
Bild: Thirunavukkarasye-Raveendran auf wikimedia commons
Frauke Brosius-Gersdorf hat inzwischen eine Stellungnahme publiziert.
Siehe auch „Stellungnahme zur Causa ‚Frauke Brosius-Gersdorf‚“
Um was geht es beim Streit über die Neu- und Nachbesetzung dreier Sitze des Bundesverfassungsgerichts? Pardon: Um eine Neu- und Nachbesetzung, denn zwei Vorschläge sind für eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag offenkundig nicht strittig. Aber da die drei Vorschläge in einem „Paket“ stecken, wird vorläufig niemand gewählt. Begonnen hat – über eine durchaus angesehene Wissenschaftlerin initiiert – eine Menschenwürde-Debatte.
Eine Zwei-Drittel- Mehrheit braucht es, um eine Wahl zum Bundesverfassungsgericht zu bewältigen. Potenzielle Richterinnen und Richter müssen demnach einen breiten Konsens im Richterwahlausschuss, in Bundestag und Bundesrat bezogen auf Fähigkeiten und Persönlichkeit erreichen, der über die absolute Mehrheit hinausgeht. Denn das Verfassungsgericht ist, pathetisch geschrieben, die letzte und damit verbindliche Instanz der Auslegung unseres Grundgesetzes. Klammer auf: Eine Bindungswirkung der Verfassungsorgane Parlament und Regierung haben Entscheidungen von Karlsruhe nur eingeschränkt. Klammer zu.
Eine Folge liegt auf der Hand: Wer eine Kandidatin oder einen Kandidaten durchsetzen will, sollte darauf verzichten, als stark polarisierend begriffene (oder empfundene) Persönlichkeiten vorzuschlagen. Wer es trotzdem tut, muss damit rechnen, dass er scheitert. In diesem Zusammenhang von Beschädigung des Verfassungsgerichts zu reden, ist Unsinn. Die Suche nach einem Konsens ist normal, sie funktioniert in der Regel. Im vorliegenden „Fall“ funktionierte sie nicht. Grünen- Fraktionsvorsitzende Britta Hasselmann sprach laut TAZ über ein „absolutes Desaster für das Parlament“. Da wollte die Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke, Heidi Reichinnek nicht fehlen: „Absolutes Armutszeugnis“. Ich wundere mich jedenfalls, was heute alles absolut sein soll.
„Grundrechtlicher Güterkonflikt“
Der Kern: Es geht um die Auffassungen der vorgeschlagenen Staats- und Verfassungsrechtlerin Professor Frauke Brosius-Gersdorf. Der Sachverhalt: Nach der schon traditionellen Auffassung des Bundesverfassungsgerichts setzt die Menschenwürde mit Beginn des Lebens, der Zeugung ein. Lebensrecht und Lebensschutz folgen der Menschenwürde.
Die Professorin schreibt hingegen, ich zitiere aus dem 529 Seiten starken „Bericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ aus dem Jahr 2024, den sie mitträgt: „Ob dem Embryo/Fetus der Schutz der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) zugutekommt, ist fraglich. Es gibt gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt.“
Die Menschenwürde folge dem Lebensrecht. Das Lebensrecht gehe voraus. So die Professorin. Und auch das Lebensrecht wird anders definiert. Zitat: „Für die Auflösung des grundrechtlichen Güterkonflikts zwischen dem Lebensrecht des Ungeborenen und den Grundrechten der Schwangeren ist Folgendes maßgeblich: Dem Lebensrecht des Embryos/Fetus kommt geringeres Gewicht zu als dem Lebensrecht des Menschen nach Geburt.“
Die Professorin hat in diesem Punkt eingeschränkt Recht, weil das Leben eines Embryos nach geltendem Recht bis zur 12. Woche beendet werden kann. So wird bis heute der von ihr beschriebene „grundrechtliche Güterkonflikt“ beendet. Anders ist in der traditionellen Betrachtung des Verfassungsgerichts der Konflikt zwischen der Würde der Frau und des Embryos nicht zu lösen.
Sie geht aber noch einen Schritt weiter. Zitat: „Bei einem Konzept des pränatal gestuften oder kontinuierlich anwachsenden Lebensschutzes nimmt die Schutzintensität des Lebensrechts mit fortschreitender embryonaler/fetaler Entwicklung zwischen Nidation und Geburt zu.“ Frau Brosius-Gersdorf relativiert damit auch den mit dem Lebensrecht verbundenen Lebensschutz. Der soll variabel sein. Die Fortschritte der Neonatologie machen es im Übrigen möglich, Kinder beziehungsweise Föten bereits ab der 25. Woche am Leben zu halten. Das war vor Jahren noch unmöglich.
Der Widerspruchs-Kern
Ich möchte hier nicht über ein Hinausschieben der Frist für eine Abtreibung über die 12. Woche hinaus spekulieren. Das wäre nicht angemessen. Einen Hinweis will ich nicht ersparen: Mitglieder des Deutschen Juristinnenbundes halten eine legale Abtreibung bis zur 25 Woche für möglich.
Nun gibt es im Grundgesetz ein einziges Wort, das nicht relativiert wird, das also in der Bedeutung in keiner Weise von einem anderen Wert in der Verfassung abhängt. Es birgt die normative Konsequenz aus den Jahrhundertverbrechen der Nazis. Das ist die Menschenwürde. Genau da, im Geltungsreich der Menschenwürde, hakt die Professorin ein.
Es ist kompliziert. Aber daraus folgt nicht, dass dies eine Debatte sei, die ausschließlich von Juristen geführt werden sollte. Es ist derzeit wenig von der Philosophie zu hören, auch zu wenig von Ärztinnen und Ärzten unterschiedlicher Fachrichtung. Ich ahne aber bereits das genervte Stöhnen ob dieser Feststellung. Geht das schon wieder los. Muss es immer Leute geben, die die Dinge komplizieren? Ist doch eigentlich genug geredet worden. Macht endlich Schluss und entscheidet. So sind wir wohl. Gleichwohl gilt: Es geht um die Fragen: Was macht einen Menschen aus, woher kommt Mensch und wohin entwickelt er sich (soll er sich entwickeln). Darüber wird seit Jahrhunderten gesprochen und debattiert. Das mag dem einen oder anderen unbequem sein.
Ich habe in diesem Kontext drei Ausgangspunkte. Da ist einmal Hans Jonas, ein von Hans-Jochen Vogel und vielen anderen geschätzter Philosoph. Er hat uns aufgegeben,
jede wissentliche Einwirkung auf unser Menschsein, auf unseren Kern, auf das, was uns unmittelbar betrifft, das als Person verändert könnte,
genauestens zu prüfen und die Folgen sehr genau zu bedenken. Geschieht das hier? Ich finde nicht.
Der zweite Punkt: Ich kann mir eine Äußerung des großartigen und verehrten Pädagoge Georg Feuser nicht aus dem Kopf schlagen. Die lautet: „Der Andere hat zu sein, wie wir denken, dass er ist.“ Hier ist für mich der Widerspruchs-Kern im Streit um Lebensrecht und Menschenwürde.
Mein dritter Einwand resultiert aus dem zweiten. Die Menschenwürde ab der Zeugung ist für alle schlechthin die „Sicherungsleine“, die sich selber nicht oder nicht mehr helfen können, weil ihr Menschsein etwas anders ist. Wir sind es denen schuldig, die mitzunehmen, die sich hier fürchten müssen oder müssten. Und es ist eine der übelsten Angewohnheiten im Lande, diese Menschen de Facto zur Seite zu schieben und deren Sprecherinnen wie Sprecher zu ignorieren.
Man glaubt das kaum

Kennen wir „den anderen“ denn tatsächlich? Es gab keinen Aufschrei im Land, als eine im Bundestag umfangreich vertretene Partei die Inklusion (also ein Menschenrecht) für obsolet erklärte; als gefordert wurde: Nur gesunde Kinder auf gesunde Schulen.
Geistig behinderte Menschen sind über Jahrzehnte einfach bei Seite geschoben worden, wenn allgemeine und geheime Wahlen anstanden. Erst 2019 wurde das explizit geändert, 60 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes. 2016 hat der Deutsche Bundestag – wenngleich mit Hürden versehen – beschlossen, dass nicht einsichts- und geschäftsfähige Menschen sehr wohl Gegenstand pharmazeutischer Forschung werden können.
Man glaubt das kaum, aber es ist so. Und nun hat – über eine durchaus angesehene Wissenschaftlerin initiiert – eine Menschenwürde-Debatte begonnen. Ich beschuldige niemanden hier. Ich mache auf Konsequenzen aufmerksam. Wir haben uns angewöhnt, fortwährend über „Optionen“ und „Herausforderungen“ zu sprechen; wir nennen vieles heute „total“ und „absolut“. Ich schätze, es ist an der Zeit, sich mehr über Pflichten Gedanken zu machen. Die Chefredakteurin der TAZ, Ulrike Winkelmann, schrieb dieser Tage, Moral gehöre in die Politik, und womöglich werde es Zeit, moralische Urteile wieder zu pflegen und etwas ernster zu nehmen. Stimmt. hundert pro – auch im beschriebenen Kontext.
Nein, Klaus Vater, es geht nicht um eine neue Debatte zur Menschenwürde und dem ungeborenen Leben: die hätte im vorigen Jahr bei der Vorstellung des Kommissionberichts stattfinden können. Aber sie fand kaum statt. Die Kampagne und Hetze gegen Frauke Brosius-Gersdorf hat längst ein unerträgliches Niveau erreicht: Da soll eine hochangesehene Wissenschaftlerin fertig gemacht werden, die mit außerordentlich liberalen Ideen und Meinungsäußerungen aneckt. Stets argumentiert sie mit den Grundrechten von der Menschenwürde bis zur (uneingelösten) Chancengleichheit. Sie zwingt unerschrocken immer wieder zum Nachdenken über die im Grundgesetz gesetzten Maßstäbe und ihre Verwirklichung in der politischen und gesellschaftlichen Realität. Halten wir eine solche Stimme im Bundesverfassungsgericht nicht mehr aus? Eine trostlose Vorstellung.
Liebe Jutta Roitsch, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie deutlich machen würden, was für Sie Hetze ist und was nicht. Ich halte es beispielsweise für bodenlos und politisch falsch, dass der Vorsitzende der Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag mit Blick auf Kritik an den Auffassungen der Rechtswissenschaftlerin Professor Frauke Brosius-Gersdorf pauschal von „ rechtem Mob“ spricht. Mob? Es gibt wahrscheinlich Leute, die sich nun fragen: Hat der schlechten Shit geraucht? Was ist eigentlich hier los? Ich versteh es nicht. Helfen Sie mir! Was ist „links“ an der Auffassung, die bisherige „Beschlusslage“ des Bundesverfassungsgerichts sei überholt? Was ist hier liberal oder illiberal? Ich halte überhaupt nichts von dieser, ich sag´s so: politischen „Gesäß-Geografie“. Überhaupt nichts.
Frau Brosius-Gersdorf vertritt exponierte Auffassungen zum Thema Menschenwürde und Grundrechte. Ich halte es für Chronistenpflicht, diese Auffassungen zu untersuchen und zu werten. Chronisten haben es dann schwer, wenn die Analyse bereits als – wie soll ich schreiben – unpassend (?) empfunden wird. Es gibt eine durchaus unappetitliche Beschäftigung mit Brosius-Gersdorf. Das ist aber nichts Neues. Als Ulla Schmidt 2003 anlässlich des Inkrafttretens einer Gesundheitsreform vorgeworfen wurde, sie töte Menschen, hat niemand von rechtem Mob geredet. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass jemand erklärt hätte: Das geht aber nicht. Als für die Dieselbe auf Demos, angezettelt von Ärztinnen du Ärzten, gefordert wurde: Nach Guantanamo, und Karl gleich mit, gabs nicht mal milde Kritik. Nach dem Motto: So what. Also bitte: Frau Brosius-Gersdorf muss sich keine Verunglimpfungen gefallen lassen; aber eine deutliche Kritik sollte sie ertragen können.
Ich habe mich an anderer Stelle bei „bruchstücke“ schon zur causa Brosius-Gersdorf geäußert. Politisch ist dazu nur zu unterstreichen, was Frau Roitsch über die Vorstellung des Komissionsberichts im letzten Jahr gesagt hat: Das hätte alles im Vorfeld nicht nur geklärt werden können, sondern auch müssen.
Hingegen würde ich ihr ja gerne widersprechen, was das Stichwort „Hetzkampagne“ angeht. Leider sehe ich selbst auf YouTube, wie rechtskatholische und evangelikale Gruppierungen mit Frau Brosius-Gersdorf umgehen und kann deshalb nicht wirklich widersprechen. Einfach nur widerlich.
Eines ärgert mich allerdings: Wenn selbst hochkarätige Medien behaupten, Frau Brosius-Gersdorf habe eine überaus liberale Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch und dies mit dem Satz begründen, den sie im Februar geäußert hat: Es sprächen gute Gründe dafür, die Menschenwürde erst ab der Geburt gelten zu lassen.
Diese Fixierung auf das Thema Abtreibung übersieht vollkommen, dass auch das derzeit geltende Recht, nachdem eine (prinzipiell strafbare) Abtreibung unter bestimmten Umständen straffrei bleibt, diese Straffreiheit nicht mit der nicht existenten Menschenwürde des Embryos/Feten begründet, sondern dafür andere Rechtsfiguren heranzieht. Ich bin keine Juristin, aber das habe ich begriffen.
Insofern greift dieser Satz von Frau Brosius-Gersdorf über die Abtreibungsfrage deutlich hinaus und lädt zu einer Debatte über Menschenwürde geradezu ein. Diese kann nie schaden. Da muss ich also Frau Roitsch widersprechen. Auch muss das auf eine dem wissenschaftlichen Niveau und der Gesamtheit ihrer Äußerungen der Kandidatin entsprechende Weise geschehen. Dass das hinsichtlich der politischen Implikationen dieser Angelegenheit hätte im Vorfeld passieren müssen, habe ich schon gesagt. Aber nun haben wir die verschüttete Milch und müssen jetzt damit umgehen.
Gerne möchte ich hier etwas aufgreifen, was der „Welt“-Journalist Robin Alexander gestern im Deutschlandfunk in der Sendung „Kontrovers“, bei der es um dieses Thema ging, gesagt hat. Wie für einen „Welt“-Journalisten sicher nicht überraschend, hat er sich nah bei den CDU-Abgeordneten gezeigt, die die Zustimmung verweigert haben. Aber am Ende bemerkte er als Schlusswort, es gebühre Frau Brosius-Gersdorf eine Entschuldigung wegen der unsäglichen Plagiatsvorwürfe. Dem schließe ich mich unbedingt an!
Lieber Klaus Vater, Sie schreiben: „Die Menschenwürde folge dem Lebensrecht. Das Lebensrecht gehe voraus. So die Professorin.“ Wo, an welcher Stelle, sagt die Professorin das?