
Am 1. September wird in Deutschland alljährlich der Antikriegstag begangen. Anlass ist Hitler-Deutschlands Überfall auf Polen als Beginn des 2. Weltkriegs. In Demonstrationen wurde in diesem Jahr Israel angeklagt und Russland „vergessen“, in vermeintlicher Gleichheit der Stopp von Waffenlieferungen an Israel und die Ukraine gefordert. Dominierend waren Parolen wie „Nie wieder Faschismus“ und „Nie wieder Krieg“, zu Recht. Denn Krieg ist allgegenwärtig, der Faschismus hebt in Europa und den USA an allen Ecken und Enden sein Haupt.. Kaum im Bewusstsein der Öffentlichkeit ist der 21. September als Welttag des Friedens, von der UNO-Generalversammlung 1983 ausgerufen und seit 2001 auf den 21. September festgesetzt. In diesem Jahr steht er unter dem Motto „act now for a peaceful world“.
1 „Act now for a peaceful world“ – eine treffende Aufforderung in einer Welt, die kriegsbestimmt ist wie selten zuvor seit dem Ende des zweiten Weltkriegs. Das Gefühl meiner Generation, nie so weit von Frieden entfernt zu sein wie heute, trügt nicht. Die Zahlen zeigen die größte Häufigkeit von Kriegen nach 1945. Der Global Peace Index nennt 56 Konflikte, die „Genfer Plattform für bewaffnete Konflikte“ (RULAC) spricht von mehr als 110 bewaffneten Konflikten weltweit. Die unmittelbaren Folgen fordern jährlich zwei- bis dreihunderttausend Tote, über 120 Millionen Menschen sind aktuell durch Krieg, Gewalt und Verfolgung zwangsvertrieben, mehr als ein Viertel der Menschheit lebt in Ländern, die unmittelbar von Krieg betroffen sind.
Friede entsteht nicht einfach durch Abwesenheit von Krieg. Dauerhafter Frieden setzt gemeinsam akzeptiertes Rechte und Regeln voraus, auf die man sich verständigt. Der UNO-Friedenstag ist ein guter Anlass daran zu erinnern, dass es diese Regeln gibt, sie aber zurzeit nachhaltig zerstört zu werden drohen.
Schau- und Machtspiele statt Diplomatie
2 In manchen Konfliktsituationen sprechen wir davon, zwischen einem „Ende mit Schrecken“ und einem „Schrecken ohne Ende“ wählen zu können. Zwei Kriege und ihr wahrscheinlicher Ausgang strafen das Lügen. Denn beim Krieg Russlands gegen die Ukraine und dem Krieg Israels gegen die Hamas und die Palästinenser droht beides: Endloser Schrecken ist Gegenwart. Das Ende droht neuen Schrecken zu gebären, wenn es nicht gelingt, die Rechte und Regeln, die wir haben, zur Geltung zu bringen. Davon sind wir weit entfernt. Wladimir Putin und Benjamin Netanjahu sind diese Regeln mittlerweile völlig egal. Sie werden dabei tatkräftig unterstützt von dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Man muss all seine zerstörenden Untaten nicht aufzählen. Er untergräbt im eigenen Land gezielt Freiheitsrechte und Gewaltenteilung, die Grundlagen der Demokratie. Er ist dabei, die fragilen Regeln der Weltordnung und supranationale Institutionen endgültig aus den Angeln heben. In Übereinstimmung mit Putin, Netanjahu und etlichen anderen, soll damit eine Weltordnung durchgesetzt werden, in der Macht vor Recht geht, Gewalt und Gewinn endgültig die Oberhand gewinnen.
Treffen Trump und Putin aufeinander, geht es nicht um ernsthafte Diplomatie, sondern um Schau- und Machtspiele. Verhandlungen werden zum schlechten Geschacher um Grundstücke ohne Rücksicht auf Millionen Menschen. Vergoldetes Interieur und prächtige Paläste krönen diese ebenso brutale wie eigensüchtige Macht, ein Rückfall in feudale Strukturen, die im globalen Maßstab als überwunden galten. Trumps und Putins Kumpanei gemeinsam bei der Rohstoffexploration auf (ehemals) ukrainischem Gebiet oder nebeneinander in komfortablen Lounge Chairs an Gaza-Beach – das ist leider nicht nur böse Dystopie. „Der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich beschreibt den Gazastreifen als potenzielle ‘Immobilien-Goldgrube’. ‘Es gibt einen Geschäftsplan, der von den professionellsten Leuten ausgearbeitet wurde, der auf dem Tisch von (US-Präsident Donald) Trump liegt’, sagte Smotrich bei einer Immobilienkonferenz in Tel Aviv“, meldet ntv.

3 Die Kriege Putins und Netanjahus sind, das mag provokativ klingen, sehr ähnlich geworden. Natürlich bleibt der Unterschied der Ursachen fundamental: Der Krieg Israels wurde durch den Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober ausgelöst. Dem Angriff Russlands ging keinerlei Bedrohung und Provokation voraus. Das erklärte Ziel der Hamas ist die Vernichtung Israels und die Vertreibung der Juden. Es ist überflüssig, aber heute notwendig zu erwähnen, dass keinerlei Zerstörungsabsicht gegen Russland besteht, bestenfalls ein von Russland selbst formuliertes Bedrohungsgefühl.
Die strukturellen Gemeinsamkeiten beider Kriege sind nicht zu übersehen: Israel bringt Zerstörung und Tod über die palästinensischen Wohngebiete und die Menschen, die dort leben, mit dem Ziel, die Terrororganisation Hamas zu vernichten. Russland überschüttet die Ukraine in allen Landesteilen mit Bomben und Drohnen mit dem Ziel, die „faschistische und nationalsozialistische Clique“ in der Ukraine auszuschalten. Beides ist offenkundig nur möglich, wenn das ganze Gebiet, in dem einen Fall der Gazastreifen und das West-Jordanland, in dem anderen Fall die Ukraine, in den Herrschaftsbereich Israels beziehungsweise Russlands eingegliedert werden, die Ukraine als autonom handelndes Staatsgebiet aufhört zu existieren, ein Staat der Palästinenser nie zustande kommt.
Ähnlich auch: Verhandlungen, wird immer zugestimmt. Sie sind aber immer nur Auftakt zu neuer Eskalation des Vernichtungs- oder Zerstörungskriegs. Das hindert Trump nicht daran, sich als Friedensstifter zu präsentieren. Aber sein Handeln verlängert das Töten, das er zu beenden vorgibt. Die Haltung Trumps konterkariert in beiden Fällen die Bemühungen des „Westens“, also des transatlantischen Bündnisses, sofern man noch davon sprechen kann, sowohl gegenüber Russland als auch gegenüber Israel gezielt wirksame Maßnahmen durchzusetzen, die zum Ende des Tötens, zu Waffenstillständen und dem Start ernsthafter diplomatischer Verhandlungen führen könnten.
4 Es gibt zunehmend geopolitische Realisten, weit verteilt im politischen Spektrum, die der Auffassung sind, man müsse sich mit den neuen Gegebenheiten abfinden; insbesondere den Staaten im Besitz von Atomwaffen wie den USA, Russland oder China sei aufgrund der von ihnen selbst definierten Sicherheitsinteressen die Beherrschung von Schutzräumen oder Pufferzonen zuzugestehen, die über das eigene Staatsgebiet hinausgehen. Und warum dann nicht auch Israel? Putin bezeichnete schon 2005 den Zerfall der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, und ist seitdem bestrebt, diese Katastrophe wieder rückgängig zu machen, Russland zu erweitern oder die alte Pufferzone wieder herzustellen. Die Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland schafft den Schutzraum für Israel. Auf vergleichbarer Grundlage beansprucht die USA Kanada und Grönland. China kann seinen Anspruch auf die Einverleibung Taiwans zusätzlich legitimieren und seine Vorherrschaft zum Beispiel über Indochina und andere Teile in Südostasien ausweiten. Weitere Staaten, die über atomare Waffen verfügen, werden über kurz oder lang folgen.
Ein bleibender Makel
5 Sollen wir uns damit abfinden, dass die nach dem 2. Weltkrieg geschaffenen Grundlagen für eine friedliche Konfliktregelung zwischen den Staaten und für Menschenrechte innerhalb der Staaten auf unabsehbare Zeit völlig beiseitegeschoben werden? Dass Ordnungen nach den Vorstellungen Trumps oder denen des Zusammenspiels zwischen China, Russland, Nordkorea und dem Iran an deren Stelle treten? Sind nach 80 Jahren die Schrecken zweier Weltkriege so weit entfernt, dass wir nicht mehr dagegen protestieren, wenn Macht vor Recht und Gewalt vor Verständigung geht? Sicher, die Charta, das Gründungsdokument der Vereinten Nationen, ist 1945 von 51 Staaten vor allem aus Europa, Amerika und Asien und nur sehr wenigen aus Afrika unterzeichnet worden. Aber weitere 142 Staaten sind der UN bis heute unter dieser Charta beigetreten. Auch die Erklärung der Menschenrechte von 1948 wurde nur von 48 der damals 56 UN-Mitglieder angenommen (bei 8 Enthaltungen, unter anderem der Sowjetunion).
Die UN-Charta und die Menschenrechtserklärung sind bis in die jüngste Vergangenheit hinein immer wieder von allen jeweiligen Mitgliedsstaaten bekräftigt worden, so 1993 auf der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz mit der entscheidenden Aussage: „Alle Menschenrechte sind universell, unteilbar, voneinander abhängig und miteinander verknüpft“; oder auf dem UN-Weltgipfel 2005 und zuletzt auf der UN-Generalversammlung 2020 zum 75. Jubiläum der UNO. Dass die UN-Charta und die Menschenrechte von Staaten und in Staaten, die auf sie verpflichtet sind, immer wieder verletzt werden, macht sie nicht obsolet, sondern erst recht notwendig.
Es ist ein bleibender Makel, dass die Menschenrechtserklärung von 1948 nicht das sofortige Ende des Kolonialzeitalters gebracht, nicht das Ende der Apartheid und Rassendiskriminierung in den USA eingeleitet hat, sondern die Kolonialstaaten weltweit und die afroamerikanische Minderheit in den USA auf dieser Grundlage in bitteren und blutigen Kämpfen gegen die Regierungen der Unterzeichnerstaaten ihre Befreiung, ihre Anerkennung und Gleichstellung durchsetzen mussten. Gerade darin zeigt sich aber die positive Wirkung dieser Dokumente, die zwingende Notwendigkeit, an ihrer universalen Geltung festzuhalten.
6 Die koloniale Vergangenheit lastet auf Europa, genauso wie Sklaverei und Rassendiskriminierung auf den USA. Aber die Last der kolonialen Vergangenheit werden wir nicht los, wenn wir die Dokumente relativieren, die mit zu ihrem zumindest manifesten Ende beigetragen haben. Unabhängig von Kontinent und Region ist eine von allen Menschen eines Landes legitimierte Herrschaft besser als eine, die sich auf den Vorrang eines Geschlechts, einer Ethnie, eines Einkommens- und Vermögensstatus, einer Religion oder einer Partei stützt. Diskriminierung von Frauen bis hin zu Genitalverstümmelung, Zwangsheirat und Zwangssterilisierung werden durch kein kulturelles Umfeld human, genauso wenig wie die Diskriminierung von Homo- oder Transsexualität oder die Unterdrückung von Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Muss man es hinnehmen, die Menschenrechte auf „food, chlothes and shelter“ zu reduzieren, wie es China versucht, aber Glaubens- und Gewissensfreiheit, Presse- und Demonstrationsfreiheit als „westliche Werte“ abzutun?

7 In einer Zeit niederstürzender Ordnungen wäre Europa berufen, demütig, aber entschlossen, die Regeln der UN-Chara und die Menschenrechte zu verteidigen. In der Charta von Paris von 1990 war solche Gemeinsamkeit noch möglich. Sie ist leider kaum mit Leben gefüllt worden. Bei aller Selbstkritik darf Deutschland und sollen die Staaten Europas nicht abrücken von einer Politik, die auf die Regeln der UN-Charta und auf Menschenrechte ausgerichtet ist. Die zwiespältige Entstehungsgeschichte der UN-Charta und der Menschenrechtserklärung mindern ihren Wert nicht als Berufungsinstanz des universalen Weltgewissens und als Stachel im Fleisch gegenläufiger Realitäten. Was sagen wir denn den Staaten, die noch um Anerkennung kämpfen, etwa der Ukraine oder Palästina, was sagen wir den unterdrückten Minderheiten, den tausenden Menschenrechtsverteidigern weltweit von Amnesty und Human Rights Watch, von Ärzte ohne Grenzen und Terres des Hommes und hunderten anderen Organisationen, worauf sie sich in ihrem Engagement berufen sollen? Kein Primat von Kultur, Religion, Rasse oder Klasse kann die Universalität der Menschenrechte und der Regeln zur friedlichen Beilegung internationaler Konflikte relativieren, auch dann nicht, wenn sie in Geschichte und Gegenwart selbst von den Staaten, die sich auf diese Grundlagen verpflichtet haben, höchst unvollkommen umgesetzt werden.
8 Wenn Staaten Völkerrecht und Menschenrechte nur begrenzt einhalten oder gar mit Füßen treten, kann das in den meisten Fällen kein Grund sein, jeden Kontakt zu ihnen abzubrechen oder politische und wirtschaftliche Beziehungen zu ihnen automatisch zu beenden. Es soll aber genauso selbstverständlich sein, die Einhaltung von UN-Charta und Menschenrechten gegenüber diesen Staaten anzumahnen und zur Geltung zu bringen. Der UN-Friedenstag sollte darum nicht nur Gelegenheit bieten, Kriege und ihre Verursacher anzuklagen. Er sollte vor allem ein Tag der Ermunterung /Ermutigung sein, bei aller Brüchigkeit, die Geltung der UN-Charta und die Universalität von Menschenrechten und Völkerrecht zu vertreten, und die Hoffnung nicht aufzugeben auf ein Wiedererstarken gewaltfreier Konfliktregelung und auf einen Frieden, der mehr ist als die Abwesenheit von Krieg