Paris, 1. Mai: Zwischen Politkarneval und Volksfest

Foto: Dellex auf wikimedia commons

Auf dem Place d’Italie stehen die lavendelblauen Jacaranda-Bäume in voller Blüte. An diesem 1. Mai aber, dem ersten Sommertag in Paris, schwebt über dem großen runden Platz kein Blütenduft: In riesigen Grillpfannen schmurgeln Zwiebeln, Merguezwürste, Fleischspieße vor sich hin. Die Menschen sollen sich stärken: Die CGT hat zusammen mit anderen Gewerkschaftsgruppen und sonstigen Vereinigungen der Linken bis Linksextremen zum Marsch gegen Imperialismus, Kapitalismus, Faschismus, Trumpismus, den Krieg in Gaza, die Rente mit 64 aufgerufen. Auf dem Platz herrscht eine Stimmung wie auf einem Volksfest. Es spielt dazu ein lustiges, schräges Blasorchester der „Lutte ouvrière“. Dieser „Arbeiterkampf“ verteilt kleine Aufkleber für die T-Shirts: „Proletarier von Frankreich, Palästina, Israel, vereinigen wir uns“. Dieser Aufruf rührt, aber verhallt.

Aus allen Teilen der Republik sind die Wagen der CGT angerollt, mit Plakaten geschmückt und bestückt mit riesigen rotgelben (Heißluft)Ballons, dröhnenden Musikboxen, lauten Einpeitschern und Einpeitscherinnen gegen zu niedrige Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen: Im Staatsbetrieb SNCF, in dem diese nach der CFDT zweite bedeutende französische Gewerkschaft noch relativ stark ist, steht ein Streik der Lokomotivführer bevor.

Eine kleine Flyer-Auswahl (Foto: privat)

Um 14 Uhr soll der Marsch in Richtung Seine und Place de la Nation beginnen, bereits um kurz nach 13 Uhr aber formiert sich auf dem Boulevard d’Hopital die erste Reihe: Nebeneinander mit vielen roten Fahnen die führenden Funktionäre und Funktionärinnen von CGT bis Force Ouvrière (FO). Und mittendrin: Jean-Luc Mélonchon, der allgegenwärtige Populist der „Insoumis“ (Unbeugsamen), der kein Gewerkschaftsführer ist, aber so tut und die Szene mit vollmundigen politischen Sprüchen beherrscht. Im Revers seines Anzuges trägt er den an diesem Tag traditionellen Maiglöckchenstrauß. Dicht an dicht drängeln sich Fotografen und Pressevertreter um den 73jährigen Politiker, der immer noch Präsident der Republik werden möchte (2027). Gegen diese Art der Vereinnahmung wehren sich die anwesenden Gewerkschaftsbosse, so sie denn gefragt werden. Gegenüber Le Monde empört sich der Generalsekretär der FO, Frédéric Souillot: „Das ist ein Gewerkschaftstag, die politischen Parteien marschieren ganz am Schluss des Zuges“ (Le Monde vom 3. Mai).

„Die Letzten werden die Ersten sein“

Diese ungeschriebene Regel halten vier Parteien ein: Bis es endlich losgeht, harren auf dem Platz mit ihren Wagen je ein Grüppchen „Unbeugsame“ und „Ökologen“ aus. Zu Fuß will ein Dutzend Anhänger von D’Après (Ex-Unbeugsame) mitlaufen. Das Schlusslicht bildet „place publique“, die neue sozialistisch-sozialdemokratische Bewegung des Raphael Glucksmann: „Die Letzten werden die Ersten sein“, verkündet einer von ihnen fröhlich.

Die Sozialistische Partei PS nimmt offiziell an diesem Marsch nicht teil, aber bei einen Stand auf dem Boulevard bepöbeln Vermummte den Abgeordneten Jérôme Guedj, bis die Polizei eingreift. Hier ist es der einzige Einsatz an diesem Mittag, nur beiläufig erwähnt am Tag darauf im konservativen Figaro und der linken Libération. Die Polizei wird bis zum Schluss nach fast vier Stunden im Hintergrund bleiben und dann der Müllabfuhr Platz machen: Die hat mehr zu tun, um mit den Plastikbergen und den achtlos weggeworfenen Essensresten fertig zu werden.

Pünktlich um 14 Uhr setzt sich dann endlich der Marsch in Bewegung, fahren die Ballon-Wagen im Schneckentempo los, feuern Rapperinnen auf den Wagen die Demonstrantenschar an. Der Krach ist ohrenbetäubend. Zwischen den Wagen tanzen die Menschen, manche als Jakobiner oder sonstwie verkleidet, schwenken Fahnen, neben den roten sind es vor allem die Palästinas. Ein „schwarzer Block“ mit Vermummten reiht sich in diesen langen Wagencorso nicht ein.

Ob Bayrou diesen Skandal überlebt?

Ich selbst sitze als Beobachterin im Schatten auf einer Bank am Boulevard d’Hopital, neben mir eine Gruppe englischer Pressevertreter, die mit Stahlhelm und Tränengasschutzmaske ausgerüstet sind, als wollten sie in einen Krieg ziehen. Auf dieser Demonstration in Paris findet er nicht statt. An diesem Sommertag ähnelt das Treiben auf dem Boulevard einem Karnevalszug, der für die Hälfte der geplanten Strecke zwei Stunden braucht, immer wieder stockt. Die vielen tausend Menschen, die zum Place d’Italie geströmt sind, scheren aus diesem Zug aus, suchen sich auf dem breiten Bürgersteig ihre eigene Demonstration. Stunde um Stunde ziehen sie an mir vorbei: Jung und alt, Familien mit kleinen Kindern, Studentinnen und Schüler. Sie tragen Fähnchen, Gewerkschaftsbuttons, Maiglöckchen und viele, viele selbstgebastelte Pappschilder mit ein, zwei Wörtern: „Bayrou lügt“ zum Beispiel oder „Rühr nicht an meine Lehrerin“ oder „Gegen Islamfeindlichkeit“.
Die Unruhe, die diese Menschen auf die Straße treibt, ist spürbar. Die Anklagen auf den kleinen Schildern berühren Themen, die auf dem offiziellen Wagencorso keine Rolle spielen: Hinter „Bayrou lügt“ verbergen sich die ungeheuerlichen Enthüllungen aus einem katholischen Privatgymnasium im Südwesten der Republik: „Bétharram“ steht für einen Missbrauchskandal, der jetzt nach Jahrzehnten des Beschweigens Schritt für Schritt politisch und juristisch aufgeklärt wird. Bayrous Kinder waren auf diesem Gymnasium, seine Frau war dort Lehrerin, er selbst zu den Zeiten der jetzt in einem Buch dokumentierten Fälle nationaler Erziehungsminister (1995). Er will nichts gewusst haben. Ob Frankreichs Premierminister diesen Skandal, in dem seine Tochter als Zeugin auftritt, überlebt?

Diese Frage stellt sich auch für die derzeitige Erziehungsministerin, die ehemalige Premierministerin Elisabeth Borne, die Lehrerstellen einsparen und Klassen vor allem in der öffentlichen Grundschule schließen soll: Vor allem die Pariser Elternschaft wehrt sich dagegen, warnt vor einem verschärften Konkurrenzkampf zwischen der öffentlichen und der privaten Schule, hier auf dem Boulevard massiv und sichtbar. In der Stadt selbst kleben vor allem an Grundschulen kindlich gebastelte Bildchen und Protestplakate.

Die „Rente mit 60“ mobilisiert

Auf den Pappschildchen gegen Islamfeindlichkeit taucht kein Name auf, weder auf dem Massenmarsch auf dem Bürgersteig noch auf dem offiziellen Corso der CGT. Aber jeder und jede hier dürfte ihn kennen: Eine Woche zuvor wurde in einer kleinen Moschee in La Grand-Combe im Gard der 22jährige Aboubakar Cissé aus Mali beim Gebet grausam erstochen. Der 20jährige Täter, ein Franzose mit bosnischen Wurzeln, filmte den Todeskampf seines Opfers und veröffentlichte das Video bei Instagram. Olivier H. stellte sich Tage später in Italien der Polizei. Der weit rechts stehende Innenminister Bruno Retailleau von den Republikanern brauchte zwei Tage, um sich vor Ort bei der Präfektur, nicht aber der Moscheegemeinde, geschweige denn der Familie Cissé zu zeigen.

Was aber wird aus dieser trotz aller sommerlichen Leichtigkeit spürbaren Unruhe, Furcht und Unsicherheit am Tag nach diesem 1. Mai in Paris? Bewegt die Franzosen die nicht abreißende gewerkschaftliche Diskussion über die Rente tatsächlich? Die CGT wollte es von den Meinungsforschern des IFOP wissen. Und sieht sich bestätigt: 68 Prozent der Befragten wollen ein Referendum über die Rente und 73 Prozent der Beschäftigten fordern die Aufhebung des vor zwei Jahren von der damaligen Premierministerin Borne am Parlament vorbei durchgedrückten Gesetzes, das den Renteneintritt mit 64 Jahren vorsieht. Eine „Rente mit 60“ mobilisiert in Frankreich noch immer.

Demo-Szene, drei Stunden hinter der Spitze (Foto: privat)

Gewerkschaft oder Kirche?

Wer sie durchsetzen soll, ist allerdings unklar, denn nach einer anderen neueren Umfrage (bei statista nachlesbar) haben 43 Prozent der Befragten kein Vertrauen in die Gewerkschaften, diese Probleme lösen zu können. Das weiß auch die Gewerkschaft, die sich an der diesjährigen Mai-Demo in Paris nicht beteiligt hat: Die CFDT, mit 610 000 Mitgliedern im Augenblick die stärkste Gewerkschaft im Land, verhandelt an einem runden Tisch mit den Verbänden der Arbeitgeber um Änderungen an dem Gesetz. Es ist eine ständig vom Absturz bedrohte Gratwanderung für Marylise Léon, die Generalsekretärin der CFDT. Kompromisse auszuhandeln gehört in Frankreich zu den unbeliebtesten Geschäften. Und auch die Arbeitgeber wissen, dass die Gewerkschaften in ihrem Land schwach sind: Nur zehn Prozent der Beschäftigten sind Mitglieder einer der Gewerkschaften, die oft genug eher gegeneinander denn miteinander arbeiten. Der entspannte, dennoch lautstarke und volksfesthafte Politkarneval am Place d’Italie kann darüber nicht hinwegtäuschen.

Am nächsten Tag verkündet die CGT dennoch vollmundig, 100 000 Menschen hätten an der Demo teilgenommen, das Innenministerium relativiert diese Zahl auf 32 000. Auch diese Angabe dürfte überhöht sein, passt aber zu einer anderen Zahl, die in diesen Tagen an der Seine kursiert: 32 000 Besucherinnen und Besucher schleust die katholische Kirche nach eigenen Angaben zur Zeit täglich durch die nach dem verheerenden Brand wiedererstrahlte Notre Dame. Kirche oder Gewerkschaft? Wirklich mächtig ist weder die eine noch die andere.

Vor der Kirche und den geduldig wartenden Menschenschlangen steht am 2. Mai ein riesiges Zelt. Den „Tag des Brotes“ eröffnet darin am Vormittag Bürgermeisterin Anne Hidalgo höchstpersönlich. Und es duftet nach Kuchen, Croissant und frischem Baguette: Es ist dieser Duft, der alle Französinnen und Franzosen eint. Und nicht nur sie.

Jutta Roitsch
Jutta Roitsch, Diplom-Politologin und freie Autorin, von 1968 bis 2002 leitende Redakteurin der Frankfurter Rundschau, verantwortlich für die Seiten »Aus Schule und Hochschule« und »Dokumentation«, seit 2002 als Bildungsexpertin tätig, Engagement in der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union, vereinigt mit der Gustav-Heinemann-Initiative (GHI), Autorin der "Blätter für deutsche und internationale Politik", der "Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik".

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