Economia Popular: Argentinische Herausforderung und globale Aufgabe

Marina Cardelli, Dozentin an der Universität Buenos Aires, im Interview mit Matthias Schulze-Böing (Foto: privat)

Informelle Wirtschaft ist ein weltweites Phänomen. Die OECD schätzt ihren Anteil am Wirtschaftsergebnis außerhalb des Agrassektors in Entwicklungsländern und Übergangsökonomien wie Argentinien und Brasilien in einer Spanne von 30 bis 70 Prozent, in einigen Ländern sogar auf 90 Prozent und mehr. In den entwickelten Volkswirtschaften hat die informelle Wirtschaft nach diesen Schätzungen immer noch einen Anteil von über zehn Prozent der Wirtschaftsleistung, auch hier mit erheblichen Unterschieden zwischen den einzelnen Ländern. In Italien etwa geht man davon aus, dass über 20 Prozent der Wirtschaftsaktivitäten informell stattfinden, also außerhalb der Steuersystems und außerhalb der Regulierungen durch Arbeitsrecht, kollektive Tarifvereinbarungen und Arbeitsstättenverordnungen. “Is informal normal?” titelte die OECD im Jahr 2009 eine Veröffentlichung zur Analyse der Entwicklung informeller Wirtschaft1. Damals wie heute muss man das für einen großen Teil der Weltwirtschaft ganz klar mit “Ja” beantworten.

Lange Zeit ist man davon ausgegangen, dass ein hoher Anteil der informellen Wirtschaft ein Übergangsphänomen im langfristigen Prozess der Modernisierung ist, ein Ausdruck schwacher staatlicher Institutionen, fehlender Großunternehmen mit internationalen Verbindungen und nicht funktionierender Arbeitsmärkte. Modernisierung und Wachstum dagegen würden die informellen Strukturen überflüssig machen, sie allmählich verdrängen und in die Formalbeziehungen überführen, die moderne Organisationen und Wirtschaftsbeziehungen ausmachen.

In der Tat sind, nach allem was man dazu weiß, Unterentwicklung, aber auch Schocks durch Naturkatastrophen und Wirtschaftskrisen Faktoren, die den informellen Sektor wachsen lassen. Der formelle Sektor kann das Überleben nicht sichern, also suchen sich die Menschen Auswege und Umwege und sind dabei durchaus kreativ, zuweilen auch erfolgreich.

Mischsysteme formeller und informeller Ökonomie

Es gibt aber auch viele Hinweise, dass in bestimmten Situationen die formelle Ökonomie mit dem informellen Sektor bedeutende Austauschbeziehungen entwickelt, die den Übergang vom informellen in den formellen Bereich bremsen oder gar konterkarieren. Multinationale Konzerne können Kosten senken, wenn sie mit Zulieferern aus dem informellen Sektor zusammenarbeiten und Arbeiten nicht von eigenen Mitarbeitern, sondern von Heerscharen informeller Arbeiter in modernen Varianten des schon von Karl Marx beschriebenen Verlagssystems und in Sewatshops mit frühindustriellen Arbeitsbedingungen erledigen lassen. Diese mögen zwar, weil weniger kapitalintensiv und auf kleinsten Größenordnungen arbeitend, unproduktiver sein. Aber das machen der Arbitragegewinn aus Steuervermeidung, fehlendem Arbeitsschutz, selbstausbeuterischen Arbeitsbedingungen und die damit verbundenen Kostenvorteile mehr als wett, so dass sich stabile Mischsysteme von formeller und informeller Ökonomie herausbilden können. In den Kategorien von Marx müsste man dabei von der Produktion des “absoluten Mehrwerts” sprechen im Unterschied zum “relativen Mehrwert”, der durch eine immer weiter verfeinerte und durchrationalisierte industrielle Produktionsweise generiert wird.

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) betrachtet die anhaltende Bedeutung der informellen Ökonomie als eine der größten Herausforderungen beim Kampf um bessere Arbeitsbedingungen. In ihrer inzwischen berühmten Empfehlung 204 beschreibt sie, wie informelle Arbeit Schritt für Schritt in die formale Strukturen überführt werden kann, ist sich dabei aber auch sehr bewusst, dass die informelle Wirtschaft noch immer für das Überleben sehr großer Bevölkerungsgruppen unverzichtbar ist, also nicht gedankenlos wegreguliert werden kann.

In Argentinien haben sich mit einer Serie von Wirtschafts- und Finanzkrisen, staatlichem Missmanagement und dem Niedergang des peronistischen Systems der wirtschaftlichen und sozialen Regulierung Bedingungen herausgebildet, in denen der formelle Wirtschaftssektor nur für einen immer kleineren Teil der Arbeitsbevölkerung Jobs bereitstellte. Zugleich wurden im Zuge neoliberaler Reformen soziale Sicherungssysteme geschwächt oder sie konnten gar nicht erst als Krisenbewältigungsmechanismus entstehen. Und so entstand in diesem in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts noch durchaus wohlhabenden Land eine Konstellation, die man in einem gewissen Umfang auch in einigen europäischen Ländern kannte: Ein immer kleinerer formeller Sektor der Privatwirtschaft bietet für die dort beschäftigten und in teilweise durchaus konfliktstarken Gewerkschaften organisierten Arbeitnehmer noch halbwegs akzeptable Arbeitsbedingungen und sichere Arbeitsplätze. Der Staatssektor ist finanziell als Auffangbecken für den Arbeitsmarkt überfordert und schottet sich dort, wo es starke Gewerkschaften gibt, nach außen ab. Der wachsende Rest der Bevölkerung muss sehen, wo er bleibt.

Informelle Arbeit gewerkschaftlich organisieren

Paradoxerweise gibt es in Argentinien mit zuletzt sechs Prozent eine für europäische Verhältnisse nur sehr moderate offizielle Arbeitslosigkeit. Aber das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass es sich aufgrund des Fehlens einer leistungsfähigen Arbeitslosenversicherung und nur schwacher Vermittlungsleistungen der Arbeitsverwaltung für die meisten kaum lohnt, sich als arbeitslos registrieren zu lassen. Um über die Runden zu kommen, muss jeder irgendetwas tun, um an Geld zum Überleben und Zugang zu existentiellen Ressourcen zu kommen. Das lässt den informellen Sektor wachsen, der inzwischen nach Schätzungen von OECD, Weltbank und ILO zwischen 20 und über 30 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes generiert.

Diese Entwicklung hat eine bemerkenswerte Dynamik sozialer Selbstorganisation ausgelöst, zwar aus großer Not geboren, aber doch auch versehen mit Zügen einer selbstbewussten Profilierung als Modus der Problemlösung dort, wo die etablierten Kräfte des peronistischen Korporatismus versagt haben. Schon der Name, dem man diesem Phänomen gegeben hat, “Economia Popular” (Ökonomie des Volkes), zeigt, dass man die informelle Wirtschaft durchaus nicht nur als pathologischen Auswuchs einer degenerierten kapitalistischen Produktionsweise sieht, sondern auch als Raum erfolgreicher Selbstorganisation und Selbsthilfe, die in mancher Hinsicht als Gegenentwurf zur herrschenden Wirtschaftsform und als Ausgangspunkt neuer Formen des Kampfes um gesellschaftliche Anerkennung und soziale Rechte angesehen wird2.

Ein Ausdruck einer gewissen Normalisierung von Informalität ist nicht zuletzt die Gründung einer Gewerkschaft, Unión de Trabajadores y Trabajadoras de la Economía Popular (UTEP), Ende des Jahres 2019, als Zusammenschluss von Arbeiterorganisationen und sozialen Bewegungen, die in Reaktion auf den argentinischen Staatsbankrott in den Jahren 2001 und 2002 entstanden waren.

Eine Gewerkschaft zur Organisation informeller Arbeit – ist das nicht so etwas wie ein hölzernes Eisen? Schließlich ist es immer ein Kernanliegen der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften gewesen, rechtlich bindende kollektive Vereinbarungen zu Löhnen und Arbeitsbedingungen zu erstreiten, soziale Schutzrechte zu erkämpfen und den rechtlichen Rahmen für Arbeit und Wirtschaft zu verteidigen. In der informellen Ökonomie dagegen mag es eine Fülle von wirtschaftlichen Abhängigkeiten und Machtbeziehungen geben, aber es gibt keine Arbeitgeber, mit denen man irgend etwas verhandeln könnte, schon gar nicht mit dem Ziel rechtlich bindender Vereinbarungen. Und Streiks kann man sich im informellen Sektor auch nicht so richtig vorstellen. Wie funktioniert der Kampf der UTEP?

Dazu habe ich ein Interview mit Marina Cardelli geführt, hauptberuflich Dozentin an der Universität Buenos Aires, ehren- und nebenamtlich Aktivistin und Sekretärin für internationale Beziehungen im Movimiento Evita, einer Basisorganisation der UTEP. Marina war im März 2025 im Rahmen des vom EU-Forschungsprogramms HORIZON geförderten Projekts INSEAI für vier Wochen Gast der Gesellschaft für Wirtschaft, Arbeit und Kultur ( GEWAK) und der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Interview mit Marina Cardelli

Matthias Schulze-Böing: Die Economia Popular (EP) scheint in Argentinien ein großes Thema zu sein. In Deutschland gibt es zwar einen informellen Sektor, aber nichts Vergleichbares zu diesem Phänomen in Argentinien. – Wie hat sich die EP entwickelt? – Warum ist sie so stark gewachsen?

Marina Cardelli: Die EP in Argentinien ist nicht nur ein informeller Sektor – sie ist die kollektive Reaktion ausgegrenzter Arbeiter auf ein System, das ihnen keinen Platz mehr garantiert. Sie entwickelte sich als Form des Widerstands und der Existenzsicherung im Kontext tiefgreifender wirtschaftlicher Transformationen, insbesondere seit den 1970er Jahren, als neoliberale Reformen große Teile der industriellen Basis des Landes zerstörten, die Arbeitswelt deregulierten und Millionen Menschen aus der formellen Beschäftigung drängten. In diesem Kontext und insbesondere nach der Krise von 2001 begannen Millionen von Menschen, ihre eigene Existenzgrundlage zu schaffen – indem sie Fabriken zurückeroberten, Genossenschaften gründeten, Recycling betrieben, Waren verkauften und Netzwerke der Fürsorge und Produktion von unten aufbauten.

Das ist kein Randphänomen – die EP bildet die Grundlage für das Verständnis, wie breite Bevölkerungsschichten jenseits des formellen Arbeitsmarktes und traditionellen Unternehmertums leben, arbeiten und sich organisieren. Dazu gehören auch Arbeitnehmer, die keinen Arbeitgeber haben und vom Staat nicht anerkannt werden, aber dennoch täglich ihr Leben reproduzieren, oft in sozial und wirtschaftlich marginalisierten Bereichen. Die Ausweitung der EP zeigt einen zentralen Widerspruch des zeitgenössischen Kapitalismus: den Widerspruch zwischen denen, die für die Kapitalakkumulation nützlich sind, und denen, die als überzählig gelten. Die EP ist gewachsen, weil Überzähligkeit nie akzeptiert werden kann.

Heute besteht die Herausforderung nicht nur darin, das Existenzrecht innerhalb dieses Modells zu verteidigen, sondern ein anderes aufzubauen – basierend auf Solidarität, kollektiver Organisation und der Anerkennung von Arbeit jenseits des Lohnverhältnisses. Dies erfordert die Schaffung neuer Institutionen, die die aus der Massenökonomie hervorgehenden Arbeits-, Organisations- und Wertformen anerkennen, schützen und fördern. (…)

Die UTEP wurde gegründet, um für diese Ziele zu kämpfen. Du bist dort eine der führenden Aktivistinnen. Wie ist die UTEP organisiert, wie funktioniert ihre Arbeit? Was verbindet sie mit traditionellen Gewerkschaften, was unterscheidet sie?

Marina Cardelli: Die UTEP organisiert arbeitende Menschen, die nicht in den traditionellen Arbeitsrahmen eingebunden sind – also ohne Arbeitgeber und ohne formellen Arbeitsvertrag, die aber dennoch täglich in den Bereichen Recycling, Pflege, informeller Handel, Baugewerbe, Landwirtschaft, Textilproduktion und kommunale Dienste arbeiten. Die UTEP ist das Ergebnis eines langen Prozesses der Annäherung verschiedener Bewegungen und Organisationen, die nach der Krise von 2001 entstanden sind. Zu den Schlüsselfiguren der Gründung zählen Emilio Pérsico, Esteban „Gringo“ Castro und andere langjährige Anführer von sozialen Bewegungen.

Bild: Screenshot Website UTEP

Die UTEP ist keine traditionelle Gewerkschaft. Sie vertritt einen Sektor, der strukturell von Arbeitsrechten und sozialem Schutz ausgeschlossen war. Ihr Organisationsmodell verbindet die Logik einer Gewerkschaft mit der einer sozialen Bewegung: Sie verteidigt Rechte, verhandelt mit dem Staat und baut gleichzeitig produktive Projekte, Gemeinschaftsnetzwerke und territoriale Strukturen auf. Ihre Mitglieder sind Millionen von Arbeitnehmern – hauptsächlich Frauen –, die in Kooperativen, Nachbarschaftsversammlungen, Gemeinschaftsküchen, Recyclingkollektiven und selbstverwalteten Unternehmen organisiert sind. Im Gegensatz zu klassischen Gewerkschaften beruht ihre Legitimität nicht auf Tarifverhandlungen mit einem einzelnen Arbeitgeber, sondern auf der politischen Anerkennung neuer Arbeits-, Wert- und Organisationsformen.(…)

Die UTEP fordert Anerkennung, Umverteilung und die Institutionalisierung neuer Arbeitnehmerrechte. Arbeitnehmer in der EP sind keine Randgruppen – sie schaffen Wert, erhalten ganze Gemeinschaften und tragen in vielen Fällen indirekt zu den Gewinnen großer Unternehmen bei. Daher müssen ihnen die gleichen Rechte und der gleiche Schutz garantiert werden wie allen anderen Arbeitnehmern.

Deutsch-argentinische Unterschiede

Du hast in der Zeit bei uns in der GEWAK einen Einblick in den deutschen Arbeitsmarkt und die deutschen Gewerkschaften bekommen. Welche Unterschiede zur Situation in Argentinien würdest du besonders hervorheben?

Marina Cardelli: Einer der größten Unterschiede liegt in der großen Koninuität der Arbeiterbewegung in Deutschland. Gewerkschaften wie die IG Metall, IG BAU oder VER.Di agieren in einem relativ stabilen institutionellen Rahmen, der auf Tarifverhandlungen, sozialem Dialog und starkem Arbeitnehmerschutz basiert. Selbst angesichts der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes oder der Ausweitung atypischer Verträge bleibt eine ausgeprägte Verhandlungs- und Vertretungskultur im formellen Arbeitsverhältnis bestehen.

Im Gegensatz dazu ist der argentinische Arbeitsmarkt deutlich fragmentierter, geprägt von hoher Informalität und struktureller Arbeitslosigkeit. Ein erheblicher Teil der Arbeiterklasse – insbesondere in den städtischen Randgebieten – hat keinen Zugang zu formellen Verträgen, sozialer Absicherung oder gewerkschaftlicher Vertretung. Hier erweist sich die EP als Notwendigkeit und politisches Projekt zugleich: eine Antwort von unten auf die Grenzen eines Arbeitsmodells, das nicht mehr alle einschließt. Wie ich während meines Austauschs in Frankfurt erfahren habe, gibt es zwar auch in Deutschland einen informellen Sektor, dieser ist jedoch weder in seinem Ausmaß noch in seiner zentralen Bedeutung für die soziale Reproduktion mit Argentinien vergleichbar.

Ein weiterer wesentlicher Unterschied ist die Ausrichtung der Gewerkschaftsarbeit. Während deutsche Gewerkschaften meist innerhalb klar definierter Branchen und Unternehmen verhandeln, organisiert die UTEP – wie andere Bewegungen ausgegrenzter Arbeitnehmer in Lateinamerika – sektorübergreifend und verteidigt das Recht auf Arbeit an sich, nicht nur die Bedingungen, unter denen sie ausgeübt wird. Ihr Ansprechpartner ist nicht ein einzelner Arbeitgeber, sondern der Staat und die Gesellschaft als Ganze. Daher ist die UTEP nicht nur eine Gewerkschaft, sondern eine treibende Kraft für institutionelle Innovation und fordert die Schaffung neuer Rechte und Schutzmechanismen für Arbeitnehmer, deren Arbeit unverzichtbar, aber nicht anerkannt ist.

Gibt es partnerschaftliche Beziehungen zwischen UTEP und anderen Gewerkschaften oder herrscht Konkurrenz?

Marina Cardelli: Einerseits wächst die Erkenntnis, dass die Veränderungen in der Arbeitswelt neue Formen der Kommunikation erfordern. In diesem Sinne hat die UTEP Allianzen mit Teilen der traditionellen Arbeiterbewegung geschlossen – insbesondere innerhalb der Confederación General del Trabajo (CGT) und der Central de Trabajadores de la Argentina (CTA).

Gleichzeitig gibt es Spannungen. UTEP stellt die Grenzen dessen in Frage, was als „Arbeit“ gilt und wer im Namen der Arbeiterklasse sprechen darf. Das führt unweigerlich zu Streitigkeiten – über politischen Einfluss, institutionelle Repräsentation und den Zugang zu staatlichen Ressourcen. Teilweise haben traditionelle Gewerkschaften die Legitimität von UTEP als Gewerkschaft in Frage gestellt, mit der Begründung, sie vertrete „Leistungsempfänger“ (von sozialen Leistungen) und nicht Arbeiter. Aus unserer Sicht geht diese Unterscheidung jedoch am Kern der Sache vorbei: Die Mitglieder von UTEP sind Arbeiter, gerade weil sie produzieren, pflegen, recyceln, aufbauen und Leben erhalten – auch ohne Lohn oder Vertrag.

Obwohl es keinen strukturellen Gegensatz gibt, herrscht eine Spannung zwischen unterschiedlichen Arbeitsauffassungen und der heutigen Definition der Arbeiterklasse. In diesem Sinne strebt die UTEP nicht nur nach Anerkennung, sondern streitet auch darüber, was es bedeutet, im 21. Jahrhundert Arbeiter zu sein.

Was sind die wichtigsten Errungenschaften der UTEP in den letzten Jahren?

Marina Cardelli: Wichtig war die Anerkennung der EP als legitimen Bestandteil des argentinischen Produktions- und Sozialgefüges. Durch nachhaltige Mobilisierung, politische Artikulation und Organisation in den Regionen gelang es der UTEP, die öffentliche Debatte zu verändern: Was früher als marginal, prekär oder schlicht informell galt, wird heute – zumindest teilweise – als Arbeit verstanden, die Leben, Gemeinschaften und Wertschöpfungsketten erhält.

Auf institutioneller Ebene spielte die UTEP war der “Salario Social Complementario” (ergänzender Soziallohn) ein erster Schritt zur Anerkennung des Einkommensrechts für ausgeschlossene Arbeitnehmer und entwickelte sich später zum “Potenciar Trabajo” -Programm – einer nationalen Initiative zur Einkommensunterstützung, die zeitweise über eine Million Menschen erreichte. Die UTEP trieb zudem die Schaffung des RENATEP (Nationales Register der Arbeitnehmer der EP) voran, das bereits über vier Millionen registrierte Personen zählt. (…) Parallel dazu sicherte die UTEP die Finanzierung von Produktionseinheiten, Wohnungsbaugenossenschaften, Recyclingsystemen und kommunalen Pflegenetzwerken und bewies damit, dass die EP nicht nur tragfähig, sondern auch strategisch wichtig ist.

Straßenküchen in Quartieren – ein wichtiger Bereich der Economia Popular Foto: privat

Ein weiterer wichtiger Erfolg war die rechtliche Anerkennung der UTEP als Gewerkschaft (Personería Social) im Jahr 2020. Dies war nicht nur ein symbolischer Schritt; er ermöglichte der Organisation, ihre Mitglieder in institutionellen Dialogen zu vertreten und Beteiligung an der Politikgestaltung einzufordern. Heute organisiert die UTEP über 500.000 formal angeschlossene Mitglieder. (…) Jeder dieser Erfolge spiegelt ein umfassenderes politisches Projekt wider: nicht nur die Anerkennung innerhalb des bestehenden Systems, sondern dessen Transformation.

Was sind die aktuellen Konflikte, in die UTEP verwickelt ist?

Marina Cardelli: Seit dem Amtsantritt von Präsident Javier Milei im Dezember 2023 hat die neue Regierung ein aggressives Sparprogramm gestartet, das die Sozialausgaben drastisch kürzt und wichtige Unterstützungsstrukturen für die öffentliche Wirtschaft abschafft. In diesem Zusammenhang kämpft die UTEP grundsätzlich um Lebensmittel. Der Staat hat die Lebensmittellieferungen an Gemeinschaftsküchen eingestellt und die Einkommensunterstützungsprogramme gekürzt – und das zu einem Zeitpunkt, an dem der Hunger in armen Vierteln zunimmt.

Die Lage ist nicht wegen eines neuen Inflationsanstiegs kritisch, sondern weil die Preise – insbesondere für Lebensmittel und lebensnotwendige Güter – nach wie vor extrem hoch sind, während die Einkommen eingebrochen sind. Gleichzeitig befindet sich die Wirtschaftstätigkeit im freien Fall, und die Anpassung hat die EP zuerst und am härtesten getroffen. Informelle Arbeiter sind auf eine sich entwickelnde Wirtschaft angewiesen: Straßenverkäufer, Gelegenheitsjobs (Changas), Baugewerbe, Haushaltsdienstleistungen, lokaler Handel. Angesichts eines stagnierenden Marktes, sinkenden Konsums und eines starken Wechselkurses, der den Finanzsektor gegenüber dem Produktionssektor begünstigt, stehen diejenigen, die von der Hand in den Mund leben oft vor dem Nichts.

In diesem Szenario mobilisiert die UTEP weiterhin: Sie organisiert Proteste, verhandelt mit den Behörden und fordert dringende Nothilfemaßnahmen, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. (…) Die UTEP schlägt Alarm vor den Folgen einer Politik, die die Schwächsten im Namen einer wirtschaftlichen Schocktherapie opfert.

Die Gewerkschaftsbewegung erfindet sich neu

Wie siehst Du die Zukunft Argentiniens und der UTEP?

Marina Cardelli: Die aktuelle soziale Lage ist äußerst prekär – die Armut nimmt zu, Arbeitnehmerrechte werden angegriffen, und viele Institutionen, die die Schwächsten schützten, werden abgebaut. Ich glaube aber auch, dass Krisenmomente zu Wendepunkten werden können. In Argentinien haben wir eine lange Geschichte des Widerstands, der Organisation der Bevölkerung und des Wiederaufbaus von unten. Diese Energie ist noch immer lebendig.

Die Gewerkschaftsbewegung wird gezwungen sein, sich neu zu erfinden – nicht nur, um das Verlorene zu verteidigen, sondern auch, um ihren Horizont zu erweitern. UTEP tut dies bereits: indem sie die nicht anerkannten Arbeitskräfte organisiert, lokale und regionale Ökonomien aufbaut und Wissen und politische Vorschläge von der Basis aus entwickelt. Ich sehe UTEP nicht nur als Gewerkschaft, sondern als Laboratorium demokratischen Wandels. Ihre Zukunft hängt von unserer Fähigkeit ab, vereint zu bleiben, füreinander zu sorgen und weiterhin Institutionen aufzubauen, die die Realität der heutigen Arbeiterklasse widerspiegeln. Aus der Perspektive der Economia Popular ist Arbeit nicht nur eine Einkommensquelle – sie ist eine Möglichkeit, dazuzugehören, Gemeinschaft zu bilden und Rechte wahrzunehmen. Und in einer Zeit, in der die Regierung nicht nur ihre Unterstützung zurückzieht, sondern das organisierte Leben armer Gemeinschaften aktiv angreift, bedeutet die Verteidigung der Arbeit auch die Verteidigung der Räume kollektiven Aufbaus und Überlebens.

Eine hoffnungsvolle Zukunft ist ohne einen breiten und ehrlichen Dialog über das Land, das wir uns wünschen, nicht vorstellbar – einen Dialog, der Arbeitnehmer, Privatwirtschaft und Staat einschließt. Ein Projekt nationaler Entwicklung, das niemanden zurücklässt. Doch Mileis Regierung weigert sich nicht nur, diesen Dialog zu führen – sie arbeitet aktiv daran, ihre Gegner zu vernichten und das soziale Gefüge zu zerstören, das ein Zusammenleben ermöglicht. Deshalb hängt die Zukunft davon ab, ob es einer breiten politischen Koalition gelingt, diese inklusive Vision eines Landes wieder in den Mittelpunkt der öffentlichen Agenda zu rücken. Persönlich möchte ich weiterhin zu dieser Debatte beitragen – nicht nur in Argentinien, sondern weltweit. Die Economia Popular ist keine lokale Anomalie, sondern Teil eines globalen Phänomens. Weltweit arbeiten Millionen Menschen außerhalb formaler Rahmenbedingungen, bauen Alternativen auf und fordern Würde ein. Dies ist nicht nur eine argentinische Herausforderung, sondern eine globale Aufgabe.

(Aus dem Englischen übersetzt von Matthias Schulze-Böing)


1  Jütting, Johannes P./de Laiglesia, Juan R. (eds.): Is Informal Normal? Towards More and Better Jobs in Developing Countries, Paris 2009: OECD; vgl. auch: Andrews, Dan / Sánchez, Aida Caldera / Johannson, Asa: Toward a Better Understanding of the Informal Economy, Paris 2011: OECD (Economics Department Working Papers No. 873); ILO: Transition from the informal to the formal economy. Theory of change, Geneva 2021: International Labour Organization; Deéchat, Corinne / Medina, Leandro: What is the Informal Economy. Having fewer workers outside the formal economy can support sustainable development, Back to Basics, Washington 2020: International Monetary Fund; World Bank: Growing in the Shadow. Challenges of Informality, in: Global Economic Prospects 2019, Washington 2019, pp. 127-195; Ohnsorge, Franziska / Yu, Shu (eds.): The Long Shadow of Informality. Changes and Policies, Washington 2022: The World Bank Group

2  Zur Economia Popular und zur UTEP in Argentinien vgl. Amova, Mariyana / Vuotto, Mirta: The Creation of a Union Representation of the Popular Economy in Argentina A Recognition of the Informal and Self-employed Workers and its Role for Decent Work (SDG 8), New York 2019: United Nations Inter Afency Task Force on Social and Solidarity Economy; Cardelli, Marina: Brief Introduction to Our Perspective: What is The People´s Economy?, INSEAI Working Document, Buenos Aires 2025: UTEP & FecoEvita; Grabois, Juan / Pérsico, Emilio Miguel Angel: Organización y economía popular, Ciudad Autónoma de Buenos Aires 2019: CTEP – Asociación Civil de los Trabajadores de la Economía Popular;

Matthias Schulze-Böing
Dr. Matthias Schulze-Böing studierte in Frankfurt am Main und Berlin Soziologie, Volkswirtschaft und Philosophie. Er arbeitete in der Sozialforschung, schrieb Schulfunksendungen und lehrte in der Erwachsenenbildung. Bis Ende 2020 war er Leiter des Amtes für Arbeitsförderung, Statistik und Integration der Stadt Offenbach am Main, zur Zeit arbeitet er als Berater für die Stadt Offenbach und ist Vorsitzender der Gesellschaft für Wirtschaft, Arbeit und Kultur e. V. (GEWAK), Frankfurt am Main, in der er zusammen mit der Goethe-Universität Frankfurt Forschungsprojekte und Projekte zum Wissenschaftstransfer im Bereich der Arbeitsmarktpolitik umsetzt. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Arbeitsmarkt, zur Sozialpolitik, zur Verwaltungsreform, zur Stadtentwicklung und zu Themen der Migration.

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