
2023 fanden in Deutschland die “Invictus Games” statt. Das Sportereignis, gesponsert vom Flugzeugbauer Boeing, verfolgte auch ein durchaus honoriges Ziel: Mit Hilfe der ausgetragenen Wettbewerbe sollte sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Leid von Kriegsversehrten richten. Darüber berichtete auch das Aktuelle Sportstudio im Zweiten Deutschen Fernsehen. Eingeladen waren der gediente Verteidigungsminister Boris Pistorius sowie der britische Prinz Harry, der einst im Irak seinen Militärdienst absolvierte. Zwei weitere Ex-Soldaten traten auf: Der eine hatte bei seinem Einsatz in Afghanistan beide Beine verloren, der andere berichtete über seine andauernde posttraumatische Belastungsstörung.
Die Ursache für die schweren Beeinträchtigungen der versehrten Gäste, der Krieg nämlich, wurde in der Sendung kein einziges Mal direkt benannt. Erst nach 45 Minuten richtete die Moderatorin eine heikle Frage an den Minister: Ob er den Unmut verstehen könne, der in dem vordergründig rein sportlichen, aber nicht ohne Grund von der Waffenindustrie geförderten Event eine Verherrlichung des Militärischen sehe? Pistorius beschwichtigte, es gehe doch lediglich darum, Solidarität und Respekt “für die Einsatzkräfte” zu zeigen.
Man kann es auch anders sehen: Ein öffentlich-rechtlicher Sender bereitete die Werbebühne für wehrhafte Kriegstüchtigkeit. Das ist nur ein Beispiel für die schleichende Militarisierung des alltäglichen Lebens, die sich seit dem Krieg in der Ukraine verstärkt. Der meinungsführende Journalismus ist sich seit dem russischen Angriff weitgehend einig. Er lässt kaum Zweifel gelten an dem ständig verbreiteten Szenario, dem zufolge das personalisierte Feindbild Wladimir Putin spätestens Ende des Jahrzehnts NATO-Staaten überfallen wolle. Die drastische Steigerung des deutschen Rüstungsetats wird medial kaum in Frage gestellt. Ebenso wenig umstritten ist die damit verbundene Perspektive, nicht nur die Armee, sondern auch eine angeblich vom “Unterwerfungspazifismus” infizierte kriegsmüde Bevölkerung müsse “kriegstüchtig” sein.
Werbung in Tarnfarbe
Die gesellschaftliche Veränderung in Richtung Militarisierung beginnt schon bei der Sprache, wenn von Helden, Ehre und Tapferkeit auf der eigenen, jedoch von Soldateska, Söldnern oder Schergen auf der Gegenseite die Rede ist. Busse oder Straßenbahnen färben sich olivgrün, werben großflächig in Tarnfarbe für den Arbeitsplatz Bundeswehr. Mit dem plumpen Spruch “Übernimm die Regie” präsentiert sich die Truppe auf Popcorntüten im Kino. Norddeutsche Schulkassen besuchen Marinestützpunkte, auf Berufsorientierungsmessen und in Sporthallen ist die Armee mit Waffenschauen im Einsatz. Die dort ausgestellten Panzer oder Hubschrauber dienen als Rekrutierungs-Köder für Jugendliche. In die Schulklassen drängen rhetorisch trainierte Offiziere, um ihre Sichtweise einer “veränderten Sicherheitslage” im Politik- oder Ethik-Unterricht unhinterfragt zu verbreiten. Beiträge von Kriegsdienstverweigerern oder gar Kriegsversehrten als Gegenstimmen sind eine Seltenheit.
Im Freistaat Bayern sind die Lehrkräfte seit dem letzten Sommer sogar gesetzlich verpflichtet, die einseitigen Werbeauftritte in Uniform zu tolerieren – in anderen Bundesländern beruht dies bisher noch auf freiwilligen Regelungen. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat zusammen mit Organisationen wie der Deutschen Friedensgesellschaft und Pax Christi eine Popularklage gegen das Gesetz eingereicht, unterstützt wird sie von zahlreichen Prominenten wie dem Liedermacher Konstantin Wecker.
Wehrkunde nach lettischem Vorbild
“Wir sind die Partei der Bundeswehr”, hatte Ministerpräsident Markus Söder bereits im Januar 2024 vor der CSU-Vorstandsklausur im Kloster Banz verkündet. Die Partei will die nur ausgesetzte Wehrpflicht schnellstmöglich wieder einführen, und für die Schulen kursieren noch viel drastischere Ideen – angeregt vom Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV). Vorbild ist dabei Lettland, das sich durch die geografische Nähe zu Russland besonders bedroht fühlt – und daher das eigenständige Fach “Verteidigungsunterricht” eingeführt hat. Im Baltikum beginnt die militärische Grundausbildung schon im Klassenzimmer: Ein reichlich unkritischer Bericht der ARD-Tagesschau zeigt Schülerinnen in einer Kleinstadt bei Riga, die auf Turnmatten knien und das Anlegen mit dem Gewehr trainieren – vorerst immerhin ohne Patronen. Obligatorisch sind für die 10. und 11. Jahrgangsstufe neben den Schießübungen auch Geländeausflüge, in denen sich die Jugendlichen ohne GPS und Handy nur mit einem Kompass bewaffnet orientieren sollen.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft lehnt solche Pläne vehement ab. “Ich kann nicht nachvollziehen, warum ausgerechnet die Vertretung eines Lehrkräfteverbandes solche Gedankenspiele in die Öffentlichkeit trägt”, kritisiert der stellvertretende bayerische Landesvorsitzende Florian Kohl die Initiative des BLLV, der Mitglied im Deutschen Beamtenbund ist. Das lettische Beispiel macht drastisch deutlich, was auch hierzulande noch kommen könnte. Schon jetzt gibt es wie im Kalten Krieg wieder regelmäßig und nicht nur auf den Schulhöfen Sirenenalarm. Zivil- und Katastrophenschutz werden ausgebaut. Notstandsszenarien der Bundeswehr raten den Haushalten dazu, für den kriegerischen “Ernstfall” Lebensmittel vorzuhalten, die mindestens ein paar Wochen lang private Autarkie garantieren. Wer Immobilien besitzt, soll darüber nachdenken, einen privaten Bunker im Keller einzurichten. Der “Operationsplan Deutschland” der Bundeswehr entwirft Korridore für umfangreiche Truppentransporte der westlichen NATO-Verbündeten auf ihrem Weg zu einer imaginären “Ostflanke”. Logistisch eingebunden sind Flughäfen, Schienen, Wasserwege und Autobahnen; unterstützen sollen “Blaulichtorganisationen” wie das Technische Hilfswerk, das Rote Kreuz sowie Polizei und Feuerwehr. Für die Verpflegung der durchreisenden Frontkämpfer, so die Militärstrategen, habe die einheimische Bevölkerung zu sorgen.
Waghalsige Interpretation von „Resilienz“
“Wir müssen kriegstüchtig sein. Wir müssen wehrhaft sein. Und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen”, so lautet der genaue Wortlaut des vielzitierten Appells von Boris Pistorius. Dass ein Sozialdemokrat sich unbeeindruckt von den schrecklichen Erfahrungen in Faschismus und zwei Weltkriegen einer Sprache bedient, die eher an Aussagen des AfD-Hardliners Björn Höcke erinnert, wäre in früheren Zeiten undenkbar gewesen. Im Kern wiederholte Pistorius eine Formulierung, die zuerst Carsten Breuer, der Generalinspekteur der Bundeswehr, verwendet hatte. Neben der militärischen Aufrüstung sieht der oberste deutsche Soldat zwei weitere Pfeiler der “Kriegstüchtigkeit”, es brauche einen “gesellschaftlichen Mentalitätswandel” und “personelle Einsatzbereitschaft”. Notwendig sei mehr “Resilienz”, ein Schlagwort, das bereits in dem von Breuer verantworteten Weißbuch der Streitkräfte im Jahr 2016 auftaucht. Gemeint ist hier die mentale wie physische “Bereitschaft und Fähigkeit einer Gesellschaft, einen Konflikt mit den Einschränkungen und Verlusten mitzutragen”. Es handelt sich um eine äußerst waghalsige Interpretation des modischen Psychobegriffs.
Das dahinter liegende Selbstverständnis deckt sich mit zahlreichen Verlautbarungen aus Wissenschaft und Politik. Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck (CDU) beklagte schon 2014 auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine “Entfeindung”, die fälschlicherweise auf vertrauensbildende Maßnahmen angelegt sei; für angebrachter hielt er Misstrauen und Argwohn. Der Historiker Heinrich August Winkler betonte in seiner Rede zum 70. Jahrestag des Kriegsendes 2015 im Bundestag, aus den Verbrechen des Nationalsozialismus lasse sich kein “deutsches Recht auf Wegsehen ableiten”. Gerade wegen der unrühmlichen Vergangenheit gebe es eine moralische Verpflichtung, sich weltweit an Waffengängen für vorgeblich ehrenhafte Ziele zu beteiligen. Genauso legitimierte der grüne Ex-Außenminister Joschka Fischer einst die Bombardierung der serbischen Hauptstadt Belgrad durch NATO-Flugzeuge, ohne Mandat der Vereinten Nationen.
Bei dem Bemühen, den pazifistischen Einstellungen vieler Deutscher ein Ende zu setzen und sie auf künftige militärische Konflikte vorzubereiten, schreckt die Kriegspropaganda nicht einmal vor der Manipulation der Jüngsten zurück. Für seinen Kinderkanal auf Youtube produzierte das ZDF 2024 ein animiertes Video, in dem verschiedene Waffensysteme spielerisch gegeneinander antreten, nach dem Motto: Welcher Marschflugkörper ist der tollste? Der arme Taurus wird bemitleidet, weil der (damalige) Kanzler Olaf Scholz ihn nicht fliegen lässt: eine besonders perfide, nicht nur didaktisch fragwürdige Form der Beeinflussung Minderjähriger, des Kanonenfutters der Zukunft.