
Wer Atomwaffen hat, kann andere Länder überfallen. Die Nato bombardierte Belgrad, um die Kosovaren vor Milosevic zu schützen. Dass Putin nicht mit der gleichen Härte begegnet wird, liegt einzig und allein daran, dass er über Atomwaffen verfügt und es sich daher verbietet, Moskau oder St. Petersburg zu bombardieren. Bei dem Angriff gegen Ukraine dienen die Atomwaffen nicht länger als bedrohliche, aber nichtsdestotrotz friedenssichernde Abschreckung, sondern als ‚Schutzschirm‘ für einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Der Krieg wird zwar weiterhin konventionell geführt, aber wegen der russischen Atomwaffen liefern die Verbündeten nicht alle Waffen, die die Ukraine gerne hätte. Die atomare Abschreckung verhindert den Krieg zwischen Atommächten, den Überfall auf Länder ohne atomaren Schutz dagegen nicht.
Die Beistandspflicht nach Artikel 5 des Nato-Vertrages wurde bisher so interpretiert, dass alle Nato-Mitgliedsstaaten durch die US Atomwaffen geschützt sind, weil ein Angriff auf einen beliebigen NATO-Staat den Kriegsfall mit der Atommacht USA auslöst. Artikel 5 ist daher nicht nur eine Vereinbarung, um die Russen abzuschrecken, sondern auch eine Beistandsgarantie, die die weitere Verbreitung von Nuklearwaffen verhindern soll. Vor allem nach den Erfahrungen von Weltkrieg I und II waren sich die westlichen Siegermächte einig, dass es einer Sicherheitsarchitektur bedürfe, die eine eigenständige deutsche Armee oder gar ein deutsche Atombombe obsolet macht bzw. verhindert. Oder in den Worten des ersten Nato-Generalsekretärs, Lord Ismay, Aufgabe der Nato sei es: to „ keep the Soviet Union out, the Americans in and the Germans down.“
Das tiefsitzende Unbehagen, nicht nur der Russen, über ein mögliches militärisches und nukleares Erstarken des wiedervereinten Deutschland lässt sich im Zwei-plus-Vier-Vertrag nachlesen: „Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihren Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen.“
Ready to trade Paris for Berlin
Ob allerdings das amerikanische Schutzversprechen im Ernstfall eingehalten wird, beantwortet sich letztendlich nur, wenn der Ernstfall eintritt. Charles de Gaulle hatte seine Zweifel und stellte Kennedy die ultimative Frage “whether the US would be ready to trade New York for Paris” und beantwortete sie selbst mit dem Aufbau der Force de Frappe.
Zwar sind die USA bisher nicht aus der Nato ausgetreten, aber die Zweifel de Gaulles sind unter der Trump-Regierung die Zweifel aller Europäer. Macron bietet nun ergänzend – oder sogar alternativ – die Ausweitung des französischen Nuklearschutzes an, ohne jedoch anderen Staaten eine Beteiligung an der Einsatzentscheidung einräumen zu wollen. Aber ist Frankreich ‘ready to trade Paris for Berlin or Warsaw’? Donald Tusk hat seine Zweifel und schließt eine polnische Atombombe nicht aus: „We must be aware that Poland must reach for the most modern capabilities also related to nuclear weapons and modern unconventional weapons … this is a race for security, not for war.“
Was aber bedeutet es für Deutschland, wenn ein Land, dass auch mit den Stimmen von Donald Tusks Bürgerplattform im polnischen Parlament Reparationsforderungen von 1,3 Billionen Euro an Deutschland beschlossen hat, diesen Forderungen mit Atomwaffen Nachdruck verleihen könnte? Können andererseits Deutschlands Nachbarn wirklich eine mächtige Bundeswehr wollen, wenn möglicherweise in vier Jahren die AfD mit in der Regierung sitzt? Und was bedeutet ein französischer Schutzschirm, wenn Marine Le Pen über den roten Knopf verfügt?
Verteidigungsfähigkeit statt Kriegstüchtigkeit
Die trumpsche Wende droht zu einer wachsenden Zahl von Atommächten zu führen. Eine von einigen als Alternative ins Gespräch gebrachte gemeinsame europäische Atombombe bleibt dagegen eine wirklichkeitsfremde Fiktion, solange es keine Einigkeit gibt, wer im Ausnahmezustand den Auslöser betätigt.
Sobald ein weiteres Nato-Land meint, aufgrund des fehlenden Vertrauens in Artikel 5 eine eigene Atomwaffe anstreben zu müssen, werden andere Länder innerhalb und außerhalb der Nato dem folgen. Dies zu verhindern, ist ein Gebot internationaler Sicherheitspolitik. Dabei ist es müßig zu beklagen, dass Europa heute nicht in dieser gefährlichen Lage wäre, wenn man gestern klüger gewesen wäre. Vielmehr geht es jetzt darum, entschlossen zu handeln, um nicht in eine angstgetriebene Eskalationsspirale nuklearer Proliferation zu geraten.
Der erste Schritt hierfür ist eine Bewertung des russischen Bedrohungs- und des europäischer Verteidigungspotentials. Fünfhundert Millionen Europäer mit der zehnfachen Wirtschafts- und Industriekapazität Russlands müssen sich gegen die Bedrohung vor einer Armee schützen, die seit drei Jahren versucht, die Ukraine mit einer Bevölkerung von nur noch 30 Millionen und einem Zehntel des russischen BIP niederzuringen. Da ein atomarer Erstschlag in einem Angriffskrieg unwahrscheinlich ist, bedarf es vor allem einer abschreckungsfähigen konventionellen Verteidigungsfähigkeit, um tatsächliche und potentielle zukünftige russische Expansionsgelüste zurückzuweisen. Dies schließt eine Unterstützung der Ukraine ein, zumal die ukrainische Armee auch nach dem von den USA angestrebten Waffenstillstand einen wichtigen Beitrag zur friedenssichernden Abschreckung leisten kann. Soweit eine Unterscheidung militärtechnisch sinnvoll möglich ist, sollte der Schwerpunkt der Aufrüstung, da es um Abschreckung geht, auf Verteidigungsfähigkeit statt auf Kriegstüchtigkeit liegen.
Angesicht der massiven Überlegenheit an Industriekapazität und Bevölkerung ist die mantrahaft wiederholte Aussage, Russland könne in zwei bis drei Jahren über die ausreichende militärische Stärke verfügen, europäische Nato-Staaten zu überfallen, eine Dramatisierung, die möglicherweise nicht nur von der Faktenlage, sondern auch von militärisch-industriellen Interessen oder Panik geleitet ist. Leitmotiv der Debatte über Aufrüstung und massive Erhöhung von Militäretats muss die Frage sein, was für eine effektive und hinreichende Abschreckung benötigt wird, statt sich bei der Bereitstellung von Rüstungsmilliarden zu überbieten. Braucht eine moderne Armee Panzer und Flugzeuge mit Stückkosten von 5 bzw. 100 Millionen Euro oder besser Tausende von Kampfdrohnen? Wieso gibt es trotz jährlicher Rüstungsausgaben von 50 Milliarden keine funktionsfähige Bundeswehr? Rüstungskonzerne wollen verkaufen, was sie mit dem größten Gewinn verkaufen können, aber was gut für Rheinmetall ist, ist nicht notwendigerweise das Beste für die Bundeswehr.
Eine realpolitische Zerreißprobe für die Linke
Solche Fragen zu stellen, heißt nicht, sich notwendigen höheren Verteidigungsausgaben zu verweigern, sondern zu verlangen, dass der Zweck die Mittel begründet. Dass die Schuldenbremse nicht nur ökonomisch unsinnig war und ist, sondern ein veritables Sicherheitsrisiko für Deutschland darstellt, ist dabei offensichtlich. Sie jetzt allerdings mit dem abgewählten Parlament abzuschaffen, ohne vorher zumindest das Gespräch nicht nur mit den Grünen, sondern auch der Linken gesucht zu haben, ist fatal. Ernst wenn der Versuch scheitert, noch in der alten Legislaturperiode mit der zukünftigen demokratischen Zweidrittelmehrheit im Parlament einen Kompromiss zu finden, ergibt sich überhaupt eine Rechtfertigung, das Grundgesetz noch mit der alten Parlamentsmehrheit zu ändern.
Die im öffentlichen Diskurs permanent wiederholte Auffassung, dass AfD und Linke gemeinsam eine Sperrminorität haben werden, ist die Gleichsetzung einer linksdemokratischen Partei mit einer rechtsradikalen Truppe von Lügnern, Verschwörungsdemagogen und Demokratieverächtern, die sich weder Sozialdemokraten noch Grüne, die ja beide auf Landesebene mit der Linken koalieren, zu eigen machen sollten. Für die Linke wäre ein solches Gesprächsangebot möglicherweise eine realpolitische Zerreißprobe. Ein solcher Stresstest dürfte unmittelbar klären, ob die neue Linke letztendlich politikfähiger als die alte sein will.
Das Gebot hinreichend verteidigungsfähig sein zu müssen, entbindet nicht von der Notwendigkeit nach Wegen zu suchen, die die Kriegsgefahr zwischen Russland und Europa vermindern. Wie Gespräche mit Russland auf der Grundlage vollständigen gegenseitigen Misstrauens begonnen werden können, ist schwer vorstellbar. Aber solche Gespräche von vornherein für unmöglich zu erklären, während Russland und die USA in Saudi-Arabien über die Ukraine und Europa verhandeln, würde bedeuten, sich zum Zaungast zu machen, wenn über die eigene Zukunft verhandelt wird. Durch antagonistische Kooperation zwischen verfeindeten Ländern Kriegsgefahren zu reduzieren, ohne Appeasement zu riskieren, ist die hohe Kunst realpolitischer Diplomatie. Sie ist nötig, damit Aufrüstung Sicherheit schafft, statt in einem Rüstungswettlauf zu eskalieren.