
Mir kommt´s so vor, als habe sich eine große, massige, auftürmende Wolke vor das Ergebnis der Bundestagswahl geschoben. Sonne zeitweise weg. Wetterleuchten. Aufkommender Wind. Man beginnt zu frösteln. Ob das Wetter umschlägt, aus der Wolke Gewitter auf uns hinunterschlagen werden oder ob anderes geschieht, ist nicht zu erkennen. Man schließt die Fenster, kurbelt die Jalousie zurück. Jedenfalls verschattet dieses Gebilde mit seinen Eventualitäten das Ergebnis der Bundestagswahl. Obgleich diese Wahl unser Gemeinwesen durchschüttelt.
1 Die Wahl vom 23. Februar hinterlässt ein auf schlimme Weise zweigeteiltes Land: In den „alten“ Ländern der Bundesrepublik haben sich seit längerem bestehende Parteien weitgehend durchgesetzt. In den nach der Vereinigung gebildeten Ländern der Bundesrepublik herrscht Blau vor. Blau steht für die AfD. In drei der fünf neuen Länder – in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen – gilt die AfD als gesichert rechtsextremistisch. Das Bundesamt für Verfassungsschutz erklärt, was es mit dieser Einordnung auf sich hat:
„Rechtsextremisten unterstellen, dass die Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder Nation über den tatsächlichen Wert eines Menschen entscheide. Dieses Werteverständnis konterkariert zentrale Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und steht damit in einem fundamentalen Widerspruch zum Grundgesetz.“

Die Farbe des Passes, Herkunft, auch Religion und die Hautfarbe – die entscheiden nach Überzeugung der AfD- Funktionäre anstatt der Gemeinsamkeiten, Würde und Menschenrechte. Eine Ebenbild-Anschauung, wie sie der französische Philosoph Emmanuel Lévinas formuliert hat, dessen Familie im Holocaust umkam, ist Gegenteil dessen, was die AfD-„Denker“ propagieren. Wer einen noch schärferen Blick als das Bundesamt auf die AfD werfen möchte, dem ist das Buch: „Niemand kann sagen, er hätte es nicht gewusst“ von Marcus Bensmann ( Verlag Galiani, Berlin 2024, 254 Seiten. 22 Euro) zu empfehlen.
Die Frage lautet dementsprechend: Was hat in Deutschland zehn Millionen Wahlberechtigte am 23. Februar dazu gebracht, sowohl mit der Erst- als auch mit der Zweitstimme diese in großen Teilen gegen Grundgesetz, Rechts- und Sozialstaat eingestellte und umtriebige Partei zu wählen. Wer beispielsweise alle in Thüringen abgegebenen Stimmzettel addiert, der stellt fest: Linke, CDU und SPD hatten zusammen 50 000 Stimmen mehr als die AfD mit ihren 510 000 „Befürwortenden“. Nur 50 000. 20 000 weniger als der Bonner Stadtteil Beuel Einwohner hat. In Sachsen-Anhalt sieht es ähnlich aus.
Ich höre und lese, man habe AfD gewählt, weil es „zu viele Ausländer“ gebe. Dann wird gesagt: Die Regierenden „hören nicht zu“. Die machten, was sie wollten, sie wüssten nicht, „was heute los ist“. Alles und jedes sei zu teuer geworden. Die AfD will eine neue – alte – nationale Währung statt des Euro. Man regte einen Abbau der EU an. In Thüringen forderte deren Spitzenmann, nur noch „gesunde“ Kinder in „gesunden“ Schulen zu unterrichten. Generelle Linie ist: Leistungen rauf, Steuern runter. Bezahlt wird…. eigentlich nicht, denn dazu gibt’s keine Antwort.
In der TAZ las ich aus einem von Thomas Gerlach und Konrad Litschko, verfertigten Text, in Sachsen- Anhalt habe ein AfD-Mann in einem Wahlkreis das Mandat bekommen, der wie ein „Phantom“ sei, das nicht im Wahlkreis wohne und vom gesagt werde, der habe sich im Wahlkreis noch nie blicken lassen (Wochentaz vom 1. bis 6. März Seite 5: „In der braunen Zone“). Es ist so, als könne die AfD Manna regnen lassen, wenn im Dorf der Bäcker und die Kneipe zugemacht haben. Und einer wie der Kanzler müsse abgestraft werden, weil er es nicht geschafft habe, öfter einen Bus vorbei zu schicken. Die AfD hat Millionen zum Kreuz veranlasst, die verwirrt sind, die es gern ganz einfach haben und die meinen, zu kurz zu kommen.
Erinnern Sie sich noch an den sogenannten „Cargo Kult“? Nein? Der ging so: Einwohner-Gemeinschaften auf den Inselketten in der Südsee lernten Leute kennen, die anders gekleidet waren, die in seltsamen Sprachen redeten, die auf Gegenstände einredeten, worauf unter großem Krach große „Vögel“ landeten, aus denen noch mehr Leute ausstiegen, die dann wieder aufstiegen. Vom Meer her tauchten riesige „Boote“ auf, die auch noch stinkenden Rauch auspusteten. Man glaubte: Wenn wir uns so verhalten, sind die Ahnen besänftigt und wir kriegen all das Zeugs, was die haben. Cargo Kult eben – irgendwie wieder erstanden zwischen Elbe und Oder.
Ohne Filter gesagt: Quatsch
2 Manche wussten bereits unmittelbar nach der Wahl, wie es in der Bundesrepublik laufen werde: Wolfgang Lieb beispielsweise platzierte im Blog der Republik sowie im Beueler Extradienst einen Beitrag, in dem zu lesen ist: Es gebe nun eine „national-konservative Drucksituation von mehr als der Hälfte der Wählerinnen und Wähler“. Er stellt also die Unionsparteien in einer seiner Definition nach „national-konservativen Drucksituation“ schlicht neben die AfD. Ohne Filter gesagt: Quatsch. Der Schrecken der Bundestagswahl ist vielmehr derart in etablierte Parteien gefahren, dass sie nun politische Vorhaben vereinbaren wollen, die vor wenigen Tagen noch unvorstellbar waren. Natürlich haben die Unberechenbarkeit der Trump-Politik, Europas Zukunft, der Krieg in der Ukraine dabei wesentlichen Einfluss gehabt. Aber nicht allein.
Das Erbe der Bundestagswahl 2025 besteht nämlich weiterhin aus zehn Millionen Wählerinnen und Wählern der AfD. Manche werden wieder abspringen, weil ihnen von vernünftigen Leuten gut zugeredet wurde. Andere werden sich in der Zukunft besinnen. Aber viele – Millionen – werden erst dann wieder von der AfD lassen, wenn sie deren Politik-Resultate am eigenen Leib verspüren. Wenn diese Partei also in die Lage versetzt wurde, ihren Blödsinn in Gesetze und Verordnungen zu gießen, die gelten sollen. Also zu spät. Manchen aufmerksamen Beobachtern scheint das nicht bewusst zu sein.
3 Es geht mir übrigens hier nicht darum, schuldig zu sprechen oder rein zu waschen. Wir alle kennen die Voraussetzungen/Bedingungen vor Entscheidungen nicht hundertprozentig genau; weil wir stets auch eingefärbte mediale Wertungen im Kopf haben, auf persönliche Informationen angewiesen sind, die nolens volens subjektiver Natur sind. Wir arbeiten journalistisch, dazu sollten wir mit unseren Ironien, Sottisen, Vorlieben und unserer unvermeidlichen Voreingenommenheit stehen. Wir arbeiten in der Regel nicht aus und mit ergiebigen Quellen und Vergleichen wie Historikerinnen oder Historiker.

SPD: Unter 20 gibt es auch schöne Zahlen
4 Ein weiteres erschreckendes Wahlresultat ist das Abschneiden der Sozialdemokratie. Sie erlitt eine barbarische Niederlage. Die ironische, vor Jahrzehnten Willy Brandt zugeschriebene Bemerkung: Unter 20 gebe es ja auch noch schöne Zahlen, hat sich – wie soll ich schreiben: Erfüllt, bewahrheitet? Das Ergebnis wird zurzeit gern auf drei Jahre Ampel-Koalition zurückgeführt. Nur zur Erinnerung: Der Prozentsatz der Arbeiter unter den Wählerinnen und Wählern der SPD fiel von 44 v.H. 2000 auf 16 Prozent 2025. Nur noch 17 Prozent waren es bereits 2015. Das ist nicht mit einem verschlossenen Kanzler-Gesicht zu erklären, der irgendwie trippelnd wirkt, wenn er daherkommt. Tatsächlich haben sich soziologische, demografische und politische Prozesse seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in der SPD abgespielt, die zum gegenwärtigen Ergebnis führten
In der Partei des Olaf Scholz war es so: Eine durchaus spannende Balance ging zu Beginn der 1980er Jahre verloren zwischen den durch Beruf, etwa als Facharbeiter, durch Milieu, durch gewerkschaftliche und Betriebsratstätigkeit definierten Mitgliedern auf der einen Seite und Mitgliedern mit einem ausgeprägt bildungsbürgerlichen, weniger kollektiven und milieubedingten Hintergrund auf der anderen Seite. In den etablierten Parteien, also auch in der SPD, löste damals eine jüngere Generation die Generation ab, die noch durch Nazizeit, Krieg, Emigration, durch Trümmerlandschaften und Armut mitgeprägt war. Mit Rudolf Dreßler und Jürgen Schmude sind unlängst zwei aus dieser Generation verstorben.
Die Entwicklung ab den achtziger Jahren hatte eine Reihe von Konsequenzen: Es kamen neue Themen und Typen hinzu. Zum „Malocher“ auch der „Waldläufer“. Zur Betriebsrätin die Sozialarbeiterin und die Soziologin. Schon Mitte der achtziger Jahre arbeitete die Hälfte der SPD-Mitglieder mit Parteiamt und Mandat im öffentlichen Dienst: Eine Revolution mit Birkenstock an den Füßen auf dem Weg in die neue Zeit. Debatten über Klimaschutz, gesündere Luft und Gleichheit in allen Gruppen, Schichten und Naturen wurden entzündet. Das tat der SPD gut.
Andere, traditionelle Themen verloren aber an Bedeutung. Das Thema der Beteiligung am wachsenden Produktivvermögen wurde beiseite gelegt. Ein großer Fehler. Mit einer Beteiligung am zuwachsenden Produktivvermögen hätten Renten- und Pflegesystem des Sozialstaats heute und während der nächsten Jahrzehnte weniger Schwierigkeiten. Die Mitbestimmung verlor an Gewicht in der SPD, freilich objektiv nicht an Relevanz. Noch ein großer Fehler. Lohn- und Tariffragen verloren politisch an Bedeutung. Erst gegen Ende der Ministerzeit Walter Riesters begannen einige in der SPD, sich intensiver mit dem Thema Mindestlohn zu beschäftigen. Bis dato hieß es: Tariflohn ist Mindestlohn. Und wer daran rüttelte: Wehe dir! Man riskierte Acht und Bann. Das war so trotz eines voranschreitenden Verlusts der Tarifbindung.
Genusserweiternde Gesetze
5 Es fielen nicht nur Themen weg. Auch der „Werte-Kompass“ in der Abteilung SPD der Working Class der Republik litt. Bis heute zu konstatierende, sozio-kulturelle „Disparitäten“ breiteten sich aus. Bis in die achtziger Jahre hinein banden individuelle Leistung und der daraus resultierende persönliche Stolz auf die beruflichen Fähigkeiten viele zusammen. Der Stolz war ein einigendes Band. Wann haben Sie, liebe Leserin, lieber Leser das Wort Stolz zuletzt gehört, gemünzt auf kollektive Leistungen der Lohnabhängigen?
Zwar wird Leistung, etwa die des heute stellvertretend immer wieder genannten „Dachdeckers“, der Krankenschwester oder der Altenpflegerin durchaus gewürdigt; aber immer wieder und wieder mit einem paternalistischen Unterton: Wir vergessen euch nicht! Wir sind für euch da! Wir sorgen auch für euch! Paternalismus war schon in der alten Arbeiterklasse nicht besonders identitätsstiftend. Daran hat sich wenig geändert.
Die Maxime des Apostel Paulus aus dem Galaterbrief – ein jeder trage des Anderen Last – ist gut und richtig. Aber in Verbindung mit dem Solidaritäts-Verständnis in der Working Class taugt diese Maxime wenig. Den Stolz auf Leistung als Bedingung für gelingende Existenz kennen offenbar viele leider nicht mehr.
Es ist heute so, dass genusserweiternde Gesetze wie die „Befreiung“ des Cannabis aus dem Betäubungsmittelgesetz große Teile der SPD zum Jubeln bringen. Als zu Beginn der Ampel Arbeitsminister Heil die Lage der Beschäftigten jenseits des Minijobs (im Midi-job-Bereich bis damals 1800 €) verbesserte, war der Jubel vergleichsweise leise.
Die verbliebenen 16 Prozent für die Sozialdemokratie sind durch einen trockenen Kanzler-Typus nicht zu erklären. Sie sind verständlich, wenn man sich vor Augen hält, dass die Grunderfahrung in der heutigen Working Class die Ersetzbarkeit ist. Als die Dinge der Sozialdemokratie noch halbwegs in der Balance waren, sprach der damalige große Vorsitzende von der Notwendigkeit, „Compassion“ zu zeigen. Also Mitgefühl für den anderen und dies in Kombination mit einem warmherzigen Verständnis. Die SPD wird also die „Durchschnittstemperatur“ in ihrem Bereich erhöhen müssen. Zwar friert Mensch nicht, während er Doppel-Wumms und Extrahaushalte und 15 € Mindestlohn diskutiert; aber wirklich wohl ist ihm nicht und angenommen weiß er sich auch nicht.
Wie erwähnt: Ob das Wetter umschlägt, weiß man nicht. Ob ein Gewitter heranzieht? Auch nicht auszuschließen. Also bleiben die Fenster geschlossen und die Jalousie eingerollt. Bis auf Weiteres.
Klaus Vater hat in seinem Blog-Beitrag auf einen Text von mir im Blog der Republik verwiesen und mir untergeschoben, dass ich CDU/CSU „schlicht neben die AfD“ stelle. In meinem Text (https://www.blog-der-republik.de/niedergang-oder-erneuerung-der-spd/) habe ich die AfD als „national-autoritäre und in weiten Teilen rechtsextreme, ja neonazistische Partei“ beschrieben. Ich habe dann darauf hingewiesen, dass „für den Fall, dass sich das BSW nicht noch in denBundestag klagt, und wenn Merz bei seinem Wort bleiben sollte, sich nicht von der AfD zum Bundeskanzler wählen zu lassen, keine andere Koalition als eine kleine „Große Koalition“ mit der SPD“ bleibt. Dabei werde der Druck vor allem von Seiten ost-deutscher CDU-Politiker, die offen für eine Zusammenarbeit mit der AfD seien, zunehmen. In diesem Kontext habe ich geschrieben, dass „angesichts dieser eher national-konservativen Drucksituation von mehr als der Hälfte der Wählerinnen und Wähler…die Sozialdemokraten…mehr Kompromisse machen müssen als in der gescheiterten Ampel-Regierung“. Ich frage Klaus Vater, ob ich damit angesichts des Sondierungspapiers und den Entscheidungen zur Aufnahme von Koalitionsgesprächen in meinem Text einen Tag nach der Bundestagswahl nicht recht hatte? Trifft sein Vorwurf „Quatsch“ nicht eher ihn selbst?