwundbar. Denn von einem ausgeglichenen Handel ohne Überschuss gegenwärtig können wir nicht existieren: Keine heutigen Löhne zahlen, keine Renten und Pensionen und auch kein Gesundheitssystem unserer Art erhalten. Das muss man sich schon klar machen. Es ist Realität, auf die wir einerseits stolz sein können, die aber auch schrecklich bitter ist.

Zweitens stehen die Export-Produkte der bundesdeutschen Wirtschaft zumeist an der Spitze der Wertschöpfungsketten: Ausgehend von der Rohstoff- Ausbeutung über deren Transport zur heute noch meist Carbon-basierten Verarbeitung und den Zusammenbau von Teilen, Steuerung bis zum fertigen Produkt einschließlich des begleitenden Einbaus von neuem Wissen, von Forschung und Entwicklung, von Kostensenkung, Transformation, Werbung und Vertrieb. 

Das wird begleitet von der Sicherung der Rohstoff-Basen (Außenhandelspolitik), der Sichtung und der Übernahme von Forschungsergebnissen, verwertbaren Ideen. Es ist verbunden mit der Abgabenpolitik, der Tarifpolitik, der Schul-, Ausbildungs- und Weiterbildungspolitik, der Suche nach Arbeitskräften, mit dem Steuernzahlen sowie nicht zuletzt mit der Integration Hunderttausender Menschen. Auch das macht verwundbar und anfällig. Man muss sich auch das immer wieder vor Augen halten. All das findet zudem in einer durchaus anstrengenden, herausfordernden Art der Entscheidungsfindung statt, in der liberalen parlamentarischen Demokratie.

Wir müssen den Wandel verstehen

Fragt man bei einer Industrie- und Handelskammer nach dem Charakter der Krise: Unzufriedenheit mit der Wirtschaftspolitik ist das erste Argument. Die Politik der Regierung wird als Wachstumshindernis bezeichnet. Und dann: zu hohe Energiepreise, schlechte Infrastruktur, Bürokratie, Höhe der Sozialversicherungs-Beiträge und natürlich der Löhne und Gehälter (siehe zum Beispiel IHK Rheinland).

Das ist höchst erstaunlich. Der Auftragsmangel als Ergebnis staatlichen Handelns oder Unterlassens? Der Welthandel ist unüberschaubarer geworden. Frühere Wachstums-Lokomotiven wie die Volksrepublik China fahren langsamer; andere koppeln sich ab – Beispiel USA. Kriegsrisiken spielen in die Aufträge für Waren und Dienstleistungen hinein. Gleichzeitig bieten mehr Staaten als zuvor Waren und Dienstleistungen in Bereichen an, in denen die Bundesrepublik führend war oder wenigstens mitreden konnte. Die Konkurrenz ist besser geworden. Vor allem: Der für alles und jedes gebrauchte „Stoff“, die Energie ist im Vergleich zu Energiepreisen von Konkurrenten aus anderen Ländern in Deutschland teurer. Auf den Stufen der Grundstoffherstellung und -verarbeitung ist die Abhängigkeit von Energie am stärksten Auf den folgenden Verarbeitungsstufen wird sie geringer. Das zeigt sich auch in den Auftragsbüchern.

Energieträger werden ausgetauscht. Raus aus der Kohleverstromung. Raus aus der Kernenergie. Langfristig auch raus aus der Verwendung von Erdgas. Rein in die noch sparsamere Verwendung von Energie, rein in die Windkraft, die Verwendung der Sonnenergie, von Biomasse und in die Erzeugung von Wasserstoff. Wir müssen den Wandel vollständig verstehen, der sich vollzogen hat und immer noch vollzieht:

Im Verständnis vieler sieht der Wandel so aus – ein Beispiel aus meiner Heimat: Kühlschränke wurden vor 30 Jahren von Miele in Euskirchen hergestellt. Vor zwanzig Jahren war mit „beko“ aus der Türkei ein echter Konkurrent herangewachsen; heute fertigen beko-Vertragspartner in Rumänien; Mieles Werk in Euskirchen wurde zwischenzeitlich Technologiezentrum. Im zu Ende gehenden Jahr zog wieder Angst bei Miele in Euskirchen ein, weil das Gütersloher Stammwerk den Abbau von 2700 Arbeitsplätzen ankündigte. Und mancher Apfelsaft, den wir uns einschenken lassen, kommt nicht aus Meckenheim oder aus dem Alten Land bei Hamburg, die Äpfel dazu haben deutsche Verarbeiter in China gekauft. Wo finde ich eine Grundlage, um mir ein Urteil zu bilden – und nach halbwegs bestem Wissen und Gewissen am 23. Februar zu wählen?

Wohlstand wird neu verteilt

Am 10. September 2024 war folgendes zu lesen: „Rund ein Fünftel der industriellen Wertschöpfung in Deutschland ist bedroht. Um auch in Zukunft international wettbewerbsfähig zu sein, sind private und öffentliche Mehrinvestitionen in Höhe von 1,4 Billionen Euro bis 2030 nötig. Das sind Ergebnisse der Studie „Transformationspfade“, die der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) bei der Strategieberatung Boston Consulting Group (BCG) und dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Auftrag gegeben hat.
Ferner ist zu lesen: „Technologisch bleibt die Dekarbonisierung auf dem Weg zur Klimaneutralität 2045 möglich und machbar….“
Und schließlich: „Nur mit diesen Investitionen gelingt die erfolgreiche Transformation hin zu einem zukunfts- und wettbewerbsfähigen Standort.“ Rund 500 Milliarden sollen allein die öffentlichen Haushalte für eine modernisierte Infrastruktur bereitstellen, heißt es im Institut der Deutschen Wirtschaft. Absender dieser Zeilen ist der BDI, der Bundesverband der deutschen Industrie.

Eine Ökonomie wie die der Bundesrepublik, die an den Spitzen der Wertschöpfungsketten steht und bleiben will, die muss sich insgesamt mehr als andere anstrengen. Sie ist, das erwähnt der BDI so ausführlich nicht, Teil einer weltumspannenden Auseinandersetzung über die Neuverteilung des Wohlstandes. Ja, der Wohlstand wird neu verteilt. Wohlstand: Gute Löhne und Gehälter, wie sie stets auch in der Bundesrepublik gefordert werden. Wohlstand bedeutet auch: Stets „vorrätige“ und moderne Gesundheitsleistungen, Absicherungen gegen Lebensrisiken, eine Ausstattung, die jederzeit individuelle Lebensweisen möglich macht, Bildung auf Abruf, individuelle Mobilität rund um die Welt. Und schließlich gehört zu den Wohlstandsvoraussetzungen das Zusammenstehen für Demokratie, Bürgerrechte und ein Lebenssinn.

Dazu benötigt das Land keine durch Frau Wagenknecht und Herrn Lafontaine handverlesenen Experten. Aber gewiss wären in den Parlamenten und dann in Regierungen Frauen und Männer aus den Betriebsräten nützlich, die es gelernt haben, soziale Sicherheit mit erfolgreichem Co-Management zu verbinden. Die gibt es übrigens – und nicht mal zu knapp.

Klaus Vater
Klaus Vater arbeitet als Kommunikationsberater und Autor. Er war stellvertretender Sprecher der Bundesregierung, zuvor Pressesprecher des Gesundheitsministeriums sowie des Arbeitsministeriums. Seinen Jugend-Kriminalroman "Sohn eines Dealers" wählte die Kinderjury des Literaturpreises "Emil" 2002 zum Kinderkrimi des Jahres.

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