Neoliberalismus als Wahrheitselixier und das faszinierende Monstrum Geschichte

Der Studierendenrat der TU Dresden (StuRa) hatte Ilse Bindseil eingeladen, im Mai 2025 einen Termin der Ringvorlesung „Geschichte ohne Subjekt, Subjekt ohne Geschichte“ zu bestreiten.

Zur Einstimmung: Die Geschichte hält keine Lehren bereit. Nur indem ich darauf verzichte, von ihr bedient zu werden, kann ich von ihr lernen. Aus der Geschichte lernen, wie die Formel lautet, heißt nicht, die Fehler, die einmal gemacht wurden, beim nächsten Mal vermeiden. Es heißt vielmehr, sich als Bestandteil der Geschichte zu begreifen. Also: Nicht um Reflexion eines geschichtlichen Zusammenhangs geht es mir, sondern um Selbstreflexion. Den Vorbehalt aufzugeben, der einen Spielraum suggeriert, den es so gar nicht gibt, den scheinhaften Zwischenraum zwischen mir und der Geschichte zu zertrümmern, in dem sich Besserwisserei, Schuldlosigkeit oder eine unverbrüchliche Hoffnung auf Fortschritt eingenistet haben, darauf kommt es mir an. Aufgeregt und angeregt durch die Erfahrung von Ohnmacht und Auflösung, die der Neoliberalismus dem aufgeklärten Subjekt zumutet, möchte ich zeigen, dass das Subjekt nur in der Abspaltung existiert, in den Illusionen, die es sich über seine Rolle als geschichtliches Subjekt und Denker der Geschichte macht.

Ich habe immer wie besessen geschrieben, in der Hoffnung, es werde mir der ultimative Text gelingen, jener, der alle früheren kassieren und die Sorgen ums Bewahren und Aufbewahren überflüssig machen würde, aber auch um die Angst zu bannen, es könnte mir nach einem vertändelten Leben im allerletzten Moment eben dieser ultimative Text vor Augen stehen, und dann wäre es zu spät.

Wenn ich bedenke, dass ich später gegen Geschichtsphilosophie schrieb, dann muss ich lachen, war ich geschichtsphilosophisch doch nicht nur angehaucht, sondern förmlich imprägniert, dazu in völliger Unkenntnis, aber umso größerer Erwartung des Sinns, der sich herausstellen würde. Eine wilde Mischung aus Kinderkatholizismus, jugendlichem Existenzialismus und später dem Kant der kleinen Schriften mit der großen Aussicht stellte das Material, aus dem er sich bilden würde.

Ich hielt Kants vorsichtige Prophezeiung einer möglichen Entwicklung zum Guten in der Emphase der späten 60er Jahre für den Ausgangspunkt aller künftigen Überlegungen, hatte er sich doch bis zu diesem Punkt vorgedacht, ich im Verein mit allen Mutigen würde von diesem Punkt aus weiterdenken. Da es trotz allem aufregend Unbekannten bloß um den Übergang von der Theologie zur Teleologie, also im weitesten Sinn immer noch um Religion, um Finalität, nicht um Kausalität ging, würde ich mich schon zurechtfinden. Tatsächlich verlief mein Weg aber ganz anders: Ich schlug die Gegenrichtung ein, weg von den Aussichten, zurück womöglich noch hinter die Grundlagen.

Er ließ mich im Stich, also ließ ich ihn im Stich

Mir kommt es vor, als hätte ich vergessen, warum. Es war wohl so wie mit meinem emphatischen Katholizismus, damals 1965: Er überstand meinen Umzug nach Berlin, ins Milieu der aufbruchsbereiten 68er, nicht. Als ich mit meinem Pappkoffer aus dem Interzonenzug ausstieg, war er weg. An meiner Einsamkeit, die mich wie eine Grippe überfiel, merkte ich, er half mir nicht. Er ließ mich im Stich, also ließ ich ihn im Stich. Mit dem geschichtsphilosophischen Elan war es 25 Jahre später, am Beginn der 90er Jahre, insofern ähnlich, als er plötzlich weg war, verdunstet wie nur irgendeine falsche Vorstellung. Erkenntniskritischer Rigorismus nahm seinen Platz ein. Kann sein, dass das mit den neuen Bewegungen friedensbewegter, antideutscher und feministischer Provenienz zu tun hatte, auf obskure Weise gar mit der sogenannten Wende. Sämtlich beinhalteten sie einen Bruch mit der reinen Negativität der Kritischen Theorie, an dem mir am meisten zu schaffen machte, dass er gar nicht so empfunden wurde.

Als prononcierter Einzelgänger goss nur Wolfgang Pohrt seinen Spott über die Friedensbewegung, Eike Geisel Hohn über die „Wiedergutwerdung der Deutschen“ aus. Ich konnte mit ihrer Kritik wenig anfangen, da mir das Durchschauen, der Gestus der Selbstermächtigung des Geistes, zuwider war. Als Bruch, etwas, was man nicht sogleich begreifen kann, empfand ich am Beginn der 90er Jahre, in einer ohnehin aufgewühlten Zeit, die berühmte Demonstration gegen den Ausländerhass, der sich in Hoyerswerda Bahn gebrochen hatte. So groß war das Erschrecken über die Wiederkehr des nazistischen Gespensts, dass Regierung und Volk, Herrschende und Beherrschte, sich in einer Demonstration fanden, vorne die Regierung, dahinter das Volk, darunter auch Linke. Ich ging nicht mit, schien mir doch eine Verschiebung im Grundgerüst der politischen Ordnung am Werk, die ich nicht überblicken konnte.

Grenzte das Engagement für die Demokratie hier nicht an das für ihre Aufhebung? War das der Sündenfall, genau die Situation, in der meine Eltern, als sie jung und unternehmungslustig waren und allemal so intelligent wie ich, versagt hatten und in der jetzt nicht zuletzt die Linken versagten? Hatte ich meine Eltern – und sie sich – dafür nicht die Urteilsfähigkeit aberkannt, ein Leben lang? Ist doch komisch, sagte ich in jenem November 1991, ich dachte immer, die Regierung regiert und das Volk geht auf die Straße. Jetzt ging die Regierung zusammen mit dem Volk auf die Straße. Und das Volk? Ging zusammen mit der Regierung auf die Straße. Rechnerisch ausgedrückt hieß das: zweimal Regierung und einmal Volk oder einmal Volk und in doppelter Ausführung Regierung. Warum wunderte sich keiner? Konnte die Demokratie sich ihrer Prinzipien entledigen, ohne dass es jemand merkte? Womöglich wurde der Bruch, sofern er denn wahrgenommen wurde, auf der Seite der Ereignisse verortet – die waren schockierend genug – und das eigene Verhalten als eine tapfer durchgehaltene Kontinuität gedeutet. Spätestens dann nach der Abstimmung im Bundestag zuerst über den armenischen Völkermord, sodann über den antisemitischen Charakter des BDS, war der Paradigmenwechsel nicht länger zu übersehen. Offenbar wird die Aufrechterhaltung der Verhältnisse nicht länger der formalen Einrichtung des Gemeinwesens zugetraut. Nicht länger kann das Böse durch staatlichen Formalismus, aufgrund einer Zuspitzung der Verhältnisse kann es nur noch durch eine entschiedene staatliche Gesinnung, die sich paradoxerweise in die Wissensform kleidet, in Schach gehalten werden. Was ist daran so schlimm?

Das Ziel nicht, Richtiges zu denken, sondern richtig zu denken

Schöpft der bürgerliche Staat die Rechtfertigung für sein Machtmonopol aus dem Verzicht auf substanzielle eigene Interessen, so stellt die Annahme eines substanziellen Interesses des Staates die staatliche Ordnung auf die Probe. In Deutschland ist die Bedeutung eines substanziell verstandenen Guten nicht ohne den fortdauernden Bezug zum Nationalsozialismus zu verstehen. Als „Lernen aus der Vergangenheit“ ist es hoch instrumentalisiert. Vom Weg der Bundesrepublik aus dem Faschismus heraus und von ihm weg existiert dabei eine doppelte Version. In der jüngeren zieht die Bundesrepublik, belehrt durch das Desaster des Nationalsozialismus, die Konsequenz, dass der Staat „aggressiv“ gut sein muss, um der Bedrohung durch ein wiedererstarktes Böses, Rechtsradikalismus, Antisemitismus, Imperialismus, Herr zu werden. Von jener zwischen dem Dritten Reich und der heutigen Bundesrepublik angesiedelten Zwischenzeit, die ich selbst als „meine Zeit“ erlebt habe und als „Nachnazizeit“ schlechtzumachen pflege, sind dagegen Spuren des Wissens vorhanden, die man heute ausgraben muss. Sie handeln von der alleinigen Wirksamkeit, der alleinigen Verlässlichkeit der Trennung von Ordnung und Absicht. Nicht „das Gute“, so die damalige Erkenntnis, sondern die Form ist die Barriere gegen das Böse. Es würde sich lohnen, sich in den Unterschied zu vertiefen, zielt doch ein Großteil der heutigen Anstrengung darauf, ihn zu ignorieren. Die Ignoranz ist schwerwiegend. Immerhin handelt es sich um eine Verschiebung im Paradigma, zwischen Inhalt und Form, die als ein Ereignis auf der Metaebene gewertet werden muss. Als solches ist es geeignet, die Verhältnisse umzustürzen, bevor man es merkt.

Um die Zeit fing ich an, Philosophie in der gymnasialen Oberstufe zu unterrichten, und übernahm auf diesem Gebiet nun ernsthaft Verantwortung. Da ich an der historischen Schnittstelle zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Dritten Reich, im Jahr des „Zusammenbruchs“, geboren war und, obwohl in mancherlei Hinsicht Nutznießerin dieser Umwälzung, den so bedeutsamen Unterschied zwischen dem einen und dem anderen im fortlebenden Milieu, an den mich umgebenden Personen, an ihrer gesellschaftlichen Tätigkeit und der Art ihres Umgangs, auch der Fürsorge für mich, nie hatte erkennen können, hat die Angst, ich könnte den mir anvertrauten Jugendlichen qua Autorität und undurchschaubarer Freundlichkeit etwas beibringen, wogegen sie sich qua Unwissenheit und Gutgläubigkeit nicht wehren könnten, nie verlassen. Diese Angst hat meinen Bezug insbesondere zum Philosophieunterricht geprägt.

Bot etwa Deutsch die Möglichkeit der Sprachschulung anstelle der Gesinnungsförderung, so blieb in der Philosophie nur die Erkenntnistheorie, sprich die Selbstreflexion, für mich die einzige Form, in der es sich philosophieren ließ. Meine Absicht war, den Gedanken auf die Form zu lenken, das Ziel nicht, Richtiges zu denken, sondern richtig zu denken, der Weg die von Hegel beschriebene Aufhebung des Gedankens, vorzüglich des eigenen. Da in der Hochkonjunktur der Selbstfindung und Selbstbehauptung, der Setzung und Durchsetzung, „Richtiges“ neuerdings so viel mehr zählte als „richtig“, geriet ich mit dem Zeitgeist vollends auseinander, war als Vermittlerin von Methoden, sogenannten Basistechniken, in der altmodischen Schule aber ganz gut angesehen.

Scheint alles verloren, kann man den Rest hinterherschmeißen

Ich würde Reflexion, die Aufhebung alles Gedachten, noch immer als einzig krisenfest erachten, erschiene mir der jüngste Slogan, „Jetzt mal ohne Ideologie!“, nicht wie eine Persiflage meiner eigenen Negativität. Ein Zerrbild ist sie in der „Trumpschen“ Ausgabe allemal, in der Kritik abgehobenen Denkens im Namen des Faktischen aber nicht nur fremdartig, auch mit Macht ausgestattet und bedrohlich. Tatsächlich dekretiert der unbefangene Zynismus, der gegenwärtig Konjunktur hat, und das macht ihn bei allem Schrecken, den er verbreitet, interessant, nicht nur pauschal das Ende des Gedankens. Er bringt auch das innere Verhältnis des Gedankens zum Gedachten aufs Tapet. „Abgehoben“ ist das Denken doch nicht erst im verächtlichen neoliberalen Urteil, sondern, wie bereits das Wort sagt, immer. Aber erst im Hohn und Spott dessen, der „von des Gedankens Blässe nicht angekränkelt“ ist, wird der Abgrund sichtbar, in dem es zu verschwinden scheint. Dem muss mit der Integration des einzelnen Denkens in jenen Zusammenhang begegnet werden, in dem es nicht abgehoben, sondern immer schon vermittelt ist.

Die Herausforderung – und das ist merkwürdig genug und verdiente eine eigene Betrachtung − ist die Abstraktion, die den Verhältnissen nicht hinzugefügt, ihnen vielmehr abgeluchst werden muss.

Wer „helle“ genug ist, kann sie dem eigenen Denken abluchsen. Mag das Abstrakte hinter dem Rücken der Subjekte am Werk sein, so ist es für sie deshalb nicht weniger konstitutiv als für die Gesellschaft als Ganzes. Es sich bewusst zu machen und das Bewusstsein davon als den eigentlichen Zusammenhang der Gesellschaft zu fördern, ist die Aufgabe des Denkens. Dazu muss sogar es seiner eigenen Abstraktheit bewusst sein, es muss sie vorbehaltlos akzeptieren. Denn wenn der Gedanke seine Abstraktheit nicht annimmt, wenn er sie nicht stellvertretend für die Gesellschaft trägt – und letztere umgekehrt ihn nicht mitträgt −, wird er unweigerlich zum Spielball und zur Beute von Zynikern.

Die jüngsten Entwicklungen können ein Anlass sein, sich von der Vorstellung des Subjekts als Repräsentant, gar Urheber einer möglichen Gesamtvernunft zu lösen. So riskant, wie es empfunden werden mag, ist das Loslassen nicht, wird das Subjekt doch nicht außenvor gelassen, lediglich vielmehr in die Verhältnisse eingeordnet. Von der als hermeneutischer Zirkel ins Philosophische gehobenen Selbstverblendung als der Ursache eines grundsätzlichen Missverhältnisses und Missverständnisses befreit, kann es ja immer noch nachdenken: im Modus jenes allgemeinen Verstands, Marx‘ general intellect, ohne den die Gesellschaft in ihrem ursprünglichen Begriff nicht zu fassen ist. Zu ihm muss der Einzelne sich ins Verhältnis setzen, will er aus der blockierten Bewegung eines unablässigen Empfindens und verhinderten Begreifens, eines beständigen Spürens und misslingenden Benennens herausfinden. Der rückhaltlose Einbruch einer als wahnhaft empfundenen Objektivität, wie wir ihn heute erleben, könnte ein Ansporn sein, die verloren gegangene Beziehung des Subjekts zu den Verhältnissen neu und, wie man heute sagt, „entspannt“ zu denken. (Wenn alles verloren scheint, heißt es im Märchen, kann man den Rest, hinterherschmeißen, vielleicht bringt es das Verlorene ja zurück.)

Chaos hielt ich immer für ein aufgetakeltes Wort

Neu konfiguriert sich dabei auch die Frage nach dem Faktischen. Was ist es denn anderes als die um die ihr innewohnende Abstraktion amputierte Wirklichkeit. Deren verloren gegangener Zusammenhang muss aus ihren Exzessen, den unvorstellbaren Katastrophen, dem maßlosen Reichtum, den freiflottierenden Finanzströmen, der künstlichen Intelligenz, ja auch den ins Gigantische aufgeblasenen Subjekten, die das herrschende Bild der Wirklichkeit stellen, allererst rekonstruiert werden. Gedanken sind sie allemal, aber weder an ihrem Platz, in ihrer originalen Form oder in ihrer „normalen“ Größe. Über der Trostlosigkeit des Anblicks mag das Subjekt verzweifeln, weil es selbst längst darin fehlt. Dabei könnte es auch den eigenen Anteil daran gewahren, hat das gesellschaftliche Verhältnis sich zwar nicht nach Maßgabe des Subjekts, letzteres sich aber in Raum greifender Abgrenzung von ihnen ausgebildet, kurz, zum Verblendungszusammenhang kräftig beigetragen. Konnte früher die in die hermeneutische Dauerschleife führende Feinfühligkeit des Subjekts beeindrucken, das in unermüdlicher Beziehungsarbeit den eigenen Anteil an den Verhältnissen noch in den Gesten tief empfundener Ohnmacht und feingeistiger Trauer scheinhaft vergrößerte, so verblüfft heute umgekehrt die radikale Verkleinerung des Subjekts, die Minimisierung des Bezugs zwischen ihm und den sogenannten Verhältnissen. Das Resultat kann in seinen Augen nur Chaos sein. Und in den Augen der Verhältnisse? Wie mag es aus ihrer Perspektive sich darbieten?

Chaos hielt ich immer für ein aufgetakeltes Wort und einen dummen Gedanken, die Ausrede von Leuten, die zu faul sind, sich komplizierten Verhältnissen zu stellen. Aus Bequemlichkeit, dachte ich, verwechseln sie die Aufgabe mit der Lösung. Dabei drückt doch auch Chaos klipp und klar eine Ordnung aus, nur statt der dialektischen die schlichte proportionale, die statt des „je mehr … desto weniger“, des „nicht nur … sondern ebenso“ oder „nicht sowohl … als vielmehr“ das lineare „je mehr …. desto mehr“, das „umso … umso“ gebraucht. Der Spruch „Das Schwert, das die Wunde schlug, wird sie heilen“, Inbegriff magischen Denkens, fällt mir ein. Wenn Los Angeles brennt, ruft dann nicht alles nach pauschaler Erledigung durch jemanden, der über den „Pauschbetrag“ verfügt, einen Musk? Die Geschichte der Zerstörung liefert das Know-how für die Erneuerung: Nur wer sich über das mühselige Prozedere der versicherungstechnischen Erledigung hinwegsetzt, könnte den Schaden beheben, der durch die hemmungslose Wertschöpfung, die Akkumulation von Reichtum angerichtet worden ist.

Bild: Arcana, prompted by Ariel Vromen (Q15957667) and Solo Avital (Q1416127) auf wikimedia commons

Der Vorschlag des amerikanischen Präsidenten, den Gazastreifen als Riviera wiederaufzubauen, zeigt nicht nur seinen Größenwahn, er enthält auch Insiderwissen über sein Selbstbild als Geschäftsmann, Vertreter eines Investitionsfonds bei der Begehung eines „Objekts“. Ist ja alles kaputt, stellt er, ganz unvoreingenommener Geschäftsmann, fest und urteilt wie der Versicherungsexperte bei der Inspektion eines Schadensfalls: Kann man nicht mehr reparieren, und hat wahrscheinlich recht. Er spricht aus, was alle sehen, aber, wie es in der ressentimentgeladenen Sprache der Rechten heißt, nicht zugeben können, hat der Zustand des Gazastreifens zwar mit dem Recht, dort zu leben, nichts zu tun, aber das Recht ist in Gegensatz zur Faktizität geraten.

Im Oval Office: Das dramaturgische Ergebnis ist absurdes Theater

Das Ergebnis: Es handelt sich nicht länger um einen Konflikt, der gelöst, sondern um einen gordischen Knoten, zerhauen werden muss (der Umkehrschluss, mit dem sich die krisenförmige Entwicklung der letzten Jahre lesen lässt: Wer zerhauen will, braucht gordische Knoten). Aufwandsersparnis ist hier das Zauberwort. Verkörperung par excellence des Kurzschlusses von Geschäft und Politik lebt der Deal aber nicht nur von der eigenen Kurzschlüssigkeit. Er zehrt vielmehr von der vorgängigen Verdrängung des Geschäfts aus dem kulturellen Bewusstsein, der und nie mehr einzuholenden Spaltung von Gesinnung und Geld. In repressiver Aufhebung der Verdrängung kann der Politiker seinen geschäftlichen Vorschlag an die Stelle der Vorschläge setzen, die jene machen müssten, die es betrifft, ist der Platz doch geräumt, Gaza als physisches Abbild eines nicht endenden geistigen Herumfuhrwerkens verfügbar, preisgegeben der kruden Inbesitznahme durch den, der sich was traut. Ich denke, wenn man in diesen „kriminellen Vereinfachungen“ nur eine Bedrohung und Beleidigung jeglicher differenzierenden Anstrengung und nicht auch den wie immer entstellten Verweis auf das Einfache der Wirklichkeit gewahren kann, dann hat man fürs Begreifen schlechte Karten, fehlt doch der leitende Gesichtspunkt.

Hilfreich könnte der Begriff des Realismus sein, ein alles andere als eindeutiger, gar ideologiefreier Begriff mit, gleichwohl, einem Richtungsanzeiger: das, was man sich zusammendenkt, möchte der Realität entsprechen. Angeregt oder vielmehr aufgeregt von der inszenierten Erniedrigung des ukrainischen Präsidenten im Weißen Haus, erinnert unter der Überschrift „Gewöhnung an die Übermacht“ die Gräzistin Gyborg Uhlmann (FAZ vom 5.3.2025, S.11) an den Peloponnesischen Krieg und die Bemühungen Athens, Abgeordneten der Insel Melos „die Argumente des Rechts des Stärkeren“ zu verklickern; eine Bemühung, die nach heutigem Verständnis seltsam wirkt, wurde „in der Aufklärung“ das Recht des Stärkeren durch das Recht des Arguments formell abgelöst. Gewinner sollte der Schwächere sein, der das Argumentieren trainiert hatte, als der Starke sich noch auf seine Stärke verließ.

Beim Eklat im Weißen Haus erleben wir nun, wie der ukrainische Präsident zwar aus dieser ihn beflügelnden Schwäche heraus argumentiert, seine Gesprächspartner aber wie in einem anderen Film, in einer anderen Zeit, in einer anderen Rolle, sagen wir als Athener, agieren. Die müssen in einem von Thukydides wie der, laut Uhlmann, „Live-Mitschnitt“ eines Gesprächs „inszenierten“ Szene den Bewohnern von Melos die basics von Stärke und Schwäche allererst beibringen, von jenem Modell also, das der Aufklärung vorausgeht und von ihr abgelöst wird, per Emanzipation. Wir befinden uns beim Peloponnesischen Krieg, so scheint es, in einer primitiven Phase der Geschichte, in die sich einzudenken schwerfällt. Wird jetzt im Weißen Haus dem offenbar in illusionärer Souveränität agierenden Gast genau das Nämliche beigebracht, dann kann der Effekt auf unserer Seite nur Befremden und Erschrecken sein. Die als Inbegriff des Realismus vom ukrainischen Präsidenten geforderte Einstellung kommt ja einer Unterwerfung gleich, die es in einer auf Gleichheit basierenden Gesellschaft gar nicht mehr gibt. Das dramaturgische Ergebnis ist: „Absurdes Theater“.

Egalitäre Kultur, elitäre Kultur

Wenn ich längere Zeit auf ein bestimmtes Thema fokussiert bin, leistet mir meine zeitgleiche Lektüre regelmäßig Zuarbeit. Sie kommt mir mit Ideen, passenden oder unpassenden, zu Hilfe. Mir kommt es vor, als würden die Bücher, die ich zufällig lese, sich auf mein Thema mit konzentrieren. In diesem Fall boten mir Harald Haarmanns Studien zur antiken Demokratie „im Spannungsfeld von Egalitätsprinzip und Eliteprinzip“ („Mythos Demokratie. Antike Herrschaftsmodelle im Spannungsfeld …“, Verlag Peter Lang, Ffm 2013), mehr noch seine Thesen zum „Rätsel der Donauzivilisation. Die Entdeckung der ältesten Hochkultur Europas“ (Verlag C.H.Beck, München 2011), eine einfache Erklärung der kontingenten, zu einem absurden Knäuel zusammengeschnurrten Vorgänge in Griechenland wie im Weißen Haus.

Ist die laut Wikipedia freilich heftig bestrittene These Haarmanns von einer egalitären Kultur, die der herrschaftlichen vorausgeht, das missing link, dann klärt sich die rationale Substruktur des absurden Theaters auf. Sie ist das, was der Debatte vorausgeht. Ist Stärke als organisierendes Prinzip und Herrschaftsprinzip neu, dann muss sie nicht nur angewendet, sondern auch „eingeführt“, das heißt, sie muss erläutert und beworben werden. Soll sie sich nicht nur auf dem Schlachtfeld beweisen, sondern Kultur und Gesellschaft durchdringen, dann muss sie sich auch im sprachlichen Milieu bewähren. Unter dem Gesichtspunkt der von Haarmann ins Spiel gebrachten Egalität als dem eigentlichen Gegensatz zur Stärke wäre es also alles andere als überflüssig und absurd, das, was ohnehin der Fall ist, durch harte Argumente noch eigens zu untermauern. Auch der berühmte Eklat im Weißen Haus wäre auf diese Weise erklärt, geht der Kultur der Ungleichheit, deren Einführung wir erleben, doch eine Kultur der Gleichheit voraus. Sie in einer Art „Rolle rückwärts“ abzulösen, braucht es mehr als bloß eines heimlichen Manövers hinter den Kulissen, braucht es den großen Auftritt.

Wie bewahrt man gegenüber einer solchen Machtdemonstration die Nerven? Das Zauberwort heißt: Geschichte. Zwei oder vielmehr drei Wege führen dabei nach Rom: Das singuläre Ereignis wird als solches wiedererkannt, siehe Uhlmann. Der zweite: Der Anschein des Herausgehobenen wird durch die Einordnung in ein Kontinuum beseitigt, siehe Haarmann. Der dritte Weg: Der Bruch selbst wird in einen Zusammenhang aufgelöst. Selbst immer schon ein Kurzschluss, eine Notlösung des Verstehens, wird er durch vollständiges Wissen beseitigt. Seit Jahrzehnten berufe ich mich auf Raoul Hilbergs Werk über „Die Vernichtung der europäischen Juden“. (Es hat übrigens selbst eine erzählenswerte Geschichte, die, seit die Bundeszentrale für politische Bildung es im vergangenen Jahr zu einem symbolischen Preis noch einmal herausgebracht hat, zu einem vorläufigen Ende gekommen ist.) Gegen alle Bemühungen, den exterminatorischen Antisemitismus der Nationalsozialisten mittels gedanklicher Anstrengung zu verarbeiten, an denen ich mich mit Leidenschaft beteiligte, hat Hilberg schon immer das Prinzip der Erklärung durch Darstellung gesetzt. Für ihn ist der vollständig dargestellte Zusammenhang restlos aufgeklärt. Er muss nicht mehr, ja sollte nicht eigens noch erklärt werden. Denn jedes abgehobene Begreifen, so habe ich mir Hilbergs Ansatz erklärt, wäre eine Hypostase, ein Feld für wuchernde Behauptungen.

Das theoretische Kriterium ist die Wahrheit, das praktische Kriterium die Vollständigkeit, das Kriterium der Vollständigkeit die innere Kontinuität. Sind die Ereignisse lückenlos berichtet, ergibt sich der Zusammenhang von selbst. Hat sich der Zusammenhang hergestellt, bedarf es keiner Erklärung. Schwierigkeiten mögen sich aus der sogenannten Quellenlage ergeben, eher aber aus dem hartnäckigen Hang zur Metaphysik derer, die „es“ wissen wollen; meistens aus letzterem.

Da ich gegenüber den Anforderungen der Empirie regelmäßig versage, empfinde ich Hilbergs Herangehensweise vielleicht auch deshalb als eine Qualität ganz außerhalb aller Ordnung, als einfach „gigantisch“. Meine Schwierigkeiten bereits beim einfachsten Sammeln, Sortieren, Vergleichen usw. scheinen darauf hinzudeuten, dass ich dafür einfach nicht ausgestattet bin, aber ich denke, auch die Angst des Nachkriegskindes, „etwas herauszukriegen“, drückt sich darin aus. In ihr spiegelt sich die Angst der damaligen Erwachsenen, „etwas auszuplaudern“, die Abwehr empfundener Zumutungen, der Widerstand, sich etwas klarzumachen, der Drang, stattdessen, etwas zu gestehen. Nicht nur die Erwachsenen, noch die Kinder hat es damals in die Metaphysik getrieben. Am meisten kränken mich heute die Folgen für die Rede, die Konjunktur der Anspielungen und der existentialistische Schwulst. In Quarantäne musste ich meine hochgelobte Jugend-Sprache schicken, ehe ich sie wieder benutzen konnte.

Da ich mit der Empirie „nichts am Hut“ habe, erscheint mir Hilbergs Methode als der Königsweg des Realismus. Aber es gibt noch andere Wege oder auch sein Weg bedarf der Voraussetzungen, der gleichsam materiellen Ergänzungen. Wiederum kann ich sie deshalb so deutlich fassen, weil ich sie im eigenen Sozialcharakter so schmerzlich vermisse. Es handelt sich um den inneren Kompass, der den Weg durch das Gestrüpp der alltäglichen Widrigkeiten, durch den Dschungel der als solche empfundenen Verstrickungen bahnt. Eine Art Vorbewusstsein, etwas, was man immer schon weiß und dem man lediglich folgen muss, sorgt er dafür, dass man sich auf sich verlassen kann und im entscheidenden Moment Mut beweist. Denn das ist die andere Hälfte der Voraussetzungen, in der Sprache der Kinder begegneten sie mir als „Muckis“ − nicht unplausibel das kindliche Missverständnis der Musketiere als „Muskeltiere“ −, in der Erwachsenensprache eher gedämpft und wie entmutigt als Courage oder Zivilcourage. Von einer Kultur der Leisetreterei gezeichnet, ziehe ich drastischere Bezeichnungen vor; die sind höchst unzeitgemäß, ich weiß. Glücklicherweise handelt es sich beim inneren Kompass nicht um eine intellektuelle Fähigkeit, sondern um ein Ensemble von Eigenschaften, das auf eine Orientiertheit verweist, die im Individuellen nicht aufgeht, eine nicht triviale allgemeinmenschliche, eine primäre gesellschaftliche Orientiertheit, greifbare Alternative zum Untertan-Syndrom Heinrich Manns oder dem Syndrom der autoritären Persönlichkeit von Horkheimer und Adorno.

Gesellschaftlich, nicht als Meute, als Gedanke

Wiederum in zeitgleicher Lektüre zu den hier vorgetragenen Überlegungen fand ich in Tom Segevs Doktorarbeit über die Kommandanten der Konzentrationslager („Die Soldaten des Bösen. Zur Geschichte der KZ-Kommandanten“, rororo 1992) „zufällig“ einen Hinweis nicht nur auf die moralischen Voraussetzungen, auch die ästhetischen Konsequenzen einer solchen Orientiertheit. Der Autor Tom Segev verfügt über einen inneren Kompass. Der leitet ihn bei den unsichtbaren, den inneren Fragen der Darstellung, jenen, die eine Zwischenzone beim Schreiben bilden. Er weiß, was das zu Erklärende und was die Erklärung, was das zu Deutende und was die Deutung, was die Frage und was die Antwort, was ein Anfang und was ein Ende ist. Das ist, wie man heute sagt, „nicht trivial“. In „Le mur“, Sartres Erzählung zum spanischen Bürgerkrieg, ist es der Unterschied ums Ganze. War das das Verhör? fragt der Junge verdattert. Nein, das Urteil, klären ihn die Mithäftlinge auf.

Nicht trivial ist der Unterschied auch im Bereich der Darstellung. Wie hältst du das nur aus, zitiert Segev den Schwager von Rudolf Höß, der den Verwandten in Auschwitz besucht. Wir sind hier auf einem anderen Planeten, sagt der KZ-Direktor. (Sie können den Wortlaut in Segevs Buch über „Die Soldaten des Bösen. Zur Geschichte der KZ-Kommandanten“, Erstausgabe rororo 1992, nachlesen und nach meiner Erinnerung auch in anderen seiner Bücher wiederfinden.) „Ja, wir haben einen langen Weg hinter uns“, schreibt Josef Kramer – jetzt zitiere ich wörtlich – an seine Frau (20). Segev analysiert seinen Untersuchungsgegenstand nicht. Er konkurriert nicht mit ihm. Er lässt ihm den Vortritt. Vorsichtig folgt er ihm. An den KZs „von Anfang an beteiligt“, „von Dachau und Auschwitz bis nach Bergen-Belsen, hat Kramer sich „Schritt für Schritt (gewöhnt)“ (20).

Vielleicht kann der lebendige Austausch mit der Geschichte helfen, so etwas wie einen haltbaren Ersatz für den inneren Kompass zu entwickeln. Es kommt nicht darauf an, aus einer Ansammlung von Ereignissen konkrete Lehren zu ziehen, sondern im immer wieder scheiternden Umgang mit dem faszinierenden Monstrum Geschichte den Wahrnehmungsapparat für Gesellschaftliches zu entwickeln, selbst unwillkürlich abstrakter zu werden. Es geht darum, sich als Gesellschaftliches wahrzunehmen, nicht als Meute, wie Canetti in seiner Mikrobeschreibung des gesellschaftlichen Wesens sagt, sondern als – Gedanke. Darüber muss ich noch ein wenig nachdenken.

Ilse Bindseil
Ilse Bindseil ist Autorin und Redakteurin, sie war Lehrerin für Deutsch, Französisch und Philosophie an der Sophie-Scholl-Oberschule in Berlin-Schöneberg. Seit Ende der sechziger Jahre Veröffentlichungen im gesellschaftstheoretischen Bereich von Philosophie, Politik, Psychoanalyse, seit Ende der siebziger Jahre dazu im Bereich der schönen Literatur. Seit Ende der neunziger Jahre Redakteurin der Zeitschrift Ästhetik & Kommunikation.

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