
„Das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit unseres Staates schwindet, und damit schwindet auch das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Demokratie.“ Mit diesem wuchtigen Satz gingen Peer Steinbrück, Thomas de Mazière, Andreas Voßkuhle und Julia Jäkel – genau eine Woche, bevor der Bundestag mit verfassungsändernder Mehrheit den Weg zu milliardenschweren, historisch hohen Krediten für Verteidigung, Infrastruktur und Klimaschutz frei gemacht hat – an die Öffentlichkeit und stellten 30 Thesen „für einen handlungsfähigen Staat“ vor.
Das Urteil des ehemaligen Finanzministers Steinbrück (SPD), des ehemaligen Chefs des Bundeskanzleramts und Innenministers de Mazière (CDU), des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Voßkuhle und der einflussreichen Medien-Unternehmerin Jäkel, das Urteil der vier, die jahrzehntelang Gesellschaft und Politik mitgeprägt und mitgestaltet haben, fällt vernichtend aus.
„Wir sind nicht wirklich verteidigungsfähig. Unsere Infrastruktur: marode. Die sicher geglaubte Versorgung mit bezahlbarer Energie verschwunden. Die Folgen des Klimawandels nicht beherzt genug angepackt. Bund und Länder: verhakt. Die Digitalisierung: verschleppt“.
Symbol der Reformunfähigkeit seien „die höchst komplizierten und in sich verhedderten Strukturen zwischen Bund, Ländern und Kommunen sowie ein siloartig gewachsener Behördenaufbau mit der Tendenz zur gegenseitigen Abschottung“, schreiben die vier ohne einen Funken Selbstkritik: Steinbrück war nicht nur Bundesfinanzminister, sondern auch Ministerpräsident des größten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen; für die Ergebnisse der Föderalismuskommission I und II vor zwanzig Jahren trägt Thomas de Mazière eine maßgebliche Verantwortung. Die beiden haben die politischen Weichen mit dafür gestellt, was sie jetzt so wortmächtig als „Wirrwarr“ (S. 21) beklagen: Das Verbot einer direkten Kooperation zwischen dem Bund und den Kommunen, die lähmende Schuldenbremse oder das ständige Feilschen, wer zum Beispiel welche Kosten für Sprachkurse, Bildungs- und Teilhabeprogramme für benachteiligte Kinder und Jugendliche übernimmt.
Für Aufbruch und beherzte Reformen
Die „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“, finanziert von vier Stiftungen (Fritz Thyssen Stiftung, Gemeinnützige Hertie-Stiftung, Stiftung Mercator und ZEIT-Stiftung Bucerius), hat seit einem knappen Jahr unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten gearbeitet und sich jetzt schnell zu einem 87seitigen „Zwischenbericht“ entschieden. Die Autor:innen fordern „einen Aufbruch“ und „beherzte Reformen in vielen Bereichen“. Das ist mehr als gewagt: Sie laden die Versäumnisse, die Verschiebungen und Verdrängungen der Probleme, die sich eigentlich seit den Tagen der deutschen Vereinigung aufgetürmt haben und mit Geld und Maßnahmen für jedes und jeden zugedeckt wurden, einer zutiefst frustrierten wie verunsicherten Gesellschaft und einer möglichen Regierung unter einem Friedrich Merz auf, der für die dramatischen innen- wie außenpolitischen Veränderungen wenig Erfahrung aufweisen kann.
Ob in diesen Tagen, in denen es um das Grundgesetz, den alten und den neuen Bundestag, die Bewilligung von milliardenschweren Schattenhaushalten (genannt Sondervermögen) und Ausnahmen von der Schuldenbremse geht, die 30 Thesen im protestantischen Lutherton gehört, gelesen und gar beherzigt werden? Die vier sind nicht irgendwer, aber ihr Unterfangen hat einen bitteren Beigeschmack, haben sie selbst doch nicht unerheblich zu dem beklagten Vertrauensverlust und „Wirrwarr“ beigetragen.
Mehr Vertrauen wagen
Ein genauerer Blick auf einige der Empfehlungen lohnt sich dennoch. Zu Recht wird der Gesetzesrausch der letzten Jahre kritisiert, der häufig zum Gesetzespfusch führte: Im Vergleich zur 19. Legislaturperiode (2017-2021) habe sich in den Zeiten der Ampelregierung die „Durchlaufzeit eines Gesetzes vom Entwurf bis zum Kabinettsbeschluss „beinahe halbiert: Von 80 auf 44 Tage“. In gerade einmal sechs Wochen „kann selbst bei bestem Willen kein gutes Gesetz entstehen“. Da klingt die Mahnung eines ehemaligen Verfassungsrichters durch: „Wir brauchen weniger Gesetze und dafür bessere Gesetze. Bessere Gesetze bedeuten weniger Bürokratie“ (S. 15). Und weniger Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht, hätten die vier anfügen können.
Die Empfehlungen für gründlichere, transparentere und praxistauglichere Gesetze sind nicht neu, aber nie befolgt worden. Sie ermutigen zu mehr Offenheit und Risikofreude, einen Referentenentwurf zum Beispiel erst einmal breit diskutieren zu lassen. „Ein starker Staat kann mehr Vertrauen wagen“ (These 27). Gefordert wird eine Experimentierklausel als Regel. „So können Verwaltungen Regelungen für einen bestimmten Sachbereich ausprobieren, um Lernprozesse zu initiieren“. Die vier Initiatoren setzen auf einen Vertrauensvorschuss für die Bürgerinnen und Bürger, auf weniger Kontrolle, auf Pauschalierungen im Sozial- wie Steuerrecht, auf Stichproben statt ständig ausgeweiteter Nachweispflichten, aber auch harte Sanktionen bei Betrug.
Welche Konflikte, Brüche und Klagefluten hätten sich die Regierungen von Gerhard Schröder über Angela Merkel bis Olaf Scholz bei der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe (bekannt als „Hartz IV“, heute Bürgergeld und demnächst vielleicht Grundsicherung) bei einem solchen Verfahren ersparen können. Doch ob die Einsicht dazu in den Ministerien gewachsen ist? Die jüngsten Erfahrungen mit dem sogenannten Heizungsgesetz oder den bürokratisch-praxisfernen Plänen für eine Kindergrundsicherung nähren Zweifel.

Selbstgefälligkeit und Selbstbespiegelung
Doch welche Thesen enthalten Überraschendes, bisher nicht Bedachtes? Da ist einmal der Föderalismus: Nicht zuletzt durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor über zwanzig Jahren ist der frühere „kooperative Bundesstaat“ durch den „Föderalismus des Wettbewerbs“ und eine deutliche Machtverlagerung in die Länder ersetzt worden. Die im Grundgesetz verankerten „gleichwertigen Lebensverhältnisse“ zwischen Greifswald und Freiburg einzulösen und bundeseinheitliche Lösungen zu finden, erörtern Ministerpräsidenten oder Kultusministerinnen in Kamingesprächen und Konferenzen, deren „Beschlüsse“ nicht rechtsverbindlich sind, „sondern lediglich politische Verabredungen“ (S. 24). These 5 lautet daher: „Für eine bundeseinheitliche Regelung von Länderaufgaben ohne den Bund gibt es bislang keine gescheite Lösung, außer dem Abschluss von Staatsverträgen zwischen den Ländern.“ Doch die dauern in der Regel jahrelang. „Dieser Zustand ist unhaltbar und muss sich ändern.“ Wer das glaubt?
Die Bräsigkeit, mit der sich Ministerpräsidenten oder Kultusminister und -ministerinnen nach ihren Konferenzen jeweils präsentieren, strotzt vor Selbstgefälligkeit und Selbstbespiegelung. Bisher gibt es nicht das geringste Anzeichen dafür, dass daraus eine Selbstreflexion werden könnte und eine Bereitschaft entstünde, Strukturen zu verändern oder wenigstens nationale Beratungsgremien zu schaffen, zum Beispiel einen Bildungsrat, den die vier wieder einmal vorschlagen.
So knüpfen sich auch an zentrale Thesen zu Bildung und Sozialem eher Fragezeichen. Beides sind Themen, die zum beklagten Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger massiv beigetragen haben. Die Sozialausgaben sind hoch, aber so unübersichtlich und kleinkariert bürokratisch organisiert, dass der Verdacht nicht ganz fern liegt, hier sollten Menschen eher abgeschreckt als unterstützt werden. In sechs Zeilen fassen die vier Initiatoren die seit Jahren offenkundige Misere zusammen:
„Fünf Bundesministerien verantworten etwa 170 Leistungen, die von fast 30 Behörden unter Verwendung unterschiedlicher Begrifflichkeiten verwaltet und in 16 Ländern mit 400 kommunalen Gebietskörperschaften teils unterschiedlich umgesetzt werden. Die Verwaltungen sind mit dem Vollzug überlastet, die Anspruchsberechtigen mit Antragstellungen überfordert, und die Zuweisung von sozialen Hilfen und Förderungen führt nicht selten zu falschen Anreizwirkungen.“
Führung und Kompromissbereitschaft
Das spiegelt in aller Knappheit und Deutlichkeit die Lage. Und die Lösung? „Ohne unnötiges Ressortgerangel“ sollten alle Leistungen der sozialen Sicherung für die drei Bedarfsgruppen „Kinder und Jugendliche, Erwachsene, Haushalte“ von einem Bundesministerium gesteuert werden, schlagen die vier vor. Und folgern in der These 23: „Alle Regelleistungen unseres Sozialstaats werden über eine zentrale digitale Dienstleistungsplattform bereitgestellt“. „One-Stop-Shop“ sei dafür das Schlagwort, das auch keine Erfindung der vier Prominenten ist. An die Umsetzung wagte sich bisher aber niemand. Aus Angst, dass bei weniger Bürokratie und leichteren Verfahren sich vielleicht mehr Menschen getrauen, Hilfe und Unterstützung in Anspruch zu nehmen? Oder die Ungerechtigkeiten im derzeitigen System offen zu Tage treten?
Das Motto, das die vier Prominenten vorgegeben haben, lautet: Mehr Vertrauen in die Bürgerinnen und Bürger wagen. An wen aber richten sich die wuchtigen Thesen? „Wir wissen, dass die Umsetzung unserer Empfehlungen eine besondere, eine große parteiübergreifende Kraftanstrengung erfordert, die alle staatlichen Ebenen einbezieht. Eine Staatsreform, wie wir sie vorschlagen, braucht gleichermaßen politische Führung und Kompromissbereitschaft, gerade in diesen Zeiten.“ Steinbrück, de Mazière, Voßkuhle und Jäkel geben damit ihre eigene Verantwortung ab an eine „politische Führung“, zu der sie selbst nicht mehr gehören. Das ist zu wenig, viel zu wenig für die beiden Politiker, den Verfassungsrichter und die Unternehmerin, die zu dem großen Vertrauensverlust in der Bevölkerung beigetragen haben.
Jutta Roitschs Text über die Thesen im Lutherton zwingt geradezu eine Frage auf. Die lautet: Was können die denn tatsächlich, die jetzt nach Kanzleramt, nach innen und außen etc. streben? Beim Boris Pastorius, weiß der Bürger, was er hat; auch bei Hubertus Heil oder bei Bärbel Baas, die sehr ordentlich dafür gesorgt hat, dass es im Parlament noch zivilisiert zuging. Aber mit Blick auf Herren Merz, Herrn Linnemann und Herrn Frei? Im Unterschied zu denen der Herr Dobrindt, der vier Jahre Bundesverkehrsminister war und der mit der Maut „ausrutschte“ wie ein Ochse, er auf die Weide in der Sche…..
Ja, was bringen die mit? Frei war wenigstens mal Oberbürgermeister. Aber die anderen? Mit welchen zukunftsorientierten Konzepten warteten die genannten drei auf? Das Konzept der Sondervermögen ist nicht auf deren Mist gewachsen. Und sonst? Man hört von Herrn Linnemann, er wolle Arbeitsmarktfragen in Wirtschaftsministerium rüber schaffen. Das hatten wir schon mal, war auch kein Renner. Und die werden nun auf die „Großkatzen“ in der großen weiten Welt losgelassen, beziehungsweise diese auf jene.
Nun werden einige sagen: Sie sind ganz schön unfair, weil sie an Scholz und Co. solche Begrüßungsworte nicht gerichtet hatten. Das ist wahr. Aber damals gab´s keinen Krieg in Europa, die Nationalisten und Rassisten waren noch nicht soweit wie heute und von Trump war kaum die Rede.
Wir gehen aufregenden Zeiten entgegen – so oder so.