Ländliche Räume verlieren – ihre Jugend und ihre Zukunft

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Deutschland- und europaweit leiden viele ländliche Räume unter sehr starken Verlusterfahrungen: „Arbeit ist verloren gegangen, die Bewohner müssen pendeln; öffentliche Infrastruktur, also die Grundschule, das Freibad oder die öffentliche Bibliothek – ist verloren gegangen und damit auch konkrete Lebensqualität; und – sehr wichtig – die jungen Leute sind sukzessive abhandengekommen. Wohl auf Generationen. Und damit auch die Zukunft“, erläutert Berthold Vogel, Geschäftsführender Direktor des Göttinger Instituts für Sozialforschung. Zum dritten Mal1 überprüft Jutta Roitsch im Gespräch mit ihm Befunde und Einsichten des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ). 2020 gegründet mit elf Standorten, acht Universitäten und drei außeruniversitären Forschungseinrichtungen, erforschen hier rund 200 Sozialwissenschaftler:innen, wie es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie in Deutschland bestellt ist.

In den letzten 12 Monaten hat sich zwischen Elbe und Oder die Farbe blau, die für die rechtsextreme AfD steht, durchgesetzt. In unserem Gespräch vor einem Jahr haben Sie festgestellt: „Sich zur AfD zu bekennen, ist bis weit in die Mitte der Gesellschaft nichts Ungewöhnliches mehr.“ Dieses Ungewöhnliche hat sich in den Land- und zuletzt Bundestagswahlen vor allem in den östlichen Bundesländern bestätigt. Was treibt die Thüringer oder Brandenburger, die sich zu dreißig bis über vierzig Prozent für diese Partei entschieden haben, in die Arme der Rechtsextremen?

Prof. Dr. Berthold Vogel

Berthold Vogel: Sie sehen die AfD als Repräsentanten ihrer Interessen, als Garanten ihres neuen oder alten Wohlstands, als Vertreter eines gesunden Menschenverstandes, der an Bewährtem festhält. Zudem pflegt die AfD sehr intensiv und kreativ das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein. Zukurzkommen, also, die Anderen bekommen unverdientermaßen immer mehr als ich, das ist ein mittleres soziales Gefühl, das insbesondere soziale und materielle Aufsteiger kennen. Davon leben sehr viele in Ostdeutschland, aber eben auch im Westen, so dass die AfD auch hier punkten kann. Vom Großteil ihrer Wählerinnen und Wähler wird die AfD daher gar nicht als rechtsextrem wahrgenommen, sondern als politische Schutzmacht gegen eine Gesellschaftsveränderung „von oben“. Der kleine Mann und die normale Frau wollen in Ruhe leben, ohne Heizungsgesetze und Taurusdebatten, ohne zu viel Zuwanderung und ohne jede Zumutung, die das Erreichte in Frage stellen könnte.

Gerade im ländlichen und kleinstädtischen Raum Ostdeutschlands haben Sie in Ihren Forschungen zum sozialen Zusammenhalt wachsende autoritäre Neigungen festgestellt. Es habe sich eine rechtsextreme Kultur stabilisiert, „deren Wurzeln bis weit in die Zeiten der DDR zurückreichen“. Was sind heute, mehr als drei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR Zeichen dafür und was eigentlich kennzeichnet „rechtsextreme Kultur“?

Berthold Vogel: Nun, wie gerade eben schon betont, die AfD erhält ja nicht nur im Osten Zuspruch, sondern auch im Westen – und im Übrigen gerade im wohlhabenden Süden und Südwesten des Landes. Aber das Besondere im Osten ist sicher, dass dort besonders viele Menschen sowohl einen grundlegenden gesellschaftlichen Umbruch nach 1989 erlebt haben, der zwar auch Demütigungen und Kränkungen mit sich brachte, aber eben auch mit erheblichen materiellen und sozialen Zugewinnen einher ging. Ich teile nicht die Auffassung, dass der Osten eine Gesellschaft der Abgehängten und Absteiger ist. Das Gegenteil ist doch der Fall. Im Vergleich zum Ende der DDR geht es den Allermeisten in jeder Hinsicht besser. Aber kaum dass sich die Verhältnisse in den 2010er Jahren konsolidierten, kamen aus Politik und Gesellschaft die berechtigten Stimmen, die sagten, wir müssen unseren Lebensstil grundlegend ändern, wir müssen verzichten, wir müssen anderen Menschen helfen, wir müssen offen sein für Wandel. Das ist die Stunde der AfD, die klar formuliert: Wer das alles nicht möchte, der votiert für Deutschland zuerst. Den Aufstieg der AfD zu verstehen, ist daher gar nicht so kompliziert.

Eine autoritätsfixierte Mentalität, die kein Argument erreicht

Gehören auch die Traditionen dazu, die in den deutsch-sowjetischen Freundschaftsritualen gepflegt wurden und die in der DDR-Verfassung mit dem „Brudervolk“ verankert waren? In DDR-Zeiten selbst waren weder die sowjetischen Truppen noch die Rituale zu den Festen besonders beliebt. Werden da nachträglich Mythen entwickelt und gepflegt, die sich vor allem gegen den Westen und die USA einsetzen lassen?

Berthold Vogel: Ja, absolut. Als ich den 1990er Jahren zu Forschungszwecken sehr viel in Brandenburg unterwegs war, da war der Hass auf „die Russen“ in Gesprächen sehr präsent. Von deutsch-sowjetischer Freundschaft war da wenig zu spüren. Sicher nicht bei allen, aber doch bei sehr Vielen. Und jetzt lebt auf bemerkenswerte Weise eine Vergangenheit auf, die niemals existierte. Ich denke, das ist für manchen auch ein Ventil gegen „den Westen“. Der Tenor von AfD, BSW und auch zu guten Teilen bei der Linken im Osten ist ja: ihr im Westen versteht den Osten nicht. Und so unsensibel wie ihr zu uns wart, so brachial sind „der Westen“, „die Nato“ oder „die Amerikaner“ gegen „die Russen“ vorgegangen. Während die Balten, Polen oder Tschechen ein sehr klares Bild von der Aggressivität Russlands haben, suggeriert hierzulande eine zwar kleine, aber lautstarke Querfront von rechts nach links, der Westen sei an Hochrüstung interessiert und man müsse doch auch mal den Putin verstehen und vor allem mit ihm reden. Dieser – bitteschön – ebenso einfältige wie angesichts des brutalen Kriegs gegen die Ukraine geradezu obszöne Pazifismus, der Täter und Opfer nicht mehr unterscheiden kann, macht fast noch mehr Angst als das konkrete Wahlverhalten. Denn hier wird tatsächlich eine autoritätsfixierte Mentalität sichtbar, die kein Argument mehr erreicht.

Mir ist in Reportagen, in denen Kolleginnen und Kollegen im Osten versuchen herauszufinden, wer und warum AfD gewählt wurde, eine neue Sprache, oft mit einem ironischen Beiklang, aufgefallen: Es wird von den „Ureinwohnern“ geschrieben und den „Berlinern“ und den „Zugereisten“, darunter zählen auch die Asylbewerber. Die „Ureinwohner“ fühlten sich von den übrigen ihrer Heimat, ihrer Identität und ihrer Eigenarten beraubt. Sind solche Zuschreibungen zutreffend? Oder haben Definitionen in politischen Berichten über die „echten“ Ostdeutschen (die mit einer DDR-Sozialisation) zu einer solchen Selbstwahrnehmung beigetragen? Stellen Sie in Ihren Forschungen über die Sozialen Orte und den gesellschaftlichen Zusammenhalt solche Selbst- und Fremdwahrnehmungen fest? Sie sind im übrigen keinesfalls ein ostdeutsches Phänomen: In Frankreich richtete sich ein Teil der Gelbwestenproteste auch gegen die „Pariser“ und die Migranten, die in ihre Dörfer und Kleinstädte gezogen seien und nicht bereit seien, sich an ihr Leben und ihre Traditionen anzupassen. Dazu passt, dass seit den letzten Wahlen der Vormarsch des rechtsextremen Rassemblement National (RN) nicht nur in den alten Industriegebieten des Bergbaus, sondern gerade im ländlichen Bereich auffallend ist. Lassen sich diese Entwicklungen vergleichen?

Ein Roman über das modernisierte, automobilisierte, flurbereinigte Dorf

Berthold Vogel: Ich denke schon, dass sich hier Vergleiche ziehen lassen. Das gilt nicht nur mit Blick auf Frankreich, sondern wir sehen das auch in Polen, Tschechien oder in Österreich. Der ländliche Raum – und damit sind sogar eher die Kleinstädte als die Dörfer gemeint – tickt in anderer Weise als die urbanen Zentren. Nicht überall, aber in vielen ländlichen Räumen gibt es sehr starke Verlusterfahrungen. Arbeit ist verloren gegangen, die Bewohner müssen pendeln; öffentliche Infrastruktur, also die Grundschule, das Freibad oder die öffentliche Bibliothek – ist verloren gegangen und damit auch konkrete Lebensqualität; und – sehr wichtig – die jungen Leute sind sukzessive abhandengekommen. Wohl auf Generationen. Und damit auch die Zukunft. Der ländliche Raum erlebt in demografischer Hinsicht einen massiven Verlust an sozialer Zukunft. Wenn Zuzug, dann von urbanen Rentnern, die aus der Sicht der Einheimischen alles besser wissen, oder durch Migration, die von Vielen als verunsichernd wahrgenommen wird, zumal unklar ist, welche Perspektiven insbesondere junge Migrantinnen und Migranten vor Ort haben sollen, wenn schon die eigenen jungen Leute nicht mehr hierbleiben konnten. Daraus entsteht dann rasch ein Bild: „unsere“ Leute müssen gehen und „andere“ bemächtigen sich des Ortes. Wie fragwürdig im Einzelnen solche Bilder in ihrer politischen Instrumentalisierung auch sind, sie sind wirkmächtig, denn sie haben einen harten Realitätskern. Noch ein Wort: Unser Konzept der Sozialen Orte bemüht sich ja, genau an dieser Stelle anzusetzen, neue öffentliche Infrastrukturen zu schaffen, unterschiedliche Lebenswirklichkeiten zusammen zu bringen und auch neue Haltepunkte für den lokalen Zusammenhalt zu entwickeln.

Europa wird in der Fläche ein Kontinent der Senioren

Die hohe Aufmerksamkeit in Politik, Gesellschaft und Medien auf die Rechtsextremen verstellt den Blick auf eigentliche Herausforderungen: Die östlichen Bundesländer, vor allem Sachsen und Thüringen, sind überaltert und werden zu Ländern der Rentnerinnen und Rentner. Die Zahl der Geburten geht seit drei Jahren erkennbar zurück und es fehlen die jungen Frauen im gebärfähigen Alter. Warum gelingt es Politik und Gesellschaft nicht, die vielen jungen Menschen, die die Hochschulen und Universitäten von Greifswald bis Chemnitz, von Magdeburg bis Cottbus besuchen, in den jeweiligen Ländern zu halten? Selbst in der attraktiven und beliebten Unistadt Leipzig sagen Studierende immer wieder, dass sie nach dem Studium nicht bleiben wollen. Genaue Untersuchungen über den Verbleib ihrer Hochschulabsolventinnen und Hochschulabsolventen haben die ostdeutschen Universitäten bisher nicht geliefert. Was läuft da schief?

Berthold Vogel: Nun ja, man könnte auch sagen: die Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt und es gibt ja die Beispiele der Rückkehrer in den ländlichen Raum. Aber die Einzelfälle werden den Trend nicht stoppen können. Da gebe ich Ihnen selbstverständlich recht. Der ländliche Raum überaltert dramatisch, das gilt im Übrigen nicht nur in Thüringen oder Sachsen-Anhalt, sondern auch in Teilen Niedersachsens oder auch in Rheinland-Pfalz und es gilt noch sehr viel dramatischer in Europa insgesamt, von Bulgarien bis Spanien. Europa wird in der Fläche betrachtet ein Kontinent der Senioren. Denn auch die Zuwanderung konzentriert sich in den Metropolen. Diese demografischen Effekte auf das soziale Miteinander, auf Veränderungs- und Risikobereitschaft, auf Kreativität und Innovationskraft dürfen wir nicht übersehen. Zwar würde ich als Soziologe sagen, dass soziale Lage immer noch vor Alter geht, aber dennoch ist Alter und Generationenzugehörigkeit ein wichtiger Faktor. Insofern wäre es notwendig, eine Politik des lokalen Zusammenhalts und der sozialen Orte mit einer klugen und investiven Demografiepolitik zu verbinden. Der anhaltende Rückbau von öffentlichen Gütern und Leistungen der Daseinsvorsorge zieht junge Leute, gerade in der Familienphase, mit Sicherheit nicht in den ländlichen Raum. Der Hinweis, dass in Sangershausen die Mieten niedriger sind als in Leipzig oder Jena hilft alleine nicht. Denn zu einem guten Wohnen und Leben vor Ort gehört sicher mehr als nur als der Blick auf die Kaltmiete pro Quadratmeter.

Wie kommen wir als deutsche Gesellschaft aus diesen Sackgasssen heraus? Ein neues Stichwort in der politischen Auseinandersetzung lautet: verspieltes Vertrauen zurückgewinnen und wieder ein handlungsfähiger Staat werden. Wie geht denn das?

Berthold Vogel: Da fasse ich mich mal kurz und hoffe auf eine kluge Verwendung der sogenannten Infrastrukturmilliarden. Öffentliche Investitionen in technische und soziale Infrastrukturen und die Stärkung der Kommunen wären schon mal der richtige Ansatz. Doch Geld alleine wird’s nicht richten. Es braucht bei Bürgerinnen und Bürgern, aber auch bei den Unternehmen mehr Bewusstsein für die Qualitäten, die in unserer Gesellschaft stecken. Ich habe nun auch kritisch die aktuelle Verfassung unserer Gesellschaft betrachtet, aber wir dürfen nicht übersehen, über wie viele Ressourcen und Talente wir als freie, offene Gesellschaft verfügen. Das sehen wir in unseren Forschungen täglich. Und dieses Wissen muss gegen diejenigen mobilisiert werden, die sich politisch von Missgunst und Misstrauen ernähren!


1Ein deutliches antidemokratisches Basisrauschen
Solidarität, aber auch Ressentiments wachsen im lokalen Alltag

Jutta Roitsch
Jutta Roitsch, Diplom-Politologin und freie Autorin, von 1968 bis 2002 leitende Redakteurin der Frankfurter Rundschau, verantwortlich für die Seiten »Aus Schule und Hochschule« und »Dokumentation«, seit 2002 als Bildungsexpertin tätig, Engagement in der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union, vereinigt mit der Gustav-Heinemann-Initiative (GHI), Autorin der "Blätter für deutsche und internationale Politik", der "Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik".

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