
Die AfD instrumentalisiert wirtschaftliche und soziale Defizite für ihre Flüchtlings- und Migrationshetze, argumentiert Klaus Lang in einem weiteren Interview mit Wolfgang Storz. AfD-Politik sei es, Ausländer zu Sündenböcken zu machen für die vielen ungelösten Aufgaben unseres Landes bei Jobs, Wohnung, Bildung, Gesundheit, Verkehr, Infrastruktur. Es komme darauf an, eine Politik auf den Weg zu bringen, die für die Aufnahme von Asylbewerbern und Geflüchteten mehr Akzeptanz schaffe. Ein Schlüssel zum Erfolg sei, wenn möglichst viele der Geflüchteten und Asylbewerber möglichst schnell eine Ausbildung erhielten oder einer qualifizierten Arbeit nachgehen wollten und könnten. Dann wäre alles viel einfacher, die Atmosphäre gelassener und humaner, betont Lang, der Mitglied im Rat der Stiftung Menschenrechte ist und im Sozialethischen Arbeitskreis Kirchen und Gewerkschaften. „Europa war einst viele Jahrzehnte ein Kontinent der Auswanderung und Ausgangspunkt kolonialer Unterdrückung. Allein deshalb muss er heute, zumal als wohlhabender Kontinent, die Kraft finden, auf die Herausforderung der weltweiten Migrationsbewegungen eine humane Antwort zu geben.“
Wolfgang Storz: In der Regel wollen nach Umfragen und zuletzt auch nach Wahlergebnissen etwa 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung eine grundsätzlich rigidere Geflüchteten- und Asylpolitik als sie spätestens seit 2015 praktiziert wird. Die Stichworte: deutlich mehr Abschiebungen, keine Seenotrettung, keinen Familiennachzug. Können demokratische Parteien gegen diese Mehrheit Politik machen, ohne die Demokratie zu gefährden?
Klaus Lang: Es geht nicht darum, Politik gegen diese Mehrheit zu machen, sondern darum, eine Politik auf den Weg zu bringen, die für die Aufnahme von Asylbewerbern und Geflüchteten mehr Akzeptanz schafft. Die Menschen wollen heute, ich betone heute, generell eine restriktivere Flüchtlings- und Asylpolitik. Das hat sich im vergangenen Jahrzehnt, parallel zum Anwachsen der AfD, aufgebaut. 2015 waren Zustimmung, Willkommenskultur und Hilfsbereitschaft sehr ausgeprägt. Auch wegen punktueller Ereignisse, wegen Gewalttaten und Übergriffen, die vor allem männlichen Geflüchteten-Gruppen zugeschrieben wurden oder nachgewiesen werden konnten — ich erinnere an die Übergriffe in Köln in der Silvesternacht 2015/2016 —, hat sich die allgemeine öffentliche Atmosphäre gravierend verändert. Vor allem mit der Mobilisierung von Ressentiments gegen Geflüchtete gelang es der AfD, ihre Stimmenzahl bei der Bundestagswahl 2017 gegenüber der von 2013 zu verdreifachen.
Wo ist die Politik falsch abgebogen?
Lang: In den Jahren seither wurde meines Erachtens ein entscheidender Fehler gemacht: Es wurden viel zu wenig Aufmerksamkeit und Ressourcen in eine deutlich bessere Integration der Geflüchteten investiert – und natürlich in die Verbesserung der Lebensverhältnisse für alle. Das 1990 geschaffene und seither mehrfach geänderte „Dublin-System“ (es besagt, jeder Geflüchtete hat im Ankunftsland zu bleiben) nie eingehalten worden ist, wurde zudem Deutschland zu dem Haupt-Fluchtziel in Europa. Aber in den Folgejahren 2017 bis 2021 hat sich trotz hoher Flüchtlingszahlen die Einstellung zu Asyl und Flucht nicht verschlechtert, die Zustimmung zur AfD hat in der Bundestagswahl 2021 sogar abgenommen (um über 2%-Punkte gegenüber 2017).

Frust über Politikversagen
Warum wurde es in den Folgejahren deutlich anders?
Lang: Ab 2021 kamen die großen belastenden Krisen der Corona-Pandemie, vermehrter Klimakatastrophen und des Ukrainekrieges mit weiteren hunderttausenden Geflüchteten. Aber ein entscheidender Punkt war auch das Versagen der Politik in diesen Jahren. Statt mit zielgerichtetem Handeln die Probleme zu bearbeiten, erweckte die Bundesregierung den Eindruck von Führungslosigkeit, Streit und Zerrissenheit. In den Punkten, die der Mehrheit auf den Nägeln brennen – Arbeit, Wohnung, Bildung, Gesundheit, Verkehr, Infrastruktur – haben die Menschen fast durchweg Verschlechterungen wahrgenommen. Das alles hat sich in der Ablehnung von Flüchtlingen zugespitzt und zu weiteren Verhärtungen geführt. Und zur Verdopplung des Stimmanteils der AfD. Diese Entwicklung hat eben nicht nur und vielleicht sogar nicht einmal in erster Linie mit dem Flüchtlingsthema zu tun. Das wäre viel zu kurz gegriffen. Das neueste ZDF-Politbarometer bestätigt, dass für die Menschen „Wirtschaft“, und das heißt vor allem Arbeit, Einkommen, Infrastruktur, das wichtigste Thema ist (45%), gefolgt von Sozialem (21) . Asyl/Flüchtlinge folgt ziemlich abgeschlagen (12%) auf Platz drei. Die AfD hat die politischen Defizite in anderen Bereichen immer für Flüchtlings- und Migrationshetze instrumentalisiert.
Mein Einwurf: Kann es nicht sein, dass die Stimmung eine ganz andere wäre, wenn die Zahlen nicht so schnell so hochgeschnellt wären. Deshalb halte ich Ihrer Position, es gehe nicht um eine restriktivere Geflüchteten-Politik, sondern darum, mehr Akzeptanz für eine großzügige Geflüchtetenpolitik zu finden, noch wenige Zahlen entgegen: Nach Angaben des durchaus migrationsfreundlichen Mediendienst Integration lebten mit Stichtag 30.Juni 2024 3,3 Millionen im weitesten Sinne „Schutzsuchende“ in Deutschland, darunter gerade mal knapp 44.000 Asylberechtigte nach Artikel 16a des Grundgesetzes, darunter 1,1 Millionen Geflüchtete aus der Ukraine, darunter mehr als 700.000 Flüchtlinge nach der Genfer Konvention, etwa 350.000 subsidiär Schutzberechtigte undsoweiter. Da es in Deutschland nicht nur den Anspruch gibt, diese 3,3 Millionen Menschen zu ernähren, ordentlich und sicher unterzubringen und gesundheitlich zu versorgen, sondern da es den Anspruch gibt, sie alle kulturell, sozial und schulisch zu integrieren — unter anderem geht es um viele zehntausende Kita- und Schulplätze —, finden Sie vor diesem Hintergrund nicht Forderungen berechtigt, dass mit der Aufnahme von weiteren Geflüchteten wenigstens mal eine Pause von zwei bis drei Jahren eingelegt werden sollte? Dass also eine Phase der Restriktion angesagt sei?
Lang: Das sehe ich nicht. Die Stimmung wäre auch eine andere, wenn in der Zeit der Ampelregierung nicht der drastische Eindruck von Handlungsunfähigkeit und Politikversagen aufgekommen wäre. Die Verschlechterungen im Schulsystem, zu wenig Lehrer*innen und verrottete Gebäude, kaputte Straßen, geschlossene Schwimmbäder – das sind doch auch ohne steigende Flüchtlingszahlen längst Probleme, die auf der Hand liegen.
Zudem sehe ich auch nicht, wie wir unser Land abschotten könnten: Grenzen dichtmachen und notfalls schießen — das kann es ja nicht sein. Jetzt geht es erster Linie darum, die tieferen Ursachen für Engherzigkeit und mangelnde Aufnahmebereitschaft anzugehen. In der Forderung nach einem Wechsel in der Asyl- und Flüchtlingspolitik kumuliert bei sehr vielen Menschen der Frust über angenommenes, berichtetes oder selbst erfahrenes Politikversagen. Die Probleme, beispielsweise in der Kapazität der kommunalen Ausländerbehörden, in der Wohnungsversorgung, der gesundheitlichen Betreuung, bei Kitas und Schulen, bei Schwimmbädern und Freizeiteinrichtungen, in der gesamten Infrastruktur werden schnell Geflüchteten und Asylbewerben beziehungsweise den Aufwendungen, die der Staat für sie leistet, in die Schuhe geschoben. Die AfD und ab 2024 zunehmend auch die CDU/CSU, sowie ein Teil der Medien setzen alles daran, diese Erzählung noch zu verschärfen, der Schuldige an allen Missständen ist zuallererst der Geflüchtete. Ich muss noch einmal auf die Entwicklung des Aufstiegs der AfD und der Ablehnung der Flüchtlinge zurückkommen:
Was wird sich mit der neuen Regierung Merz und ihrem Programm daran ändern?
Lang: Im Koalitionsvertrag bekennen sich CDU, CSU und SPD zwar zum Grundrecht auf Asyl, sie billigen jedoch vor allem der Integration viel zu wenig Gewicht zu. Wenn Asyl- und Flüchtlingspolitik in erster Linie auf Abgrenzung und Abschiebung aus ist, so ist nichts gewonnen, jedoch viel verloren. Denn auch mit Abgrenzung und Abschiebung werden die Gründe für Frust und Verdrossenheit der hier lebenden Menschen nicht beseitigt, nicht einmal gemindert. Die künftige Bundesregierung und die sie tragenden Partien werden deutlich machen müssen, dass es keine einfachen und schnellen Lösungen gibt. Und sie werden mit aller Macht versuchen müssen, einfach mit guter Politik die Lebensbedingungen für alle Menschen spür- und sichtbar zu verbessern, ob es um sichere Arbeitsplätze, Schulen, Nahverkehr, Wohnungen oder Kultur geht. Vor allem darin besteht die Lösung. Nur damit wird die Propaganda der Rechtspopulisten unschädlich gemacht. Die AfD hat dagegen kein Interesse an und keine Programme für die Lösung dieser Sachfragen. Sie behandelt Fremde, im Grunde immer, vielleicht Millionäre ausgenommen, als Bedrohung für „die Deutschen“, die völkisch-rassistisch definiert werden.
Vielfältige Lebensweisen sind deutsche Realität
Ist es in einer parlamentarischen Demokratie legitim, wenn Deutsche ihre eigene Lebensweise gegen andere verteidigen, die beispielsweise hierher fliehen und hier so leben wollen wie in ihren Herkunftsländern?
Lang: Die Fragestellung ist verkürzt und deshalb krumm und falsch. Denn, welche Deutschen sind denn gemeint? In Deutschland leben, ohne Geflüchtete, fast 25 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, davon 12,6 Millionen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Schon deshalb gibt es in Deutschland seit eh und je sehr unterschiedliche Lebensweisen; übrigens auch ohne Migration, allein aufgrund großer sozialer Unterschiede. Die AfD schwelgt demgegenüber in Deutschtümelei, konstruiert eine völkische deutsche Kultur, die es in der Realität nicht gibt. Sie erklärt dann deutsche Werte und Kultur bedroht, will Remigration, will soziale und politische Rechte auf ethnisch Deutsche (völkisch) eingrenzen.
Bayerische, sächsische, niedersächsische Dorfbewohner haben das Recht, ihre Lebensweise nach ihren Vorstellungen zu gestalten, ebenso wie Stadtbewohner in Frankfurt, Hamburg, Erfurt, Fulda oder Leipzig, aber ebenso die libanesischen oder türkischen, spanischen oder italienischen Familien in Dortmund oder Berlin. Es geht immer darum, dass dabei die Grundwerte und die Grundrechte unserer Verfassung und natürlich Recht und Gesetz beachtet werden. Wir leben seit den1960er Jahren ständig mit Migration, auch mit Flüchtlingen und Asylbewerbern, die „unsere“ Lebensweise ständig verändert, vielfach entfaltet und bereichert haben.

Wenn das Normalität ist, wie können wir dann zu einem entspannteren Atmosphäre kommen?
Lang: Migration und Multikulti sind auch ein Teil der gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland. Das ist immer auch mit Konflikten einher gegangen. Daran werden wir uns auch in Zukunft gewöhnen müssen, einmal ganz abgesehen von Geflüchteten, wenn wir im Rahmen einer besseren Migrationspolitik in den nächsten 10 Jahren die ca. vier bis fünf Millionen Menschen aufnehmen wollen und müssen, die unsere Produktionsanlagen in Gang halten, die verschiedenen Dienstleistungsbereiche ausfüllen, mit einem Wort: die Überlebensfähigkeit der Gesellschaft in Deutschland zusammen mit denen, die hier schon länger leben, sichern. Was meines Erachtens sehr helfen würde, da wir überall, ob in Produktionsunternehmen, Pflegeheimen oder Kitas, sehr viel mehr Arbeitskräfte benötigen: Wenn möglichst viele der Geflüchteten und Asylbewerber möglichst schnell eine Ausbildung erhielten oder einer qualifizierten Arbeit nachgehen wollten und könnten. Das ist der Schlüssel zum Erfolg. Dann wäre alles viel einfacher, die Atmosphäre gelassener und humaner.
Mangel an sozialer Betreuung und Integration
Ich schildere mal aus dem Alltag, weshalb ich verstehe, wenn Menschen sich unwohl bis unsicher fühlen. Ich bin oft in Regionalexpress-Zügen unterwegs und erlebe nicht selten: Wenn tagsüber Gruppen von jungen männlichen Geflüchteten raumgreifend den Waggon einnehmen und weit und breit kein Zugpersonal zu sehen ist, dann fühle ich mich unwohl. Sehr verbreitete Gefühle, die von der verantwortlichen Politik meist weggedrückt, von der AfD dagegen gerne aufgenommen und verschärft werden. Eindrücke, die natürlich auch klassenspezifisch sind, fährt doch der aufgeklärte Mittelschichts-Deutsche gewöhnlich SUV. Ernstnehmen oder abtun?
Lang: Mir ist das noch nicht begegnet, aber ich höre solche Erfahrungen auch und verstehe sie. Abgesehen davon höre ich genauso oft, dass sich Menschen in einem Zug mit lärmenden und saufenden (nicht nur) jungen Leuten bei der Hin- oder Rückfahrt von einem Fußballspiel sehr unwohl fühlen; auch mit jungen Männern im Militärdienst kann man solche Erfahrungen machen. Aber unbestritten: Junge geflüchtete Männer, die vor Einkaufsmärkten „herumlungern“, Arztpraxen mit vielen Geflüchteten im Wartezimmer, Frauen, die sich am Abend in bestimmten Gegenden nicht auf die Straße trauen, und manches mehr, das alles gibt es. Aber gerade das zeigt doch: Es mangelt z.B. an der Integration dieser jungen Männer in den Arbeitsmarkt und an sozialer Betreuung. Oder eben an mehr Zugbegleiter*innen und sicher auch an mehr sozialer Überwachung im öffentlichen Raum. Da sehe ich an vielen Punkten Handlungsmöglichkeiten und -bedarf.
Lässt sich dieses momentan total vergiftete Politikfeld überhaupt noch zwischen den Parteien und im meist kleinkarierten und für Außenstehende zunehmend undurchschaubaren parlamentarischen Hickhack klären? Bedarf es nicht vielmehr einer ganz anderen Herangehensweise: eines großen Historischen Kompromisses, in dem sich beide Seiten wiederfinden, an dessen Erarbeitung führend beispielsweise Kirchen, Wohlfahrtsverbände und Spitzenverbände der Kommunen beteiligt sind?
Lang: Ich bin überzeugt, mit Wahlen legitimierte Parlamente und Regierungen bleiben zentral verantwortlich für die res publica, für die öffentlichen Angelegenheiten — auch wenn politisches Handeln mit tiefgehenden Konflikten, mit zähen Verhandlungslösungen und oft mit widrigen Kompromissen verbunden ist. Es gibt Themen, deren Lösung nur auf Basis einer zuvor breiten und intensiv geführten gesellschaftlichen Debatte erarbeitet werden kann. Übrigens gilt das auch für die Aufarbeitung der Pandemie, auch für die Klima- und Energiewende. Und es gilt ganz sicher für die Geflüchteten- und Asylpolitik.
Leider sehe ich auch im Koalitionsvertrag keine Ansätze dafür, eine solche Debatte zu starten. Will man sie führen, gilt es zuvor klären: Welches Ziel hat die Debatte? Und wer führt sie verantwortlich? Ich denke, die Debatte sollte sich in der Hauptsache um den Weg drehen, auf den sich eine deutliche Mehrheit verständigen kann, einen Weg, der die Rechte und Interessen derjenigen, die Asyl und Schutz suchen, ebenso wahrt wie die Rechte und Interessen derjenige, die diesen Schutz organisieren und bezahlen sollen. Nur wenn sich die öffentliche Debatte auf dieses Ausbalancieren konzentriert, kann die Polarisierung minimiert und die Gemeinsamkeiten maximiert werden. Aber am Ende entscheiden Regierungen und Parlamente, nicht irgendwelche gut gemeinten Runden Tische.

Ivan Krastev, einer der schärfsten und kompetentesten Analytiker der europäischen Verhältnisse, schrieb bereits 2018 in seinem Buch „Europadämmerung“: „Für immer mehr Menschen bedeutet Veränderung, nicht die Regierung zu wechseln, sondern das Land.“ So würden die einst Kolonisierten ihre ehemaligen und heute sehr wohlhabenden Kolonialländer stürmen. Das Asylrecht in Deutschland wurde ja geschaffen mit der Vorstellung, es gehe um den ersten Fall: Menschen kämpfen in ihrem Land um eine andere Politik, werden unterdrückt, und sie können dann nach Deutschland fliehen, um ihr Leben zu retten. Für den von Krastev vorgetragenen zweiten Fall passt das Asylrecht doch gar nicht. Aber dieser zweite Fall ist heute Regel und Wirklichkeit. Müsste deshalb das Asylrecht nicht folgerichtig abgeschafft werden, wie es Hans-Eckard Sommer, Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), fordert?
Lang: Es ist richtig, dass sich aufgrund der Vielzahl von Krisen und Konflikten in der Welt, die Ursachen für Flucht und Auswanderung grundlegend verändert und die Zahl der Geflüchteten und Ausgewanderten vervielfacht haben. Aber eines ist doch geblieben: In vielen Ländern kämpfen viele Menschen unverändert und oft unter Lebensgefahr für Menschenrechte, Gerechtigkeit, Freiheit, Umweltschutz und Demokratie. Das ist unbestritten. Und deshalb muss das individuelle Grundrecht auf Asyl unverändert gewährt werden. Würde es abgeschafft, dann entschiede irgendeine Verwaltung, ob Schutz gewährt würde oder nicht.
Unverantwortlich, rechtswidrig, menschenverachtend
Wie bewerten Sie dann die Haltung des BAMF-Präsidenten?
Lang: Sie ist menschenverachtend und rechtswidrig. Aber auch unverantwortlich. Denn dieser Präsident erweckt wieder einmal den völlig falschen Eindruck, es gebe schnelle Lösungen, man müsse nur wollen. Sommer weiß ganz genau, dass die Änderung des Asylartikel des Grundgesetzes das Problem nicht in seinem Sinne löst. Das Ausländerzentralregister weist über drei Millionen Schutzsuchende aus. Davon sind weniger als 50.000 asylberechtigt nach Art 16aGG, weit über 500.000 erhalten Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention (§ 3 Abs. 1 Asylgesetz) und weitere über 500.000 sind subsidiär Schutzberechtigt (§ 4 Asylgesetz) oder fallen aus persönlichen Gründen unter ein Abschiebungsverbot. Über eine Million sind Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine mit vorübergehendem Schutz. Da Sommer solche Zahlen genau kennt, fordert er nicht nur die Abschaffung des deutschen Asylrechts, sondern gleich auch noch die Änderung der Genfer Flüchtlingskonvention. Und er hält selbst das mühsam erarbeite Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) nicht für zielführend.
Die „neuen Mehrheiten“, so Sommer wörtlich, sollen genutzt werden, all das zu ändern. Damit kann er nur die neuen rechten Mehrheiten etwa aus AfD und Union meinen — eine Spitzenleistung für einen deutschen Spitzenbeamten. Selbst wenn man aber alle grundlegenden rechtlichen und politischen Bedenken hintanstellt, so würde diese Abschafferei nichts zur aktuellen Problemlösung beitragen. Sie würde zudem das gesamte Europäische System der Menschen- und Grundrechte auf den Kopf stellen und – auch ohne Asylrecht und Genfer Flüchtlingskonvention in den unveränderlichen Grundrechten des Grundgesetzes auf Menschenwürde und körperliche Unversehrtheit, die für alle Menschen gelten, seine Grenzen finden. Es bleibt dabei: Europa war einst viele Jahrzehnte ein Kontinent der Auswanderung und Ausgangspunkt kolonialer Unterdrückung. Allein deshalb muss er heute, zumal als wohlhabender Kontinent, die Kraft finden, auf die Herausforderung der weltweiten Migrationsbewegungen eine humane Antwort zu geben.