
(Foto, 29. September 1938: Unbekannt auf wikimedia commons)
Seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine warnen Politiker, Experten, Journalisten und bekehrte Friedensaktivisten davor, Putin zu appeasen. Sie argumentieren, dass autoritäre Führer nicht mit netten Worten oder Zugeständnissen gestoppt werden können, sondern nur mit dem klaren Willen zum Widerstand. Gewalt müsse mit Gewalt beantwortet werden. Während Richtung Putin viel von Appeasement gesprochen wird, wo es keins gibt, ist kaum ein Wort von Beschwichtigungspolitik zu hören, wo sie, Richtung Trump, stattfindet.
Angesichts der massiven finanziellen, politischen und militärischen Unterstützung, die der Westen der Ukraine gewährt, könnte nichts weiter von der Realität entfernt sein, als westlichen Politikern Appeasement vorzuwerfen. Die entschlossene Unterstützung der Ukraine ist das Gegenteil des berüchtigten Münchner Abkommens von 1938, als Großbritannien und Frankreich die Tschechoslowakei Deutschland auslieferten, ohne dass die tschechoslowakische Regierung überhaupt anwesend war.
Bis zur Amtsübernahme von Trump hat der Westen die Ukraine bei der Verteidigung ihrer Unabhängigkeit energisch unterstützt. Die Entschlossenheit und das Ausmaß der militärischen Unterstützung wurden nicht durch den Wunsch nach Appeasement begrenzt, sondern durch die nuklearen Fähigkeiten Russlands. In letzter Zeit scheint sogar Trump bereit zu sein, der Ukraine mit Militärhilfe gegen Putin zur Seite zu stehen, solange dies gleichzeitig ein gutes Geschäft wird. Solidarität der USA mit der Ukraine wird nun davon abhängig gemacht, dass die Europäer bereit sind, dafür zu zahlen.
Es ist richtig, Putin entschlossen entgegen zu treten. Ohne entschlossenen Widerstand gegen den russischen Angriff, ist jede Hoffnung auf ein Friedensabkommen, das nicht einer Kapitulation gleichkommt, illusorisch. Doch selbst Präsident Selenskyj signalisiert, dass ein Sieg über Russland auf dem Schlachtfeld nicht möglich ist und dass bittere Zugeständnisse der Preis für eine freie Ukraine sein könnten. Die Suche nach einem Waffenstillstand bei gleichzeitiger Fortsetzung der militärischen Unterstützung ist daher kein Appeasement, sondern der Versuch, die Ukraine zu retten, die ansonsten auf dem Schlachtfeld verblutet.
Trump erpresst und schikaniert
Richtung Kreml über Appeasement reden, um es zu verhindern, Richtung Weißes Haus von Appeasement schweigen, um es zu praktizieren? Donald Trump erpresst und schikaniert Länder auf der ganzen Welt, darunter auch traditionelle Verbündete der USA. Er ist bereit, Putin entgegenzukommen, bekundet seine Sympathie für alle möglichen Diktatoren, bombardiert den Iran, bedroht die nationale Souveränität Grönlands, Kanadas und Panamas, verstößt gegen die amerikanische Verfassung, missachtet internationale Gesetze und Regeln und missbraucht die Staatsmacht, um seine innenpolitischen Gegner zu verfolgen. Er ist ein Machtpolitiker, der offensichtlich nur die Sprache der Stärke versteht.
Aber anstatt seine politischen Erpressungsversuche zurück zu weisen, überschlagen sich Regierungen, Unternehmen, Medien und Milliardäre, um Trump zu beschwichtigen. Da fast alle nachgeben und sich unterwerfen, ist er ermutigt immer neue Forderungen und Drohungen auszusprechen, die Amerika wieder groß machen sollen. Mark Rutte, Generalsekretär der NATO, nennt Trump nicht nur „Daddy“, sondern lacht auch fröhlich, als Trump sagt, er wolle Grönland, und dankt Donald Trump dafür, dass er die NATO-Mitgliedstaaten erpresst hat, ihre Militärausgaben auf 5 Prozent des BIP zu erhöhen. Präsidenten und Premierminister proben vor ihren Treffen im Weißen Haus, wie sie Trump am besten gefallen oder zumindest vermeiden können, wie Selenskyj oder Ramaphosa misshandelt zu werden.

Der deutsche Bundeskanzler fleht: „Bitte bleiben Sie bei uns”. Keir Starmer kniet nieder, um die Papiere aufzuheben, die der Herrscher vor laufenden Fernsehkameras fallen ließ. Obwohl dies offensichtlich eine angemessene Geste der Höflichkeit war, war es dennoch ein bezeichnendes Bild. Fast alle Länder – außer China – versuchen, Trump zu beschwichtigen, und hoffen, dass er jemand anderen demütigt und bestraft. Die freie Welt schweigt, wenn Trump Brasilien mit 50 Prozent Zöllen droht, sollte es die Klage gegen Bolsonaro nicht fallen lassen, der nach seiner Wahlniederlage einen Staatsstreich in Erwägung gezogen/geplant hatte. Kanada wird allein gelassen, während es mit Strafzöllen überzogen und bedroht wird, als 51. Bundesstaat der USA annektiert zu werden.
Die Verzweiflung ist verständlich
Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben besonders schwerwiegende Gründe für ihre Appeasementpolitik. Sie sind überzeugt, dass sie Putin nur Einhalt gebieten können, wenn sie gleichzeitig Trump appeasen.
Zölle und Druck auf Verbündete, ihre Militärausgaben zu erhöhen, sind zwei Möglichkeiten für Trump, andere für die Größe Amerikas bezahlen zu lassen. Im neuen geopolitischen Wettstreit um die Welt will Trump Freunden und Feinden gleichermaßen höhere Kosten auferlegen, um die globale amerikanische Führungsrolle zu erhalten und zu stärken. In ihrem Eifer, Trump zu gefallen, scheinen die europäischen Staats- und Regierungschefs zu ignorieren, dass sie durch den Verzicht auf jegliche Selbstachtung auch den Respekt als unabhängige Akteure in den Augen der Welt und, was noch wichtiger ist, in den Augen ihrer eigenen Bevölkerung verlieren. Ihre offensichtliche Schwäche wird den Wunsch der europäischen Wähler nach autoritären Führern nähren, die versprechen, als kleine Trumps zu agieren, anstatt Trump zu beschwichtigen.
Die Verzweiflung der europäischen Staats- und Regierungschefs ist verständlich, da sie „keine Karten in der Hand haben“. Sie haben auf die transatlantische Partnerschaft vertraut. Sie haben akzeptiert, dass ihr Militär Teil der von den USA kontrollierten NATO ist. Jetzt sind sie unfähig, eigenständig zu handeln. Die USA haben ein Militärbündnis geschaffen, in dem nur sie allein das Sagen haben. Es war kein Altruismus seitens der USA, mehr Geld für Verteidigung auszugeben als andere NATO-Mitgliedstaaten, sondern der Preis für ein Sicherheitsarrangement, das die Verbreitung von Atomwaffen ausschließt und die Pax Americana festigt.
Angesichts der doppelten Abhängigkeit, ihre Wirtschaft durch Verkäufe an die USA am Laufen zu halten und Russland durch die militärische Macht der USA in Schach zu halten, befinden sich die Europäer in der unangenehmen Lage, dass Trump ihnen den militärischen Schutz entziehen könnte, wenn sie auf seine Zölle mit Handelsmaßnahmen reagieren. Kurzfristig hat Trump alle Trümpfe in der Hand.
Der alte Kontinent muss sich zwischen Appeasement und weiterem Verlust nationaler Souveränität oder einer mutigen Strategie hin zu einem wirklich unabhängigen globalen Akteur entscheiden. Letzteres erfordert entschlossene Führung und die Bereitschaft, nationale Interessen zugunsten der europäischen Souveränität zu opfern, und birgt das Risiko, Trump zu verärgern. Ersteres wird automatisch eintreten, wenn Europa in Zukunft so handelt wie in der Vergangenheit.
Merz macht wenig Hoffnung
Der Aufbau eines unabhängigen, vereinten Europas ist weitaus ehrgeiziger als ein Bündnis, das von einer einzigen Supermacht dominiert wird. Kein europäisches Land ist mächtig genug, um die unangefochtene Vormachtstellung in Europa einzunehmen. Weder Deutschland noch Frankreich, noch beide zusammen sind stark genug, um für alle Mitgliedsstaaten die Richtung vorzugeben. Daher müssen auch die Starken bereit sein, ihre nationale Souveränität qualifizierten europäischen Mehrheitsentscheidungen unterzuordnen. Entscheidungsbefugnisse und weitaus größere Haushaltsmittel müssen auf die EU-Ebene übertragen werden. Um endlose Konflikte mit notorischen Verweigerern zu vermeiden, muss es einen einfachen Mechanismus für deren Austritt aus der EU bzw. ein handhabbares Verfahren zur Beendigung ihrer Mitgliedschaft geben.
Anstatt einzelne politische Fragen zu diskutieren und hier Kompromisse zu suchen, ist die entscheidende Frage für Europa, ob Länder wie Frankreich oder Deutschland bereit sind, die Führung zu übernehmen und einer echten Machtteilung innerhalb einer Gemeinschaft kleiner und mittlerer Staaten zuzustimmen.
Die Politik des neuen deutschen Bundeskanzlers gibt da wenig Anlass zur Hoffnung. Er lehnt gemeinsame europäische Anleihen weiterhin ab und führt nationale Grenzkontrollen ein. Er fordert, dass Europa das Lieferkettensorgfaltsgesetz abschafft, das nach jahrelangen Konsultationen und Kompromissen der europäischen Institutionen verabschiedet wurde, weil es Deutschland nicht mehr gefällt. In einer Zeit, in der Europa dringend Einheit braucht, legt Merz sein Veto gegen EU-Maßnahmen ein, die das menschenverachtende Vorgehen Israels gegen die Palästinenser in Gaza stoppen sollen.. Wie will er ein geeintes Europa zur Unterstützung der Ukraine aufrechterhalten und führen, wenn er auf dem deutschen Sonderweg in Gaza beharrt? Anstatt eine Vision für die militärische Stärke Europas zu entwerfen, kündigt er in Litauen an, dass Deutschland die stärkste konventionelle Armee des Kontinents aufbauen will. Ist ihm nicht bewusst, dass dies bei Deutschlands Nachbarn unangenehme Erinnerungen wecken könnte?
Es ist darüber hinaus eine viel zu enge Sichtweise zu glauben, dass europäische Stärke allein durch Militärausgaben erreicht werden kann. Sicherlich sind eine koordinierte europäische Rüstungsindustrie und eine nüchterne Analyse der Ausgaben für notwendige Waffen, anstatt für solche, die der militärisch-industrielle Komplex verkaufen will, durchaus sinnvoll. Aber Europa hat nur dann eine Chance, wenn die Aufrüstung mit einer größeren Solidarität innerhalb Europas und dem Mut zu einem diplomatischen Multilateralismus einhergeht, der neue globale Allianzen schmiedet, um diejenigen zu isolieren, die den Rest der Welt ihrem Willen unterwerfen wollen.
Es kann keinen europäischen Nationalismus geben
Anstatt Trump zu beschwichtigen, muss Europa schnell Handelsabkommen wie das mit den Mercosur-Staaten abschließen, die Binnennachfrage stärken, um die Exportabhängigkeit zu verringern, seine Universitäten zu echten Weltcampus machen, in eine integrative Migrationspolitik investieren und den Globalen Süden als echten Partner einladen, um globale Regeln und Gesetze fairer zu gestalten. Ein sinnvolles Sorgfaltspflichtgesetz, die Umsetzung der europäischen Richtlinie über Mindestlöhne und Tarifverhandlungen sind kleine, aber wichtige Bausteine auf diesem Weg.
Während autoritäre Machthaber dazu neigen, Nationalismus zu mobilisieren, um ihre aggressive und autoritäre Politik zu stützen, steht Europa diese Option nicht zur Verfügung. Es gibt keinen europäischen Nationalismus. Die Mobilisierung nationalistischer Gefühle würde Europa spalten, statt es zu einen. Europa kann kein vergrößerter Nationalstaat sein. Es ist heute trotz seiner Mängel das am weitesten entwickelte Modell eines handlungsfähigen Multilateralismus. Dies ist die Vision, der es gerecht werden muss, und das Modell, das es der Welt bieten kann.
Europa muss ein Ort der Toleranz, der Debatte und der sozialen Inklusion sein, wo gemeinsame Regeln des staatlichen Miteinanders entwickelt und eingehalten werden. Es muss eine Vorreiterrolle bei der ökologischen Transformation und der Regulierung von Big Tech-Unternehmen und KI übernehmen. Europa wird entweder als Alternative zur Herrschaft der Stärke bestehen, indem es bereit ist, sich gegen Autokraten und Möchtegern-Autokraten auf beiden Seiten des Atlantiks zu behaupten, oder es wird scheitern. Die Fähigkeit Europas, eine Alternative zum Appeasement von Trump zu entwickeln, hängt von visionären europäischen Führern und letztlich von der europäischen Bevölkerung ab. Sie muss davon überzeugt sein, dass Europa nicht nur seine Verteidigungsausgaben erhöht, sondern eine multiethnische, faire, integrative, demokratische und supranationale Gemeinschaft von Gleichen sein will.