Sind Sicherheitsgefühle bezahlbar?

Bild: geralt auf Pixabay

Die sicherheitspolitische Debatte kennt aktuell zwei unanfechtbare Glaubensbekenntnisse: Die Bedrohungslage ist zu hoch, die Verteidigungsfähigkeit zu niedrig. Als Stellgröße, die beides verbessern kann, gilt der Prozentanteil der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Nur über diese Prozentzahl darf gestritten werden, eine offene Diskussion über die Bedrohungslage und wie man sich in dieser Lage verteidigen kann, wird weitgehend verweigert. Ein bestimmter Prozentsatz vom BIP wird zum Gradmesser für Verteidigungsfähigkeit, wobei der Rüstungswettlauf auch das Bedrohungsgefühl nach oben schaukelt. Rechenkünste und Irrationalitäten marschieren im Gleichschritt.

Bundesaußenminister Johann Wadephul hat sich hinter die Forderung von US-Präsident Donald Trump gestellt, dass fünf Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung für Verteidigungsausgaben notwendig seien. Er machte sich dabei den Buchungstrick der von NATO-Generalsekretär Mark Rutte als Kompromiss vorgeschlagenen Aufteilung in klassische Verteidigungsausgaben in Höhe von 3,5 Prozent und gleichzeitig auch noch von 1,5 Prozent des BIP für militärisch nutzbare Infrastruktur zu eigen. Bundeskanzler Friedrich Merz hat bei seinem Antrittsbesuch diese Prozentzahlen als „Opfergabe“ für einen skandalfreien Besuch beim amerikanischen Präsidenten im Weißen Haus dargebracht. Trump – so wörtlich bei seinem Monolog im Oval Office – frage sich allerdings manchmal: „Zumindest bis zu einem gewissen Punkt“ halte er diese Entwicklung für richtig. Und fügte dann – vielleicht in Anspielung auf die deutsche Geschichte – hinzu: „Es wird einen Moment geben, da sage ich: Bitte nicht noch mehr aufrüsten.“ Auch der US-Außenminister Marco Rubio hat quasi als Bedingung für den Verbleib der Vereinigten Staaten im Militär-Bündnis vom NATO-Gipfel bis zu 5 Prozent der Wirtschaftskraft von allen Bündnispartnern gefordert.

Es wären 45 Prozent des Bundeshaushalts

Jochen Luhmann hat im Blog der Republik dargelegt, dass die Zustimmung der Bundesregierung zum Fünf-Prozentziel auf dem NATO-Gipfel am 24. und 25. Juni in Den Haag schon feststehe.  Diese Tagung findet zwei Tage vor Beginn des Bundesparteitages der SPD in Berlin statt. Ob die historische Weichenstellung einer von der NATO – ohne vorherige parlamentarische oder öffentliche Debatte – festgelegten Erhöhung des Verteidigungshaushalts auf 3,5 bzw. 5 Prozent des BIP bei den Diskussionen um die programmatische Erneuerung der Partei nach dem historisch schlechten Abschneiden bei der Bundestagswahl eine Rolle spielen wird, ist (wenn die Nebelkerzen, die der Vorsitzende Klingbeil derzeit noch wirft, schon verraucht sind und die Wahrheit auf dem Tisch liegt) wohl leider kaum zu erwarten. Die SPD hätte damit allerdings endgültig ihre Rolle als Friedenspartei aufgegeben.

Derzeit gibt es unterschiedliche Berechnungsmethoden für die Verteidigungsausgaben: Laut Angaben des Deutschen Bundestags sah der Bundeshaushalt für das Jahr 2024 72 Milliarden Euro für Verteidigung vor, damit erreichte Deutschland die NATO-Vorgabe von 2,1 Prozent. (Die 2 Prozent sind allerdings eher eine Zielorientierung als eine Vorgabe: „will aim to move towards the 2% guideline within a decade…“, so lautete der Beschluss von Wales 2014.)
Von den 72 Milliarden sollten knapp 52 Milliarden auf den regulären Verteidigungshaushalt entfallen; weitere rund 20 Milliarden aus dem damaligen, nach der „Zeitenwende“ von 2022 noch „nur“ 100-Milliarden umfassenden Sondervermögen für die Beschaffung von militärischer Ausrüstung finanziert werden.  Der NATO-Generalsekretär rechnet wieder anders: Danach wurden die Verteidigungsausgaben im Juni 2024 mit 90,6 Milliarden Euro für das zurückliegende Jahr errechnet. Die USA selbst kamen geschätzt im letzten Jahr auf 3,38 Prozent.

Screenshot: taz, 18. 06. 2024

Würde in den kommenden Jahren das auf dem Gipfel in den Haag von der NATO dann vorgegebene Ziel beschlossen, so würde das für die Bunderepublik gerechnet am BIP 2024 (4.305 Milliarden Euro nominal) bei 3,5 Prozent für Verteidigungsausgaben 151 Milliarden Euro bedeuten; und bei 5 Prozent Ausgaben entsprechend gar in Höhe von 215 Milliarden Euro. Der Bundeshaushalt liegt nach dem vorläufigen Jahresabschluss für 2024 bei 474, 8 Milliarden Euro. Würde man das Geld aus diesem normalen Haushalt nehmen, so wären das rund 45 Prozent.

Nun dürfte der größte Teil das Zuwachses aus dem noch vor dem Regierungsantritt von Kanzler Merz mit zwei Drittel Mehrheit beschlossenen Sondervermögen für Verteidigung finanziert werden, also schuldenfinanziert. Nur diese Verschuldung ist nach EU-Recht auch begrenzt. Die europäische Schuldengrenze wurde von der Kommission nur für vier Jahre von der Verfolgung eines Rechtsverstoßes ausgenommen. Danach müssten die Verteidigungslasten also wieder aus dem Kernhaushalt finanziert werden mit dramatischen Einschnitten auch in den Sozialhaushalten.
Diese Schuldenlasten sind dann wirklich überwiegend von den jüngeren Generationen zu schultern, wären sie doch keine Investitionen in den gesellschaftlichen „Kapitalstock“, von dem auch Jüngere in Zukunft profitieren würden. Im Gegenteil, die Diskussion um die Wehrpflicht zeigt, dass den jungen Frauen und Männer auch noch ein Wehrdienst oder ein Ersatzdienst auferlegt werden.

NVA – addieren oder subtrahieren

Kritikern der auf Jahre festgelegte Erhöhung des Verteidigungshaushalts auf 3,5 bzw. 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die sich vielfach – wie auch das Manifest der SPD Friedenskreise – auf Willy Brandt und dessen Entspannungspolitik berufen, wird oft vorgehalten, dass doch der damalige „Friedenskanzler“ 1974 auch schon etwa 3,5 Prozent des BIP für die Bundeswehr ausgegeben habe, also deutliche mehr als die rund 2 Prozent von heute.

Ein erfahrener Haushalts- und Finanzpolitiker hat das einmal nachgerechnet: 1974 betrug das BIP der BRD (umgerechnet in die heutige Währung)  526 Milliarden Euro. Nimmt man nun den Willy Brandt als Bundeskanzler zugeschriebenen Höchstbetrag an Verteidigungsausgaben von rd. 3,5 Prozent, so kommt man (umgerechnet) auf 18,4 Milliarden Euro.
Von 1974 bis 2022 sind die Preise auf das 2,19-fache gestiegen. Rechnet man die 18,4 Milliarden Euro in Preisen von heute um, dann betrug der Verteidigungsetat also etwa 40 Milliarden Euro. 2022 (also noch vor der „Zeitenwende) lag das deutsche BIP bei rd. 3.954 Milliarden Euro. Der Verteidigungsetat lag damals tatsächlich „nur“ bei rd. 1,3 des BIP. Das waren 50,3 Milliarden und damit rund 25 Prozent mehr als zu Willy Brandts Zeiten.

Von der Entwicklung seit 2022 soll hier gar nicht die Rede sein und von 2,5 bzw. 5 Prozent des künftigen BIP schon gar nicht. Das Paradoxe ist dabei noch, dass die Rüstungsausgaben das BIP noch steigern werden und deshalb bei einer prozentualen Bindung in Zukunft noch mehr für Verteidigung ausgegeben wird.

Das Ganze mag ein Rechenexempel sein, zeigt aber, wie man mit dem Verweis auf die Statistik lügen kann. Natürlich kann man einwenden, dass auch die Kosten etwa für Militärgerät entlang der Inflationsrate und möglicherweise auch verbesserter Technik gestiegen sind. Ein F 35 Bomber ist eben teurer als ein Starfighter. Aber dennoch ist die Messzahl 3,5 bzw. 5 Prozent vom BIP „irrational“, wie es im Manifest der SPD-Friedenskreise heißt.

Es fehlt eigentlich nur noch, dass gesagt wird, im Jahre 1974 müsste man noch die Kosten der Nationalen Volksarmee (NVA) der damaligen DDR zum bundesdeutschen Verteidigungsetat dazurechnen. Das Problem dabei wäre nur, dass die NVA damals gegen die Bundeswehr stand und daher eher hätte subtrahiert werden müssen.

Unter dem Titel „Milchmädchenrechnungen bei den Prozentzahlen vom BIP für Verteidigungsausgaben“ erschien eine vorherige Fassung des Beitrags auf dem Blog der Republik.

Wolfgang Lieb
Wolfgang Lieb ist Jurist und Publizist, er arbeitet als freier Autor. Nach dem Studium der Politik und Rechtswissenschaften an der FU Berlin, in Bonn und in Köln arbeitete er in der Planungsabteilung des Kanzleramtes in Bonn(Helmut Schmidt war Kanzler), wechselte als Leiter in das Grundsatzreferat der Landesvertretung NRW in Bonn, war Regierungssprecher des Ministerpräsidenten Johannes Rau und Staatssekretär im NRW-Wissenschaftsministerium. 2009 wurde mit dem Alternativen Medienpreis ausgezeichnet.

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