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Die letzte große Konstante der Nachkriegsordnung zerbricht vor unseren Augen. Was die hegemoniale US Führerschaft von alten Kolonialimperien oder auch dem ehemaligen Sowjetblock unterscheidet, oder zumindest unterschied, war die Bereitschaft der USA, in eine Politik freiwilliger Gefolgschaft zu investieren. Staaten wurden im Regelfall nicht gezwungen sich der von den USA geprägten Ordnung unterzuordnen, sondern hatten die Freiheit, sich unter den Schutz der amerikanischer Weltmacht zu stellen. Die USA waren bereit, die Europäer als (Junior)-Partner bei der Sicherung einer von westlichen Interessen dominierten Weltordnung zu beteiligen. Die aktuelle Betonung liegt auf „war“.
Wenn auch nicht auf Augenhöhe so wurde doch Rücksicht auf die unterschiedlichen Interessen genommen. Kurz, es ging nicht um Unterordnung, sondern um Einordung in ein System, bei dem sich jeder Staat der Führungsrolle der USA bewusst war, aber eigene Interessen artikulieren konnte. Für die USA war die freiwilligen Kooperation mit schwächeren Nationen ein Teil der eigenen Stärke. Sie stützte sich nicht nur auf militärische und ökonomische Macht, sondern auch auf die Ausstrahlung einer demokratischen Wertegemeinschaft, die den Bündnispartnern Respekt und Mitsprache einräumte. Der Aufbau multilateraler Institutionen wie UNO, IWF, Weltbank, WHO, WTO und Nato nach dem zweiten Weltkrieg war eine diplomatische Meisterleistung der Supermacht USA.
Staaten wollen nicht der Willkür anderer Staaten ausgesetzt sein. Deshalb befürworten viele Staaten eine regelgebundene Weltordnung, selbst wenn die Regeln eine Schieflage zum Vorteil der großen und starken Länder haben. In der multilateralen Welt haben auch die Kleinen und ganz Kleinen eine Stimme. Ihre Stimmen haben wenig(er) Gewicht, aber sie können versuchen, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten Gehör zu verschaffen und im Verbund mit anderen Staaten Einfluss zu nehmen.
Die Unterstützung der Ukraine unter Joe Biden war der Versuch, dieser US Führerschaft der westlichen Welt auch im 21. Jahrhundert Geltung zu verschaffen. Die neue US Führung sieht dies anders. Jahrelang wurde die USA zu Recht kritisiert, bei den Menschenrechten mit zweierlei Maß zu messen und Doppelstandards anzulegen. Angesichts einer ‚Amerika First‘ Politik ohne Maß und Standard wird allerdings deutlich, wie wertvoll es ist, wenn den Mächtigen Demokratie und Menschenrechte zumindest nicht ‚scheißegal‘ sind. Das Völkerrecht und internationale Regeln – also die im Wesentlichen von den USA geschaffene Weltnachkriegsordnung – scheinen für den neuen US Präsidenten und seine Umgebung nicht handlungsleitend zu sein.
Europa hat als strategischer Partner an Wert und Gewicht verloren
Viele Experten raufen sich die Haare. Eigentlich müsse doch jeder halbwegs kluge Mensch einsehen, wieviel besser die alte bewährte Hegemonialpolitik auch für die USA selbst ist. Eine solche Sichtweise ist in der gestrigen Vorstellung grundlegender transatlantischer Gemeinsamkeiten befangen. Die Demütigung der politischen Führer westlichen Demokratien in Europa und Kanada wird verständlicher, wenn sie aus der Perspektive des innenpolitischen Kampfes in den USA betrachtet wird. Für Trump und seine republikanischen Freunde gibt es keinen Zweifel, dass die Europäer eher dem Lager der US-Demokraten und der Weltsicht von Joe Biden oder Barack Obama zuneigen als dem Trumpismus. Also jenen Kräften nahestehen, die Trump und seine Mitstreiter:innen mit aller Entschlossenheit in den USA bekämpfen. In einem Freund-Feind Schema werden die Verbündeten des alten Amerikas daher zum Gegner. Für Trump und die politisch Rechte in den USA sind die liberal westlichen Demokratien keine Freunde, sondern potentielle Feinde ihres innenpolitischen Kurses. Regimechange in diesen Ländern ist Teil der neuen Hegemonialstrategie, die plutokratische Machterweiterung mit kulturpolitischer Konterrevolution verbindet. Oder wie J.D. Vance in München sagte: die Brandmauer gegen die AfD ist gefährlicher als China oder Russland.
Neben dem politischen Wandel in den USA ist es aber auch der Bedeutungsverlust Europas, der den Stern der transatlantische Partnerschaft als Kernstück westlicher Hegemonie sinken lässt. Unter der Oberfläche institutioneller Kontinuität haben sich die Kräfteverhältnisse verschoben. Schon lange ist es ein Anachronismus, dass Frankreich und Großbritannien Veto-Mächte im Weltsicherheitsrat sind oder die Europäer und die USA jeweils die Chefs von IWF und Weltbank stellen.
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In den letzen 45 Jahren ist der Anteil der EU am Welt-GDP von 27% auf 14,5 % gesunken, während der von China von 2% auf 19% gewachsen ist. Während 1960 20% der Weltbevölkerung in Europa lebte, sind es heute noch 9%. Europa hat als strategischer Partner der USA im wahrsten Sinne des Wortes an Wert und Gewicht verloren. Die Sympathie aufstrebender Mächte des globalen Südens wie Indien, Indonesien, Südafrika oder Brasilien für eine multipolare statt einer multilateralen Welt hat auch damit zu tun, dass die etablierten Mächte der regelgebundenen Weltordnung sich als unwillig erweisen, den neuen Kräfteverhältnissen mit einer entsprechenden Regelveränderungen Rechnung zu tragen. So gelingt weder eine Reform des UN Sicherheitsrats, noch tragen die Verursacher der Klimakrise angemessen zu deren Bewältigung bei, noch waren die Industrieländer beispielsweise bereit, Entwicklungsländern im Rahmen der WTO bessere Möglichkeiten für Agrarexporte in die Industrieländer zu ermöglichen. Von einem Schuldenerlass für die überschuldeten Entwicklungsländer ganz zu schweigen
Merkantile Vorteile statt Freiheitskampf
Trumps Entscheidung, den Verhandlungsprozess mit Russland über die Köpfe der Ukraine und der Europäer hinweg zu beginnen, ist ein demonstrative Desavouierung Europas und ein Desaster für die Ukraine und für Wolodymyr Selenskyj. In den vergangen drei Jahren zeichnete sich die ukrainische Diplomatie durch Kompromisslosigkeit aus. Per Gesetz wurden Verhandlungen mit Putin untersagt, die ukrainischen Friedensvorschläge beinhalteten Maximalforderungen, die die russische Niederlage zur Voraussetzung hatten, Verbündete wurden öffentlich kritisiert, ausgeladen und beleidigt, wenn sie der ukrainischen Forderung nach mehr Waffen nicht ausreichend nachkamen. Man forderte Hilfe, weil mit ukrainischem Blut auch die Freiheit des Westens verteidigt werde. Unisono war von westlichen Führern zu hören, über Friedensverhandlungen entscheide allein die Ukraine, die territoriale Integrität der Ukraine sei unverhandelbar, die Nato-Mitgliedschaft komme und jeder Waffenstillstand auf der Basis der militärischen Realitäten sei eine nicht hinnehmbare Belohnung für Putin. Trump macht nun deutlich, dass darüber, was hinnehmbar ist und was nicht, derjenige entscheidet, der die Macht hat.
Donald Trump: »Stellen Sie sich vor, ein bescheiden erfolgreicher Komiker, Wolodymyr Selenskyj, hat die Vereinigten Staaten von Amerika dazu überredet, 350 Milliarden Dollar auszugeben, um in einen Krieg einzutreten, der nicht gewonnen werden konnte, der nie hätte beginnen müssen, aber ein Krieg, den er ohne die USA und ›TRUMP‹ nie beenden kann«.
Mit der Wahl von Trump sah sich Selenskyj gezwungen, eine Position nach der anderen zu räumen. Zuerst wurde anerkannt, dass derzeit die besetzen Gebiete militärisch nicht befreit werden können, dann wurden an Stelle einer Natomitgliedschaft zumindest starke Sicherheitsgarantien unter Einschluss der US-Amerikaner gefordert, als nächstes folgte die Bereitschaft, auch mit Putin verhandeln zu können. Statt gemeinsam mit den USA für die Freiheit zu kämpfen, wurde Trump angeboten, dass die verblutende Ukraine die amerikanische Waffenhilfe mit ihren Bodenschätzen bezahlt. Niemand sollte Selenskyj hier einen Vorwurf machen. Der Versuch, die Amerikaner gnädig zu stimmen, ist für ihn alternativlos. Wie sehr die USA vom globalem Freiheitskampf auf merkantile Vorteile umschalten, wird daran deutlich, dass die USA 50% der ukrainischen Bodenschätze für die bereits geleistete und zukünftige Militärhilfe fordern und nicht bereit sind, diesen Rohstoffdeal mit Sicherheitsgarantien für die Ukraine zu verknüpfen.
Überlegungen, ob es in den vergangenen drei Jahren mit einer anderen ukrainischen Strategie möglich gewesen wäre, einen Waffenstillstand unter günstigeren Bedingungen zu erreichen, sind müßig. Jetzt befindet sich die Ukraine in einer verzweifelten Situation der Schwäche und Trump weiß, dass die Ukraine letztendlich keine Alternative hat, als das zu akzeptieren, was die USA mit Russland vereinbaren. Keine Verhandlungen über die Ukraine ohne die Ukraine und keine europäischen Friedenstruppen ohne europäische Beteiligung an den Verhandlungen erschien vor Tagen noch selbstverständlich Voller Berechtigung wird dies von Selenskyj und Europa weiterhin gefordert, aber es lässt den Hegemon unbeeindruckt, was wiederum Putin freut.
Eine Herkulesaufgabe
Der brüske Ausschluss Europas aus den Verhandlungen bei gleichzeitiger Aufforderung an die USA zu melden, wieviel Waffen, Truppen und Ressourcen einzelne europäische Staaten zur Sicherung des Waffenstillstands bereitstellen können, demonstriert die Herabstufung von Juniorpartnern zu Hilfsvölkern. Die militärische Impotenz der Europäer zeigt jetzt auch überdeutlich, wie sehr die Nato ein US-Hegemonialprojekt ist: alle tragen die finanziellen Lasten, aber niemand außer den USA verfügt über eine eigenständig handlungsfähige Armee, weil die Schlüsseltechnologien in amerikanischer Hand sind.
Anders als China, Russland oder die USA ist Europa als monolithische Großmacht undenkbar. Europa ist nur multilateral zukunftsfähig. Als erfolgreichstes Beispiel einer überstaatlichen Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft liegt es quer zu den Neo-Nationalismen der anderen mächtigen Staaten. Die EU ist der komplexe multilaterale Gegenentwurf zum Recht des Stärkeren. Aus chinesischer, amerikanischer und russischer Sicht ist Europa das liberale Gegenmodell zu Parteidiktatur, Plutokratie oder Kleptokratie. Europa ist unter den großen politischen Kräften das attraktivste und fragilste. Daher sind die Konkurrenten sich auch einig in dem Wunsch, Europa zu schwächen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die rechtsnationalen Kräfte in Europa gleichzeitig von Trump und Putin umworben werden.
Für Europa hängt jetzt alles von Deutschland ab. Eine europäische Antwort auf die neue Lage kann es ohne Deutschland nicht geben und selbst bei bestem deutschen Wollen bleibt es eine Herkulesaufgabe. Europäische Staaten wägen ab, ob sie in ein gemeinsames Europa investieren sollen, oder ob nationale Alleingänge mehr Vorteile bieten. Aus amerikanischer Sicht kann Europa maximal geschwächt werden, wenn Deutschland und Frankreich bestraft und andere Europäer belohnt werden und sich deshalb nicht in europäische Solidarität einbinden lassen. Vorstellbar sind beispielsweise maximale Zölle auf deutsche Autos bei gleichzeitige Zollbefreiung für Importe aus Polen, Italien und Ungarn.
Vor allem Deutschland muss sich entscheiden, ob es in ein gemeinsames Europa investieren will: ob es um eine eigenständige europäische Machtposition kämpfen will oder ob es versucht, eine deutsche Nische in der neuen geopolitischen Weltlage zu finden.
Wenn der freiwillige Weg in die Einflusslosigkeit vermieden werden soll, dann muss Deutschland eine großzügige, einsatzfreudige, bescheidene und partnerschaftliche Führungsmacht sein. Dazu gehören
- gemeinsame Finanzierung und gemeinsame Schulden für eine europäischen Industriepolitik und europäische Rüstungsanstrengungen,
- die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen in der EU,
- die teilweise Übertragung nationaler Souveränität an Europa in der Außen- und Verteidigungspolitik,
- Stärkung eines europäischen Länderfinanzausgleichs,
- eine Vereinheitlichung in der Steuerpolitik und gemeinsame Sozialstandards. Und dazu gehört die Bereitschaft sich an einem Friedenseinsatz zur Überwachung und Einhaltung eines möglichen Waffenstillstandes auch militärisch zu beteiligen.
- Darüber hinaus bedarf es aus demographischen und wirtschaftlichen Gründen einer gelingenden Migrations- und Integrationspolitik. Die gezielte Anwerbung russischer Staatsbürger:innen unter 35 mit Universitätsabschluss wäre dabei übrigens eine attraktive Zielgruppe und würde nicht nur Europa nutzen, sondern Russland möglicherweise schwerer treffen als das doch eher löchrige Sanktionsregime.
Deutscher Nationalismus oder Mobilisierung für Europa
Die erforderliche umfassende Vertiefung, ja Transformation Europas kann nicht in Brüsseler Hinterzimmern bewerkstelligt werden, während auf den Plätzen nationale Ressentiments triumphieren. Es bedarf der öffentlichen Mobilisierung für Europa als Bastion der Freiheit, des Friedens, der sozialen Sicherheit und des demokratischen Miteinanders. Dafür braucht es kluge Politik, Bereitschaft zum Kompromiss und charismatischer Führung, die Begeisterung für das Notwendige wecken kann. Leider erweisen sich die Konservativen bei der Abwehr anti-europäischer Nationalisten auf der europäischen Ebene als ähnlich unsichere Kantonisten wie in vielen Mitgliedsstaaten. Die Entschlossenheit eines Friedrich Merz, am Tag eins seiner Kanzlerschaft die Grenzen um Deutschland hochziehen zu wollen und alles zu tun, um gemeinsame EU-Schulden zu verhindern, lassen eher deutschen Nationalismus als europäische Führung befürchten. Schaut man sich unter europäischen Führern um, wünscht man sich eine Kombination von Macrons Fähigkeit zur großen Rede, Scholzens technischer Nüchternheit, Sanchez progressiver Politik, Tusks Verteidigungsbereitschaft und Selenskyjs Entschlossenheit.
Die Bürger:innen für ein Europa der Menschenrechte, der Demokratie, der Freiheit, der sozialen Gerechtigkeit und – ja auch – der Wehrhaftigkeit zu mobilisieren, ist das Gebot der Stunde. Wie wäre es für den Anfang mit einer neuen breiten Debatte für eine europäischen Verfassung, einer gemeinsamen Euroanleihe zur Finanzierung europäischer Infrastruktur und gemeinsamer Rüstungskapazitäten, die Förderung eines freiwilligen sozialen Jahres im europäischen Ausland, und einem Europatag als gesetzlichem Feiertag in allen EU Mitgliedsstaaten und Beitrittsländern, an dem Menschen von Lissabon bis Charkiw sich auf allen Plätzen Europas um fünf vor zwölf versammeln?
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Siehe auf Bruchstücke auch das Interview mit Andreas Wittkowsky
„Lamentos und Empörung ersetzen keine Sicherheitspolitik“
Den Schlussfolgerungen und Forderungen von Frank Hoffer stimme ich uneingeschränkt zu. Ohne den erfolgreichen Versuch, für eine stärkere Integration und eine gemeinsame Führungsrolle Europa im Sinne von liberaler Demokratie und universalen Menschenrechten zu begeistern, hat Europa keine Zukunft. Bleibt die EU auf dem jetzigen Niveau, wird sie schrittweise von innen ausgehöhlt und zerfallen. Die von Hoffer skizzierte Rolle Deutschlands in diesem Prozess wahrzunehmen, wäre die wichtigste Aufgabe der neuen Regierung. Merz wäre gut geraten, wenn er sich in der Tradition Adenauers und Kohls, die in ihrer Zeit jeweils Wichtiges für Europa geleistet haben, für ein gestärktes, demokratisches und soziales Europa einsetzt. Aber sind die Chancen dafür nicht fast bei Null?
Eine kluge und zutreffende Analyse der derzeitigen Lage und der Motive der Handelnden, verbunden mit praktischen Vorschlägen! Gehört zum Besten, was z. Zt. zum Thema zu lesen ist.
In einem Punkt stimme ich nicht zu. Die derzeitige Aufrüstung in Europa – inkl. ihrer besseren Koordinierung – ist am Ende nicht zielführend. Krieg in Europa ist unter keinen Umständen eine Option, weil im Kriegsfall alles, was es zu verteidigen gälte nicht mehr existierte. Aufrüstung jedoch mit dem Ziel, weltweit als militärische Groß- oder Mittelmacht – eigenständig oder im Fahrwasser der USA – „mitzuspielen“, kann unmöglich die Zukunft Europas darstellen.
Entspannungspolitik mit dem Ziel einer gesamt-europäischen Sicherheitsordnung und friedlicher Koexistenz scheint mir der notwendig zu gehende Weg – auch wenn man es mit Autokraten zu tun hat.