Inklusion statt Aussonderung, Mobbing, Stigmatisierung

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Diese Schule steht für ein reformpädagogisches Konzept von Inklusion. Ihr langjähriger Leiter blickt im Interview mit Thomas Gesterkamp zurück auf zähe politische Auseinandersetzungen. Reinhard Stähling leitete zwei Jahrzehnte lang die heutige Primus-Schule Berg Fidel-Geist in Münster. Sie liegt in einem von Hochhäusern und Einwanderung geprägten Ortsteil im Süden der ansonsten sehr bürgerlich geprägten westfälischen Großstadt. Der in den Kinos erfolgreiche Dokumentarfilm Berg Fidel – Eine Schule für alle stellte vor gut zehn Jahren das wegweisende inklusive Schulkonzept vor. Den Begriff “Inklusion” interpretiert das reformpädagogisch orientierte Team sehr weitreichend: Neben Kindern mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen schließt es durch Krieg, Flucht und Armut Traumatisierte explizit mit ein. Viele stammen aus Roma-Familien und leben in den Unterkünften der Nachbarschaft.

Thomas Gesterkamp: Im Untertitel Ihres jüngsten Buches benutzen Sie offensiv den Begriff “Schule im Brennpunkt”. Ist das in Fachkreisen umstrittene Wort Brennpunkt nicht stigmatisierend?

Reinhard Stähling: Stigmatisierung findet nur statt, wenn wir nicht alle im Stadtteil gleich behandeln. Wenn etliche Kinder wie noch in den 1990er Jahren aus dem Quartier zu Sonderschulen gefahren und deshalb nicht mit ihren Nachbarn, Freunden und Geschwistern gemeinsam beschult werden, dann kommt es zu Stigmatisierung und schließlich auch zu Mobbing und Gewalt. Seitdem wir eigenmächtig die von Behörden empfohlene Aussonderung nicht mehr mitgemacht haben, ist der ganze Stadtteil friedlicher geworden. Unsere Schule nimmt alle Kinder auf, die dort wohnen, ohne Ausnahme.

Reinhard Stähling studierte das Lehramt für Primarstufe und Theaterpädagogik, 1998 promovierte er an der Universität Münster zum Thema “Beanspruchungen im Lehrerberuf”. Von 1992 bis 2022 arbeitete er in der inklusiven Schule Berg Fidel, die 2014 unter seiner Leitung als Schulversuch des Landes Nordrhein-Westfalen zur Primus-Schule bis zur zehnten Klasse erweitert wurde. In seinem jüngsten Buch blickt er zurück auf zähe bildungspolitische Kämpfe: Entwicklungsschritte einer Schule im Brennpunkt. Der praktische Weg zu Solidarität und Inklusion (Psychosozial-Verlag Gießen 2025, 468 S., 56,90 €).

Beschreiben Sie etwas genauer das sozialstrukturelle Umfeld, in dem Sie dreißig Jahre lang pädagogisch tätig waren.

Reinhard Stähling: Viele Hochhäuser, 5500 Einwohner. Unsere Schule besuchen Familien aus etwa 40 verschiedenen Nationen, viele Eltern von ihnen sind arbeitslos, alleinerziehend und auf staatliche Unterstützung angewiesen. Irgendwann habe ich mit Erschrecken festgestellt, dass nicht wenige unserer Kinder in der Nazi-Zeit ermordet worden wären. Sinti und Roma wären als „ kriminelle Rasse“, Behinderte als „Ballastexistenzen“, Ausländer als von Natur aus „minderwertige“ Menschen, Empfänger staatlicher Hilfen als „Sozialschmarotzer“ und „überflüssige Esser“ vernichtet worden. Solchen Denkweisen müssen wir entgegentreten. Wir haben als Schule die Aufgabe, jedem einzelnen Kind Halt und einen geschützten Raum zu geben.

“Die Behindertenfrage ist eine Klassenfrage”

Ihr pädagogischer Ansatz beruht wesentlich darauf, dass Sie den Begriff Inklusion nicht auf körperliche oder geistige Handikaps beschränken, sondern viel weiter fassen, den Blick auch auf von Armut, Flucht oder Kriegstraumata betroffene Kinder richten.

Reinhard Stähling: In Armutsverhältnissen findet man mehr Menschen mit geistigen Behinderungen und psychischen Störungen als in einem typischen Mittelschichtviertel. Die Behindertenfrage ist eine Klassenfrage. In Deutschland ist institutioneller Rassismus in hunderten von Fällen nachweisbar. Die vom Bundesinnenministerium eingerichtete „Unabhängige Kommission Antiziganismus“ nennt das 2021 in ihrem Bericht „organisierte und systematische Unterminierung rechtsstaatlich verfasster Strukturen und freiheitlich-demokratischer Normen“. Infektionskrankheiten, Mangelernährung, Gewalterfahrungen, jahrelange Drohung mit Abschiebung: Das behindert. Ein Kind, das hier aufwächst und dessen Familie seit zwei Jahrzehnten offiziell nur „geduldet“ ist, braucht Anerkennung und Problemlösungen.

Kinder aus Roma-Familien sind Ihnen ein besonderes Anliegen, warum?

Reinhard Stähling: Als wir vor vielen Jahren bei einer unserer Schülerinnen in einer Roma-Familie einen Besuch machten, fanden wir dort ihren mehrfach behinderten jugendlichen Bruder vor, der von den Angehörigen selbst gepflegt wurde. Berge schmutziger Wäsche stapelten sich, alle Beteiligten waren in den beengten Wohnverhältnissen überfordert. Wir meldeten uns beim Amt, beim nächsten Besuch hatte die Familie immerhin eine Waschmaschine. Also ein am Ende ermutigendem Ergebnis – die Kommission Antiziganismus berichtet aber auch darüber, wie Roma-Familien systematisch einer „Unbequemlichkeitskultur“ ausgeliefert werden. Dieses Unwort kursiert in den zuständigen Verwaltungen, das Ziel ist, den sogenannten „Zustrom von Armutsmigranten“ aus Südosteuropa zu begrenzen. Wir als Lehrer sind auf das Grundgesetz vereidigt worden, die Würde aller Menschen nicht anzutasten. Das ist meine Maxime, wir haben zu helfen. Wenn ein Kind unangekündigt aus dem laufenden Unterricht herausgeholt wird, um es mit seiner Familie abzuschieben, sind wir als Pädagogen zum Ungehorsam verpflichtet, weil ein solches Vorgehen gegen die Kinderrechte verstößt.

Warum hat sich Ihr Ansatz bisher nicht flächendeckend durchgesetzt?

Reinhard Stähling: Kernpunkte unseres Konzeptes sind Menschlichkeit, Achtung, Verständnis und Dazugehörigkeit: Dass Kinder diese Werte von Beginn an lernen sollten, dem dürften die meisten Eltern und Lehrkräfte zustimmen. Aber es gehört eben viel Mut dazu, sich unsinnigen Vorschriften in den Weg zu stellen und es anders zu machen – gerade wenn man im Beamtenverhältnis tätig ist.

“Die Solidarität der Kinder untereinander ist unser Potenzial”

Zu Beginn leiteten Sie eine Grundschule. Warum war es wichtig, diese bis zur zehnten Klasse zu erweitern?

Reinhard Stähling: Es ist völlig ineffizient, die Kinder schon nach der vierten Klasse voneinander zu trennen. Nehmen wir einen Fall, der tausendfach in Deutschland passiert: Ein geflüchtetes Kind ohne Sprachkenntnisse kommt nach langer Flucht in ein drittes Schuljahr. Schon ein Jahr später wird entschieden, in welche weiterführende Schule das Kind gehen soll. Besonders behinderte Kinder trifft eine solche Trennung stark. Wir sind eines der wenigen Länder, die so etwas Unpädagogisches vorschreiben. Die wissenschaftliche Forschung bestätigt unsere Erfahrung, dass die Schule aus einem Guss allen am besten gerecht wird. Dafür haben wir jahrelang gekämpft, bis wir die Genehmigung der Stadt und des zuständigen Landesministeriums bekamen. Inzwischen verweist man stolz auf unser Leuchtturmprojekt, nicht nur in Münster.

Welche Erfahrungen haben Sie mit jenen Kindern gemacht, die nach der zehnten Klasse auf ein klassisches Gymnasium wechselten?

Reinhard Stähling: Viele von ihnen haben das Abitur erfolgreich bestanden. Wären sie im gegliederten Schulsystem geblieben, hätten etliche dies nicht geschafft, sie wären vorzeitig abgeschult worden.

Sie betonen die intrinsischen Potenziale benachteiligter Kinder, die in einem traditionellen Umfeld nicht abgerufen würden. Worin liegen diese Stärken aus Ihrer Sicht?

Reinhard Stähling: Das herkömmliche Schulsystem reißt die Klassen früh auseinander, die Kinder müssen ihre Freunde verlassen. Ihre solidarische Ader, die sie aus ihren Familien mitbekommen haben, weil sie immer teilen mussten, das ist unser Potenzial. Wir dürfen diese positive Entwicklung nicht durch Sitzenbleiben oder Schulwechsel unterbrechen.

Sie versuchen, persönliche Erfahrungen und kulturelle Hintergründe als Ressource zu nutzen. Solidarität müsse man den Kindern nicht erst beibringen, durch einschneidende oder gar traumatische Erlebnisse wie die Flucht aus Krisenregionen “halten sie in der Regel zusammen”, lautet Ihre These. Wie zeigt sich das im Unterricht?

Reinhard Stähling: Die Kinder und Jugendlichen helfen sich ständig gegenseitig. Sie sorgen füreinander und unterstützen sich auch bei den schulischen Aufgaben. Um das zu erleichtern, haben wir die Jahrgangsstufen zusammengelegt. So helfen die älteren Schülerinnen und Schüler den Jüngeren und entlasten auch die Lehrkräfte.

Wie kommen Ihre Praxiserfahrungen in wissenschaftlichen Fachkreisen an?

Reinhard Stähling: Auf der diesjährigen Tagung der Inklusionsforschung an der Universität Köln waren wir mit einem Symposium über die Entwicklung unserer Schule in den letzten 40 Jahren vertreten. Es ist wichtig zu erkennen, dass jede einzelne Schule Vieles selbstständig verändern kann: Aussondernde, unsolidarische Strukturen Zug um Zug außer Kraft zu setzen, das gelingt. Wir zeigen, wie wir mit Hilfe von freien Arbeitsformen, gebundenem Ganztag, Teams für jede Klasse und Altersmischung Erfolge erreichen. Das Ergebnis, das auch in der Wissenschaft von vielen geteilt wird: Kinder lernen besser, wenn sie möglichst lange gemeinsam eine Stadtteilschule gehen und nicht in Sonderschulen.

Ihre Arbeit ist vor allem durch einen Dokumentarfilm mittlerweile bundesweit bekannt. Werden die Ideen aufgegriffen?

Reinhard Stähling: Wir können den vielen Hospitationsanfragen aus anderen Schulen kaum gerecht werden. Viele Interessierte sind begeistert und machen sich ebenfalls auf den Weg. Aber es ist eben ein zäher Prozess, viel Widerstand ist zu überwinden.

Wenn Sie die Utopie eines künftigen Bildungssystems entwerfen müssten, das benachteiligte Kinder und Jugendliche nicht mehr ausgrenzt, sondern integriert: Welche Forderungen richten Sie an die Politik?

Reinhard Stähling: Schule vom Kindergarten bis zum Abschluss ohne Brüche unter einer Leitung. Mit ins Boot gehören der Gesundheitsdienst, die Jugendhilfe, die Familienberatung und kulturelle Träger. Das ist keine Utopie, es wäre leicht zu machen. Entscheidend finde ich, dass mehr Modellschulen gegründet werden, die es probieren und zeigen.

Das Interview erschien unter dem Titel „Pädagoge Reinhard Stähling über Inklusion: „Wir haben zu helfen“ zunächst in der Wochenzeitung “der Freitag

Thomas Gesterkamp
Dr. Thomas Gesterkamp ist Politikwissenschaftler, Journalist und Buchautor. Einen Schwerpunkt seiner Arbeit bildet die Geschlechter- und Männerpolitik, zudem berichtet er über wirtschafts-, sozial-, bildungs- und kulturpolitische Themen. Er schrieb fünf Sachbücher und veröffentlichte rund 4000 Beiträge im Hörfunk, in Tages- und Wochenzeitungen sowie in Sammelbänden und Fachzeitschriften. Website: https://thomasgesterkamp.com/

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